Das Universum mit Sand füllen
Mit unserem Verständnis vom Wesen des Universums änderte sich auch unsere Vorstellung von dessen Größe. Zu Zeiten der alten Griechen wurden mehrere Versuche unternommen, das Universum zu vermessen, wobei jedoch lediglich Archimedes’ Vorstoß interessant ist, vor allem deshalb, weil dieser herausragende Mathematiker und Ingenieur nicht etwa nach Antworten auf die großen Fragen «nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest» suchte, sondern ein viel profaneres Ziel verfolgte, das auf den ersten Blick völlig trivial erscheint, wollte er doch herausfinden, wie viel Sandkörner vonnöten wären, um den gesamten Weltraum auszufüllen.
Wir wissen nur wenig über das Leben des Archimedes, er soll jedoch bei dem Angriff der Römer auf Syrakus getötet worden sein; und wenn er, wie dies die Legende besagt, zum damaligen Zeitpunkt etwa 75 Jahre alt war, läge sein Geburtsdatum um 287 v.Chr. Zu Lebzeiten hatte sich Archimedes aufgrund seiner herausragenden Leistungen als Ingenieur einen Namen gemacht. Für ihn selbst waren diese Meisterleistungen laut dem griechischen Schriftsteller Plutarch (der seine Schriften gut 350 Jahre später verfasste) nichts weiter als «geometrische Spielereien», was die Verteidiger von Syrakus wohl etwas anders gesehen haben dürften, sollen sie doch eine ganze Reihe der von Archimedes konstruierten mechanischen Apparate eingesetzt haben, um die Schiffe der Römer anzugreifen, ja sogar in Betracht gezogen (wenn auch nie in die Tat umgesetzt) haben, die Sonne zu einer tödlichen Waffe zu machen und mit Hilfe riesiger Spiegel deren Strahlen zu bündeln und auf weit entfernte Schiffe der Römer zu projizieren, um diese in Brand zu setzen.
Allerdings ist es weder Archimedes’ zweifellos vorhandenem Genie auf dem Gebiet der Mechanik noch seiner wissenschaftlichen Arbeit zu verdanken, dass sein Name im Zusammenhang mit der Größe des Universums auftaucht, sondern vielmehr dem von ihm verfassten Werk Psammites – Der Sandrechner –, einem der merkwürdigsten Bücher aller Zeiten. Der Sandrechner ist an Gelon, den König von Syrakus, gerichtet und beginnt mit einem Aufruf an den Regenten, sich neuen Ideen gegenüber nicht zu verschließen wie viele andere seiner Zeitgenossen:
Es gibt Leute, König Gelon, die der Meinung sind, die Zahl des Sandes sei unendlich groß, … aber ich will dir durch geometrische Beweise, denen du folgen kannst, zu zeigen suchen, dass unter den von mir benannten und in dem an Zeuxippus gesandten Werke angegebenen Zahlen einige nicht nur größer sind als die Zahl der Sandmasse, die der in der beschriebenen Weise vollgefüllten Erde an Größe gleich ist, sondern auch als die einer Masse, die an Größe dem Weltall gleich ist.
Mit der Anzahl der Sandkörner aufzuwarten, die der Größe des Universums entspricht, stellte durchaus keinen praxisorientierten Ansatz dar, doch darum ging es Archimedes auch gar nicht. Das Zahlensystem der alten Griechen war äußerst umständlich. Die größte existierende Zahl war eine Myriade – 10000 –, und Archimedes verfolgte in diesem Buch das Ziel, den Nachweis zu erbringen, dass es möglich ist, dieses Zahlensystem beliebig zu erweitern, sodass selbst derart riesige Zahlen darstellbar sind wie die Anzahl von Sandkörnern, die man benötigt, um das Universum auszufüllen.
Das «Universum», das er mit Sand auszufüllen gedachte, entsprach eher dem, was wir heute unter dem Sonnensystem verstehen – nichtsdestotrotz eine beträchtliche Größenordnung. Archimedes jedoch ging einen entscheidenden Schritt weiter. Er malte sich ein größeres Universum aus, wobei er sich auf eine zur damaligen Zeit kursierende Theorie stützte, nach der nicht etwa die Sonne um die Erde kreist, wie dies den Anschein hat, sondern die Erde um die Sonne. Entscheidend ist diese Überlegung deshalb, weil Archimedes’ beiläufige Erwähnung dieser von Aristarch stammenden Theorie bis heute der einzige belegbare Hinweis auf den Astronom ist, der als Erster erkannte, dass wir die Sonne umkreisen und nicht etwa umgekehrt. Weiter schreibt Archimedes:
Du, König Gelon, weißt, dass die meisten Astronomen jene Sphäre als «das Universum» bezeichnen, deren Zentrum das Zentrum der Erde ist und deren Radius der Strecke zwischen dem Zentrum der Sonne und dem Zentrum der Erde entspricht.
Dies ist die allgemeine Ansicht, wie Du sie von Astronomen vernommen hast. Aber Aristarch von Samos hat ein Buch verfasst, das aus verschiedenen Hypothesen besteht, aufgrund deren er zu dem Ergebnis kommt, dass das Universum um ein Vielfaches größer ist als das, was wir heute als «das Universum» bezeichnen. Aristarchs Hypothesen besagen, dass die Fixsterne und die Sonne unbeweglich sind und dass sich die Erde auf einer Kreislinie um die Sonne bewegt, wobei sich die Sonne in der Mitte dieser Umlaufbahn befindet …
Im weiteren Verlauf seines Buchs stellte Archimedes sowohl für die Größe des seinerzeit bekannten Universums als auch für Aristarchs altertümliche alternative Berechnungen an. Er postulierte verschiedene Annahmen wie etwa «Der Durchmesser der Erde ist größer als der Mond, und der Durchmesser der Sonne ist größer als die Erde» und kam daraufhin mit Hilfe praktischer Geometrie zu dem Schluss, dass das Universum einen Durchmesser von höchstens 10 Milliarden Stadien hat. Dies ist ein auf den Abmessungen eines Stadions beruhendes antikes Längenmaß – in ähnlicher Weise hantieren wir heute oftmals mit der Länge von Fußballfeldern – und beträgt 180 Meter, was für Archimedes’ Universum einen Durchmesser von 1800 Millionen Kilometern ergab. Dieser Wert ist nur unwesentlich größer als der Orbit des Saturn, und somit war es Archimedes in beeindruckender Manier gelungen, die Größe für das Universum zu bestimmen, das zu seiner Zeit als solches betrachtet wurde.