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Hunter und Garcia saßen danach lange in Garcias Wagen und schwiegen. Jemandem, der so verletzlich war wie Anita, die schreckliche Nachricht überbringen zu müssen, dass ihr Ehemann von einem Psychopathen verschleppt und praktisch in Lauge aufgelöst worden war und dass die kleine Lilia ihren Vater niemals wiedersehen würde, ging selbst den erfahrensten Detectives an die Nieren.
Zuerst hatte Anita sie einfach nur angestarrt, als hätte sie nichts von dem, was sie ihr gesagt hatten, begriffen. Dann begann sie zu lachen. Es war ein lautes, überschnappendes Lachen, als hätte ihr jemand einen rasend komischen Witz erzählt. Sie lachte, bis ihr Tränen über die Wangen strömten, und konnte gar nicht mehr aufhören. Dann sagte sie ihnen, sie müssten jetzt gehen, ihr Mann würde jeden Moment nach Hause kommen, und davor müsse sie noch einige Sachen erledigen. Sie wolle ihm sein Lieblingsessen kochen, und dann würde er sich hinsetzen und mit seiner kleinen Tochter spielen wie jeden Abend. Als Anita hinter ihnen die Tür schloss, zitterte sie am ganzen Leib, als hätte sie Fieber.
Hunter ging ohne ein weiteres Wort. In seiner Laufbahn hatte er schon die unterschiedlichsten Trauerreaktionen erlebt: eine Mutter, die felsenfest davon überzeugt war, ihr Sohn sei von Außerirdischen entführt worden, statt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, dass jemand ihm dreiunddreißig Messerstiche beigebracht hatte, nur weil er in einer unsicheren Gegend unterwegs gewesen war und die falschen Farben getragen hatte; einen Arzt, der gerade erst sein Physikum bestanden hatte und jegliche Erinnerung an seine junge Ehefrau verdrängte, um nicht an die Nacht denken zu müssen, in der vier Männer in ihr Haus eingedrungen waren, ihn gefesselt und gezwungen hatten, dabei zuzusehen, wie sie sich mit gnadenloser Brutalität an ihr vergingen. Wenn die Wirklichkeit zu sinnlos wird, um sie zu begreifen, erschafft der menschliche Geist mitunter seine eigene Realität.
Hunter würde sofort veranlassen, dass sich ein Mitarbeiter des psychologischen Dienstes der Ehefrau des Opfers annahm. Anita würde jede Hilfe brauchen.
Außerdem würde er in den nächsten Tagen jemanden aus dem Kriminallabor bei ihr vorbeischicken. Sie benötigten einen Wangenabstrich oder eine Haarprobe der Tochter. Hunter und Garcia waren sicher, dass es sich bei dem Opfer um Kevin Lee Parker handelte, aber die Dienstvorschrift verlangte eine eindeutige Identifizierung. Die Leiche war so stark entstellt, dass Anita sie niemals in der Gerichtsmedizin würde identifizieren können. Folglich waren sie auf eine DNA-Probe angewiesen.
»Scheiße!«, fluchte Garcia und ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken. »Schon wieder sind wir hinter einem Killer her, dem es scheißegal ist, wen er umbringt.«
Hunter sah seinen Partner an.
»Du hast das Haus des Opfers gesehen. Die sind nicht reich. Du hast seine Frau und seine Tochter kennengelernt – normale, einfache Leute. Okay, wir müssen warten, was das Rechercheteam über Kevin Lee Parker rausfindet, aber kommt dir bis jetzt irgendwas von dem, was wir über sein Leben wissen oder gesehen haben, auch nur im Geringsten auffällig vor?«
Hunter schwieg.
»Ich wäre überrascht, wenn er jemals auch nur ein Knöllchen bekommen hat. Er war ein ganz gewöhnlicher Familienvater, der sein Bestes getan hat. Der versucht hat, für seine Frau und sein Kind eine Zukunft aufzubauen, bevor sein schwaches Herz den Geist aufgibt.« Garcia schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Kevin Lee Parker wegen Geld oder Schulden oder Drogen oder Rache oder sonst irgendwas zum Mordopfer wurde. Ein sadistischer Irrer hat ihn völlig wahllos aufs Korn genommen. Es hätte jeden treffen können, Robert. Er war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen, Carlos, das weißt du.«
»Das sagt mir aber mein Bauchgefühl, Robert. Hier geht es nicht ums Opfer. Es geht um einen Killer, der sich an seiner eigenen Macht aufgeilt. Warum baut er so einen Folterapparat? Warum ruft er bei uns an und sendet den Mord live im Internet, damit wir zuschauen können wie bei einer gottverdammten Hinrichtungsshow? Du hast es selbst gesagt, der Plan, der dahintersteht, ist zu dreist, zu komplex – ein Telefonanruf, der quer durch Los Angeles springt – nicht durch die ganze Welt oder die USA, nur durch L. A. –, aber eine Internetübertragung, die allem Anschein nach aus Taiwan kommt?«
Hunter gab keine Antwort.
»Der Typ will töten. Punkt. Wen er tötet, spielt dabei überhaupt keine Rolle.«
Noch immer blieb Hunter stumm.
»Du hattest recht mit deiner Einschätzung«, fuhr Garcia fort. »Wenn wir diesen Verrückten nicht bald stoppen, wird Kevin Lee Parker nicht sein einziges Opfer bleiben. Er wird sich einfach jemand Neuen herauspicken, ihn in diesen Foltertank sperren, und der Alptraum geht von vorne los. Vielleicht hat Baxter recht. Vielleicht spielt dieser Irre ein Spiel mit uns. Zeigt uns, wie krank und einfallsreich er sein kann. Du bist Psychologe, was meinst du dazu? Ganz im Ernst, als er mit dir am Telefon gesprochen hat … ich habe noch nie jemanden gehört, der so kalt und emotionslos ist. Das Leben des Opfers war ihm einen Dreck wert.«
Genau wie Hunter war Garcia dieser Gleichmut im Tonfall des Anrufers aufgefallen. Da war kein Zorn, kein Rachedurst, keine Genugtuung, keine Freude gewesen, nichts. Der Anrufer hatte getötet, wie andere den Hahn aufdrehen und sich ein Glas Wasser eingießen. Hunter und Garcia wussten beide, dass dies die schlimmste Art von Killer war, mit der es ein Detective zu tun bekommen konnte. Ein Killer, dem scheinbar alles egal war. Für den Töten nichts weiter war als ein Spiel.