2

Magnus wollte sie am Brunnen auf dem Coppergate Platz treffen, wo die Männer am frühen Abend zusammenkamen und sich großspurige Geschichten erzählten, die heute ebensowenig Wahrheit enthielten wie vor hundert Jahren. Die Frauen holten Wasser aus dem Brunnen und setzten sich etwas abseits von den Männern, nähten Umhänge und Gewänder aus Wolltuch und hatten ein Auge auf die Kinder, die in der Nähe spielten. Es war eine Zeit der Muße nach einem arbeitsreichen Tag, Zeit zum Plaudern und Entspannen.

Magnus trat auf den breiten Platz, äugte wachsam zu den kleinen Männergruppen hinüber, gewohnheitsmäßig auf der Hut vor feindlichen Übergriffen. Dann sah er Zarabeth, die mit einem Holzkübel zum Brunnen ging, um Wasser zu holen. Sie war allein; das kleine Mädchen war nicht bei ihr.

Er ging auf sie zu, Entschlossenheit in jedem Schritt, blickte nicht links noch rechts und sprach sie an, während sie ihren Eimer in den Brunnen hinabließ: »Mein Name ist Magnus Haraldsson. Ich bin Gutsherr und Handelsmann. Ich lebe mit meiner Familie in der Nähe von Kaupang in Norwegen. Ich bin kein armer Mann, ich bin weder grausam noch hinterhältig, und ich möchte dich zur Frau nehmen.«

Zarabeth entglitt der Strick, an dem sie den Eimer hielt. Sie starrte in die Tiefe des Brunnens, bis sie das Klatschen auf dem Wasser hörte. Dann richtete sie sich auf und wandte sich dem Mann zu, der sie erschreckt hatte.

Ihr geradeaus gerichteter Blick traf seinen Hals, dann erst hob sie die Augen in sein Gesicht. Sie war gewohnt, Männern mitten ins Gesicht zu sehen. »Wie bitte? Du willst was?« Sie schüttelte den Kopf, ihr war zum Lachen zumute. »Ich muß deine Worte mißverstanden haben. Was hast du gesagt, Herr?«

Magnus wiederholte seine Worte geduldig, denn ihre

Stimme und ihr Lachen gefielen ihm. »Ich sagte, ich möchte dich zur Frau nehmen. Mein Name ist Magnus Haraldsson. Dein Name kommt mir schwer über die Zunge, aber ich werde ihn häufig aussprechen, dann fällt es mir bald nicht mehr schwer — Zarabeth.«

Die fremdländische Betonung ihres Namens klang hübsch, und sie lächelte, trotz seiner seltsamen Worte und seines dreisten Antrags, der wohl kaum ernstgemeint sein konnte. Freilich sah er auch nicht aus wie einer, der zu viel Met oder Bier getrunken hatte. Seine Worte erheiterten sie, ob ernstgemeint oder nicht. Er war ein gutaussehender Mann, rauh und aus grobem Holz geschnitzt, jung und hochgewachsen und kräftig gebaut. Wie die meisten seiner Landsleute hatte er blondes, volles Haar, seine Augen waren blau und klar wie der Sommerhimmel über York.

Sie neigte den Kopf seitlich, immer noch lächelnd. Er war unverfroren, dieser Wikinger. Sie spähte in den Brunnen hinunter. »Mein Eimer ist fort. Was mache ich jetzt nur?«

Magnus bestaunte das Leuchten ihrer grünen Augen. »Ich hole dir deinen Eimer wieder. Mein Name ist Magnus —«

»Ich weiß«, unterbrach Zarabeth. »Magnus Haraldsson, und du bist Gutsherr und Handelsmann, und du bist weder grausam noch hinterhältig, und du möchtest mich zur Frau nehmen.«

Er furchte die Stirn. Sie war dreist, diese Frau mit dem fremdländischen Namen und dem warmen Lächeln. Sie machte sich über ihn lustig; das behagte ihm nicht. »Ja«, sagte er kühl. »Ich möchte dich zur Frau nehmen. Und jetzt hole ich dir deinen Eimer wieder.«

Sie trat beiseite und sah ihm nach, wie er in Siegerpose zur Esse des Schmieds auf der anderen Seite des Platzes ging. Gleich darauf kam er wieder mit einer langen Stange, an deren Ende ein Eisenhaken befestigt war. Er beugte sich weit über den Brunnen und senkte die Stange in den

Schacht. Sie hörte das Plätschern des Wassers aus der Tiefe, dazu sein leises Fluchen, ohne die Worte zu verstehen. Er bemühte sich redlich, den Eimer herauszufischen, den seine Stange nicht erreichen konnte. Schließlich gab er endgültig auf, richtete sich auf und blickte sie an.

»Ich kann ihn nicht heraufholen, die Stange ist zu kurz. Ich werde dir den Eimer ersetzen, weil du wegen meiner Anrede erschrocken bist.«

Das gefiel Zarabeth. »Das ist nicht nötig. Ich war ungeschickt, weiter nichts. Du hast mich erschreckt, das war dein einziger Fehler.« Sie wartete lächelnd. »Du kennst meinen Namen, aber du weißt nicht wirklich, wer ich bin. Ich bin Zarabeth, Stieftochter von Olav, dem Pelzhändler, und . . .«

»Und du willst meine Frau werden, jetzt, da du mich kennengelernt hast«, beendete er ihren Satz mit großer Selbstverständlichkeit. »Du entscheidest dich schnell. Das gefällt mir an einer Frau.«

»Wie bitte?«

»Es ist gut, daß du eine Frau mit Verstand und rascher Entschlußkraft bist. Ich werde mit Olav dem Eitlen sprechen, wir werden uns über das Brautgeld einigen und dann . . .«

»Ich will dich nicht heiraten!«

Er blickte sie mit gefurchter Stirn an. »Wieso nicht? Soeben hast du gesagt, daß du mich willst.«

»Ich habe nichts dergleichen gesagt. Ich kenne dich nicht. Ich habe dich nie zuvor in meinem Leben gesehen. Du hast Schuld, daß ich meinen Eimer verloren habe. Was willst du überhaupt?«

»Ich bin ein Gutsherr und ein Handelsmann. Ich bin nach York gekommen, um Handel zu treiben, das tue ich mehrmals im Jahr. Ich habe dich vor zwei Tagen gesehen und dich beobachtet. Ich habe beschlossen, daß du die richtige Frau für mich bist. Du gefällst mir. Du wirst meine Lust stillen und meine Kinder gebären, du wirst meinen Herd feuern, meine Mahlzeiten kochen und meine Gewänder nähen.«

Zarabeth, eben noch belustigt über die Unverfrorenheit des Fremden, fühlte sich nun von seinem Hochmut abgestoßen. Er erheiterte sie nicht mehr, denn sie begriff, daß es ihm damit ernst war. Und mit einem Normannen war nicht zu spaßen, das wußte jeder. Aber es ergab keinen Sinn. Der Aufzählung seiner Anforderungen an sie nach zu schließen, brauchte er eine Sklavin. Besorgnis stieg in ihr hoch, denn seine Augen hatten sich verengt. Er wirkte nun nicht mehr wie ein gutmütiger Bursche, der gerne lachte. Sie würde ihm ihr Unbehagen aber nicht zeigen.

»Ist das alles, was du zu sagen hast, Magnus Haraldsson? Du glaubst, ich sei die Richtige für dich? Das klingt, als wolltest du mich zu deiner Magd machen. Nein, laß mich ausreden. Ich könnte doch auch ein zänkisches Weib sein mit einer lauten und giftigen Zunge. Und du? Womöglich verprügelst du Frauen. Vielleicht badest du nicht und riechst schlecht wie die verfaulten Eingeweide eines Wiesels. Vielleicht . . .«

»Das reicht, Zarabeth.« Er schwieg eine Weile. Dann schlossen sich seine großen Hände um ihre Oberarme. Sie erstarrte, zwang sich aber zur Ruhe. Sie standen schließlich mitten auf dem Coppergate Platz, umgeben von Leuten, die sie kannte. Manche schauten zu ihnen herüber. Sie mußte also keine Furcht haben. Sie lächelte ihn wieder an, diesmal war es ein banges, unsicheres Lächeln.

»Ich will dir keine Angst machen, doch mein Entschluß steht fest. Ich bade häufig, wie das in meiner Heimat üblich ist, ich stinke nicht. Rieche an mir, wenn du willst. Ich habe gesunde Zähne und kein Fett angesetzt. Fette Männer können nicht kämpfen. Ich werde nie Fett ansetzen. Und ich verprügle keine Frauen.« Er machte eine Pause, schien nachzudenken, dann hob er die Schultern. »Meine Sklavin Cyra hat es gern, wenn ich ihr den Gürtel über das Hinterteil und die Schenkel ziehe. Aber ich tue es selten, um sie nicht zu verwöhnen.«

Zarabeth starrte ihn ungläubig an. »Du hast eine Sklavin, die es gern hat, wenn du sie schlägst? An diesen ... Stellen? Das ist krank! Ich glaube dir nicht.«

Magnus hob erneut die Schultern. »Es ist, wie ich sage. Sie ist eine Frau von glühender Leidenschaft, und der Schmerz auf ihrem Hinterteil erhöht ihre Lust, wenn ich sie anschließend besteige.« Seine Augen verengten sich. »Warum glaubst du mir nicht? Ich spreche die Wahrheit, Zarabeth. Du wirst bald erkennen, daß ich nicht lüge.«

»Ich glaube dir. Aber vielleicht solltest du mit diesem Wissen behutsamer umgehen. Der Gedanke, daß jemand mich an diesen Körperteilen schlägt . . . das will mir gar nicht gefallen.«

»Dann werde ich es nicht tun. Wenn du es nicht wünschst, werde ich dich nie schlagen, auch dann nicht, wenn du es schließlich doch wünschst.«

»Ich wünsche es nicht«, entgegnete sie, gegen ihren Willen fasziniert. »Ich werde diesen Wunsch nie haben.« Der Blick seiner blauen Augen hatte sich verändert, und sie spürte, daß er sie in ihrer Nacktheit zu sehen begehrte. »Läßt du mich jetzt bitte los, Magnus?«

»Nein. Ich fühle dein Fleisch gern unter meinen Fingern. Du bist warm und weich, und ich rieche deinen Frauengeruch gern.«

»Lockere wenigstens deinen Griff. Ich bekomme schnell blaue Flecken.«

Sogleich war der Griff seiner Finger um ihre Oberarme sanft und warm wie Sommersonne.

Er blickte sie weiterhin nachdenklich und aufmerksam an. »Du wirst mir sagen, was dir Lust bereitet. Ich bin ein Mann, der einer Frau gerne Lust bereitet. Und du wirst mein Eheweib sein. Ich bereite dir gern Freuden, damit du Lust an meinem Körper und an deinem verspürst. Als meine Ehefrau hast du das Recht, von mir, deinem Ehemann, befriedigt zu werden.«

Er sprach die Worte gelassen, mit tiefer, vertrauensvoller Stimme. Ihr Blick verweilte gebannt auf ihm. Mit dünner, leiser Stimme sagte sie zögernd: »Ich weiß nicht, was mir Lust bereitet.«

Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, und er entgegnete freudestrahlend: »Das ist gut. Dann werden wir gemeinsam lernen. Ich gebe mir Mühe, dich nicht zu enttäuschen.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Ich wollte dich aus der Nähe sehen. Du bist schön. Deine Haut ist sehr weiß. Ich beobachte dich seit zwei Tagen.«

»Ja, meine Haut ist sehr hell. Heller als deine.«

»Ja, weil du irisch bist. Hab' ich recht?«

Sie nickte, und er sah Schmerz in ihren Augen aufglühen und wunderte sich darüber.

»Waren beide, deine Mutter und dein Vater, irisch? Sind beide tot, auch deine Mutter?« Auf ihr zögerndes Nicken fragte er: »Wann ist sie gestorben?«

»Vor drei Jahren. Ihr Name war Mara. Mein Stiefvater Olav lernte sie in Limerick kennen und heiratete sie, als ich acht Jahre alt war. Mein Vater war ein Jahr zuvor gestorben, und das Leben war nicht leicht für meine Mutter, allein mit einem Kind. Dann kamen wir hierher.«

»Das kleine Mädchen, mit dem ich dich gestern gesehen habe, ist es Olavs Kind?«

Sie hob das Kinn, und diese unbewußt stolze Geste gefiel ihm und erstaunte ihn. Was hatte er gesagt, um ihren Trotz herauszufordern? Nach einer Weile antwortete sie: »Lotti ist meine kleine Schwester. Wer ihr Vater ist, tut nichts zur Sache.«

»Dann ist Olav der Vater.«

»Ja, ich liebe sie, und sie gehört mir.«

»Nein, sie gehört deinem Stiefvater.«

Zarabeth hob die Schultern und wandte den Blick. Er vermutete, daß sie mehr über das kleine Mädchen sagen wollte, doch dann meinte sie nur: »Es zählt nicht, welche Meinung du vertrittst. Ich muß jetzt gehen. Ich brauche einen neuen Eimer. Ich kann meine Zeit nicht mit dir vertrödeln.«

»Ich gebe dir einen neuen Eimer.« Sie schüttelte den

Kopf, doch er setzte mit ruhiger und leiser Stimme hinzu: »Von diesem Augenblick an wird meine Meinung in deinem Leben zählen. Jede meiner Taten wird dich betreffen, da du mir gehören wirst. Du wirst meine Worte beachten und sie dir zur Anleitung nehmen. Vergiß das nicht, Zarabeth. Soll ich dich zu deinem Haus begleiten, um deinen Stiefvater kennenzulernen? Verlangt er einen hohen Brautpreis?«

Nun war sie es, die ihre Hand auf seinen Arm legte. Ihre belustigte Entrüstung über seine Anmaßung war einer dumpfen Willenlosigkeit gewichen, die ihr Angst einjagte.

War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Sie kannte diesen Mann überhaupt nicht, der sie erst vor wenigen Minuten angesprochen hatte.

»Magnus bitte, du bist voreilig, viel zu schnell. Ich kenne dich nicht. Du mußt mich verstehen.« Sie stellte plötzlich zu ihrem Erstaunen fest, daß sie die Hände rang. Darüber war sie so verblüfft, daß sie lange schwieg. Auch er sagte nicht, wartete ab, bis sie ihre Rede zu Ende führte. Schließlich holte sie tief Luft und sprach in ihrer normalen, ruhigen Art weiter: »Wenn du es wünschst, werde ich dich morgen hier treffen. Hier an der gleichen Stelle. Wir können reden, über dein Leben in Norwegen und über andere Dinge. Ich muß dich besser kennenlernen. Mehr kann ich dir jetzt nicht versprechen. Bist du damit einverstanden?«

»Du wirst mich gut genug kennenlernen, wenn du meine Ehefrau bist.« Er würde jetzt nicht mit ihr einig werden. Das enttäuschte ihn und machte ihn ungeduldig. Dennoch lächelte er sie an, und sein Lächeln war aufrichtig und zärtlich, und etwas in ihr veränderte sich. Wärme stieg in ihr hoch, etwas wundersam Berauschendes erfüllte sie, ungewöhnlich und völlig neu. »Du bist eine Frau, die mir etwas bedeutet. Ich werde mich etwas mehr im Zaum halten, auch wenn es mir schwerfällt. Hör zu, Zarabeth, ich werde dich zu meiner Frau nehmen, und es wird sehr bald geschehen. Ich werde in zehn Tagen mit dir nach Norwegen zurückkehren.«

»Zehn Tage! Aber das ist unmöglich! Du verlangst von mir ...« Ihr fehlten die Worte, so erschrocken war sie. Sie schlenkerte wild mit den Händen in der Luft herum. »Hier ist meine Heimat. Hier habe ich zehn Jahre meines Lebens verbracht! Ich weiß nichts über dein Norwegen, außer, daß alle Leute dort hellhäutig und blond sind, grausam und böse. Sie fahren mit ihren langen Booten die Flüsse hinauf bis in die Städte, und sie morden und schänden und plündern alles!«

»Ich bin kein Bösewicht.«

»Du machst also keine Raubzüge? Du stiehlst nicht, du plünderst nicht, du vergewaltigst nicht, du zerstörst keine Häuser?«

Hin und wieder. Wenn ich mich langweile. Gold und Silber kann man immer gut gebrauchen. Uns Wikingern ist außerdem die Wanderlust angeboren. Wir erforschen gern fremde Länder, Völkerstämme, deren Gewohnheiten wir nicht kennen, die sich fremdländisch kleiden, deren Sprache wir nicht verstehen. Du wirst mich auf meine Handelsfahrten begleiten, wenn du das willst.«

»Aber du bist grausam.«

»Hin und wieder«, sagte er erneut und lächelte. »Wenn es notwendig ist. Ich bin kein grundlos grausamer Mann, Zarabeth. Ich werde dich mit meinem Leben schützen. Das bin ich dir als dein Ehemann schuldig.«

»Du behauptest, mir viel zu schulden, wenn ich dich zum Ehemann nehme. Doch du erteilst mir jetzt schon Befehle, obschon ich dich kaum kenne, und du verlangst, daß ich dir in allem gehorche. Ich schulde dir nichts. Du mußt . . .«

Er achtete nicht auf ihre Worte, nahm ihre Hand, drehte sie um und blickte prüfend auf ihre Handfläche. Ihre Finger waren schwielig, ihre Hände waren von schwerer Arbeit gerötet. »Ich habe dir gesagt, daß ich kein armer Mann bin. Du wirst Gesinde haben, das die schwere Arbeit verrichtet, du wirst Knechten und Mägden Anweisungen geben. Du wirst meine Kleider nähen und darauf achten, daß mein Essen schmackhaft zubereitet wird. Deine Hände werden weiß sein, um meine Schläfen zu kühlen, wenn meine Gedanken düster sind, um mir den Rücken zu streichen, wenn meine Muskeln verknotet sind, und um mich zu liebkosen, wenn ich mit dir das Lager teilen will.«

Sie starrte ihn unverwandt an. Ein Mann wie dieser war ihr noch nie begegnet. Seine Kühnheit, seine Selbstverständlichkeit ließen keinen Zweifel an seinen Gedanken oder Absichten zu. Und wie er redete, daß sie sein Lager mit ihm teilte, ihre Hände ihn liebkosten ... Sie war empört, und spürte zugleich eine glühendheiße Erregung tief in ihrem Bauch. Sie war plötzlich voller Leben, alle Sinne durch seine Worte und sein Aussehen erweckt.

»Du wirst mir gehören, Zarabeth.«

»Ich muß mit meinem Stiefvater sprechen«, sagte sie nun. Verzweifelt darüber, daß dieser Fremdling in ihr innerhalb so kurzer Zeit unbekannte, lodernde Gefühle hervorrief. Sie wußte nicht, wie sie mit dem Fremden umgehen sollte. Sie schwieg unschlüssig, angstvoll, und das blieb ihm nicht verborgen. Sie wandte den Blick, verlegen und verwirrt. »Ich muß mit meinem Stiefvater sprechen«, wiederholte sie.

Nun lächelte er und kostete seinen Triumph, seinen Sieg aus. Er hatte sie erwählt, und sie würde zu ihm kommen. Er hatte ihr seine Absichten deutlich gemacht, ohne etwas zu beschönigen, und sie hatte sich ihm gebeugt. Er war sich seiner Sache sicher und mit sich zufrieden. »Sehr gut. Ich habe Geduld, Zarabeth. Ich treffe dich morgen hier nach deiner christlichen Morgenmesse.«

Sie starrte ihn schweigend an. Er hingegen lächelte, seine Fingerspitzen berührten zart ihr Kinn. Er beugte sich über sie und hauchte einen zarten Kuß auf ihre geschlossenen Lippen. Dann war er weg, schritt über den Coppergate Platz, als gehöre er ihm, als seien die Bewohner dieser Stadt seine Untertanen.

Sie stand reglos und verwundert, bis er verschwunden war. Ein paar Frauen kamen auf sie zu. Rasch wandte sie sich um und entfernte sich eilig. Sie wollte keine ihrer neugierigen Fragen hören. Mit Sicherheit würden sie wissen wollen, was der Barbar von ihr wollte.

Und er war ein Barbar. Das durfte sie nicht vergessen. Und er war grausam, schon allein deshalb, wie er seine Gefährtin behandelte. Zarabeth war Christin wie ihre kleine Schwester Lotti. Und sie hatte sich geschworen, wenn sie einmal heiratete, würde Lotti mit ihr gehen, denn Lotti gehörte seit ihrem zweiten Geburtstag ihr, seit dem Tag, an dem ihre Mutter gestorben war. Der Tag, an dem Olav zu Zarabeth sagte, ihre Mutter habe Lotti genommen und sei mit einem anderen Mann fortgelaufen. Olav war ihnen nachgereist.

Er hatte berichtet, ihre Mutter sei an den Folgen eines Schlages gestorben, den der andere Mann ihr versetzt hatte. Aber warum sollte dieser Mann ihrer Mutter so etwas antun? War er nicht mit ihr fortgegangen? Hatte er sie nicht geliebt? Zarabeth konnte die Zusammenhänge nicht begreifen, aber sie hatte den Haß gesehen, die Gewalt in den Augen ihres Stiefvaters, und sie hatte geschwiegen. Ihre Mutter war tot. Das Haar blutverklebt — Blut war ihr aus Nase und Mund gelaufen, das hatten die Nachbarsfrauen einander zugetuschelt. Ihre Mutter war tot, seit langem tot. Ihre schöne Mutter, die Zarabeth geliebt hatte; ihre Mutter, die Lotti mitgenommen und sie zurückgelassen hatte.

Zarabeth verscheuchte die bösen Erinnerungen. Sie lagen in der Vergangenheit, waren tot wie Sommerasche. Es war sinnlos, ihnen nachzuhängen, denn niemand konnte ihr Näheres darüber berichten, niemand außer Olav. Und sie würde niemals mit ihm über die Vergangenheit reden. Olav war der Ansicht, sie sei an die Stelle ihrer Mutter getreten. Doch sie würde nicht fortlaufen, wie ihre Mutter es getan hatte. Sie gehörte zu ihm, wie jedes Kind zu seinem Vater gehörte.

Doch nun war dieser Wikinger in ihr Leben getreten.

Im Schatten der Mitternachtssonne
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