2. KAPITEL

Julia parkte ihren schwarzen Volvo vor der Monterey Bank in der Alvarado Street und stellte den Motor ab.

Ihren Gärtneroverall hatte sie gegen einen engen rosafarbenen Rock eingetauscht, der ihre schlanke Hüfte betonte, und eine einfache weiße Baumwollbluse, deren Ärmel sie bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte.

Ihr fiel ein, dass sie keine Zeit gehabt hatte, um ihr Make-up aufzufrischen, also zog sie ein kleines Schminkset aus ihrer Handtasche, tupfte ein wenig Puder auf ihre sommersprossige Nase, trug eine dünne Schicht Lippenstift auf und fuhr sich mit der Bürste durch ihre Haare in dem Bemühen, das Gewirr aus blonden Locken zu bändigen. Nachdem sie sich für geschäftsmäßig genug aussehend hielt, stieg sie aus und ging zu dem einstöckigen Stuckbau, in dem eine der ältesten Banken von Monterey ihren Sitz hatte.

Sie versuchte zwar, sich keine Gedanken zu machen, dennoch war sie ein Nervenbündel. Phil Gilmore hatte sie kurz zuvor angerufen und gebeten, in seinem Büro vorbeizuschauen. Den Grund hatte er ihr allerdings nicht gesagt. Als Eigentümer und Präsident der Bank war Phil der einzige Bankier in Monterey County gewesen, der ihr das Geld für die Instandsetzung der “Hacienda” gegeben hatte. Und als vor vier Monaten “Cliffside” seine Tore geöffnet und sich einen beträchtlichen Teil ihres Geschäfts einverleibt hatte, war Phil wieder ihre Rettung gewesen, da er sich damit einverstanden erklärt hatte, ihre Hypothekenrückzahlungen so lange auf zwei Beträge pro Monat zu verteilen, bis sich ihr Geschäft wieder erholt hatte.

Phils Sekretärin saß an ihrem Schreibtisch und sah die Post vom Nachmittag durch. LuAnn Snider, die sonst freundlich und gesprächig war, blickte nur kurz auf, vermied es aber, Julia in die Augen zu sehen.

“Sie können gleich durchgehen, Julia”, sagte sie und deutete auf die Tür links von ihr. “Phil erwartet Sie.”

Der Bankier, ein kleiner, rundlicher Mann von Anfang fünfzig, erhob sich gerade, als Julia in sein Büro kam. Ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte.

“Danke, dass Sie so schnell herkommen konnten, Julia.” Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann nahm auch er wieder Platz.

“Ist etwas nicht in Ordnung?” Julia verbarg ihre Angst nicht. Phils Verhalten machte sie nervös, weshalb sie sich wünschte, dass er ihr umgehend sagte, was ihm so sehr auf den Nägeln brannte.

Etwas war ihm sichtlich unangenehm, da Phil einige Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her schob. “Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber ich versuche seit einiger Zeit, die Bank zu verkaufen.”

“Sie wollen die Bank verkaufen?” Julia sah ihn verwirrt an, zumal sie nicht wusste, warum er ihr das sagte. “Sie ist doch seit über hundert Jahren in Familienbesitz.”

“Ich weiß. Aber seit dem Tod meines Vaters ist nichts mehr so wie früher. Außerdem haben sich die Zeiten geändert. All diese Fusionen, große Banken werden immer größer, kleine Banken werden vom Markt verdrängt …” Er schüttelte den Kopf. “Ich müsste zu viel Zeit und Geld investieren, um mit allen anderen mitzuhalten.”

“Das tut mir Leid.” Julia kaute nervös auf ihrer Unterlippe, da ihr klar war, dass Phils Entschluss, die Bank zu verkaufen, auch Auswirkungen auf ihren Tilgungsplan haben würde. War es das, was er ihr sagen wollte?

“Bedauerlicherweise”, fuhr er dann fort, “habe ich Schwierigkeiten, einen Käufer zu finden. Der Eigentümer der 'Commerce Bank' in Carmel ist bereit, mir ein Angebot zu machen, verlangt aber, dass ich einige der … risikoreicheren Hypotheken loswerde.”

Julias Herz setzte einen Moment lang aus. Sie sah Phil lange und kühl an. “Betrachten Sie meine Hypothek als risikoreich, Phil?”

“Nein”, sagte er rasch und sah sie verlegen an. “Ganz und gar nicht. Ich kenne Sie doch, Julia. Sie arbeiten hart, und Sie sind zuverlässig. Die 'Hacienda' in Schwung zu bringen dauert vielleicht etwas länger, als wir beide erwartet haben, weil gleich nebenan das neue Hotel gebaut worden ist. Aber es wird klappen.” Er nahm einen Bleistift und drehte ihn zwischen seinen Fingern hin und her. “Leider sieht Arthur Finney von der 'Commerce' das nicht so.”

“Und wie wollen Sie bestimmte Hypotheken loswerden?”

“Indem ich sie an jemanden verkaufe, der sie übernehmen will.”

“Können Sie das machen?”

Phil warf seinen Stift auf den Tisch. “Kleine Banken unterliegen nicht den strengen Vorschriften, die für größere Institutionen gelten. Außerdem handelt es sich um eine völlig legitime Transaktion. So läuft das überall.”

“Das heißt, Sie verkaufen meine Hypothek an einen Dritten? Ist es das?”

Mit gesenktem Blick schwieg Phil einen Moment lang, dann sagte er leise: “Das habe ich schon gemacht.”

Julia saß kerzengerade in ihrem Sessel. “Was?”

“Ich hatte keine andere Wahl, Julia. Hätte ich es nicht getan, wäre der Verkauf nicht zustande gekommen. Ihre Hypothek war die letzte, die ich veräußert habe. Glauben Sie mir, das war wirklich nicht einfach. Niemand von den Leuten, mit denen ich gesprochen habe, wollte irgendetwas mit der 'Hacienda' zu tun haben.”

Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, den Zorn in ihrer Stimme zu verbergen. “Meinen Sie nicht, Sie hätten das erst mit mir besprechen sollen?”

Phil seufzte, als hätte er diese Frage erwartet, auf die er nur ungern antwortete. “Normalerweise ja, aber der Käufer hat mich gebeten, das nicht zu tun. Er wollte, dass die Transaktion vollzogen war, bevor Sie es herausfanden.”

“Und warum?”

“Bevor ich das beantworte, möchte ich Ihnen versichern, dass sich nichts ändern wird. Der Käufer hat mir sein Wort gegeben, dass die Vereinbarung zwischen Ihnen und mir hinsichtlich des Rückzahlungsmodus beibehalten wird.”

Julia atmete erleichtert aus. Zum ersten Mal, seit sie die Bank betreten hatte, konnte sie sich entspannen. “Warum haben Sie das nicht sofort gesagt? Wer ist dieser wunderbare Mensch?”

Phil erwiderte ihren Blick. “Ihr Exmann. Ich habe die Hypothek an Paul verkauft.”

Wie betäubt starrte Julia ihn einfach nur an.

“Ich habe ihn mir nicht ausgesucht, Julia”, sagte er, als wäre damit alles gerechtfertigt. “Er hat von meinen Problemen gehört und ist zu mir gekommen.”

“Wie konnten Sie das machen?” fragte Julia, die an die Kante ihres Sessels gerutscht war.

“Ich hatte keine andere Wahl …”

“Sie und ich kennen uns seit 27 Jahren”, fiel sie ihm ins Wort. “Ich habe hier mein erstes Sparbuch eröffnet, als ich sieben Jahre alt war. Sie haben noch höchstpersönlich mein Guthaben von fünf Dollar in das Sparbuch getippt.”

Phil leckte über seine Lippen. “Ich weiß.”

“Ich dachte, wir wären Freunde, Phil”, sagte sie vorwurfsvoll.

“Das sind wir.”

“Ein Freund fällt aber nicht dem anderen in den Rücken.”

“Julia, Sie sagen das, als wäre die 'Hacienda' in Gefahr. Ich kann Ihnen versichern, dass dem nicht so ist.”

Sie konnte dem nichts entgegensetzen. Sie konnte ihm nicht sagen, dass Paul ihre Hypothek übernommen hatte, weil er sie wieder kontrollieren wollte. Ebenso wenig konnte sie ihm sagen, welch ein Ungeheuer Paul in Wahrheit war. “Was kann er machen?” fragte sie stattdessen.

“Bitte?”

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. “Wenn Paul sich plötzlich entschließt, der mündlichen Vereinbarung zwischen Ihnen und mir nicht mehr nachzukommen, kann er dann auf der vollen Summe zum Monatsersten bestehen?”

“Ich denke, das könnte er, aber …”

“Und wenn ich nicht zahlen kann? Kann er dann die gesamte Hypothek fordern?”

Phils unübersehbarer Adamsapfel sprang auf und ab. “Julia, dazu wird es nicht kommen.”

Julia ließ sich nach hinten in den Sessel fallen. Er hatte alle ihre Fragen beantwortet.

Mit einem Mal machte der Heiratsantrag Sinn, nachdem er wenige Stunden zuvor einfach nur albern geklungen hatte. Paul wollte sich mit ihr seit Langem versöhnen, aber er hatte nie etwas gegen sie in der Hand gehabt. Aber jetzt. Jedenfalls dachte er das. Ich bin nicht völlig hilflos, sagte sie sich. Sie besaß noch immer die Beweisfotos, die sie nach jener entsetzlichen letzten Nacht im Haus ihres Mannes gemacht hatte. Und sie besaß den Bericht des Arztes.

“Vielleicht sollten Sie mit Paul sprechen”, schlug Phil vor und klang erleichtert, dass es nicht zu einem großen Streit gekommen war. “Das wird Sie sicher beruhigen.”

Julia erhob sich. “Ja, das werde ich machen.”

Sie war zu aufgewühlt, um noch etwas zu sagen. Stattdessen nickte sie Phil nur kurz zu und verließ die Bank.

Der Markt auf der Cannery Row von Monterey war ein wöchentlich stattfindendes Ereignis, das Interessierte aus dem ganzen Land anlockte. Exotische Früchte, Gemüse und farbenprächtige Blumen waren großzügig zur Schau gestellt, deren Gerüche sich mit dem betörenden Aroma gerösteter Kaffeebohnen aus der nahe gelegenen Kaffeerösterei vermischten.

Gemeinsam mit ihrer Mutter spazierte Julia durch die Gänge, blieb hier und da an einem ihrer Lieblingsstände stehen, suchte Erdbeeren aus, die sie mit ihren Frühstückshörnchen servieren würde, und Aprikosen, aus denen sie eine köstliche Marmelade kochen konnte.

“Sieh dir diese Schönheit an”, sagte Grace Reid, während sie eine große Pflaume nahm und auf Augenhöhe hielt. “Wo außer in Monterey kann man schon solche Perfektion finden?”

Julia lächelte. “Die Handelskammer hätte dir nie gestatten sollen, in den Ruhestand zu gehen, Mom. Du bist die beste Sprecherin gewesen, die sie je hatten.”

Ihren 57. Geburtstag hatte Grace vor gerade erst zwei Wochen gefeiert, aber sie hatte noch immer viel von ihrer jugendlichen Schönheit und Vitalität bewahrt. Die Jahre hatten sie zwar ein wenig rundlicher werden lassen, doch die wenigen Pfunde zu viel kaschierte sie mit perfekt geschnittenen Hosen und weiten Blusen in leuchtenden Farben.

Nachdem ihr Mann sie 23 Jahre zuvor verlassen hatte und sie sich um ihre beiden kleinen Kinder kümmern musste, war sie jeder großen Herausforderung mit einem Mut und einer Würde begegnet, die Julia zutiefst bewunderte. Sie hatte sich aus der Handelskammer zurückgezogen, für die sie fast vier Jahrzehnte lang gearbeitet hatte, aber sie war noch immer mit ihrer Wohltätigkeitsarbeit im Krankenhaus und einer wöchentlichen Canasta-Runde mit ihren Freundinnen beschäftigt.

“Ich bin froh, dass ich von dir endlich mal eine Reaktion erhalte”, erwiderte Grace auf Julias Bemerkung.

“Wie meinst du das?”

“Seit wir hierher gekommen sind, bist du in Gedanken meilenweit entfernt.” Grace legte die Pflaume auf die sorgfältig aufgestapelte Pyramide zurück und sah ihre Tochter an. “Stimmt etwas nicht?”

Julia verkniff sich ein Lächeln. Sie hatte es noch nie fertig gebracht, vor ihrer Mutter etwas zu verheimlichen. “Nicht wirklich”, antwortete sie. Sie wollte nicht, dass sich ihre Mutter Sorgen machte. “Ich habe nur überlegt, was ich meinen beiden Gästen zum Nachmittagstee servieren soll, weiter nichts.”

“Tatsächlich?” Grace sah sie skeptisch an. “Das kann ich dir nur schwer abnehmen. Normalerweise stellst du die Menüs mehrere Tage im Voraus zusammen. Du bist der bestorganisierte Mensch, den ich kenne.”

“Das ist nicht gerade ein kleines Kompliment, wenn es von dir kommt.”

“Wechsel nicht das Thema.” Grace nahm eine Melone auf, roch daran, um sie dann der Frau am Stand zu geben. “Etwas macht dir zu schaffen, und ich möchte wissen, was es ist.”

Es war sinnlos, weiter die Wahrheit zu verbergen. Grace war genauso stur wie sie selbst und würde nicht aufgeben, ehe sie nicht alle Einzelheiten wusste.

Julia wartete, bis ihre Mutter die Melone bezahlt hatte. Als sie weitergingen, fragte sie: “Wusstest du, dass Phil versucht, die Bank zu verkaufen?”

Grace winkte jemandem zu, den sie kannte, blieb aber nicht stehen. “Ich habe Gerüchte gehört. Woher weißt du es?”

“Phil hat es mir gesagt.” Dann erzählte sie ihrer Mutter die schlechte Neuigkeit, weil sie es nicht länger aushielt, die ganze Angelegenheit für sich zu behalten.

Grace reagierte so entsetzt wie Julia, als sie davon erfahren hatte. “Phil hat deine Hypothek an Paul verkauft? Ohne dir etwas davon zu sagen?”

“Offenbar hatte Paul ihn gebeten, nichts davon zu erzählen, solange der Vertrag nicht unter Dach und Fach war.” Sie hatten den Parkplatz erreicht, auf dem ihr Volvo geparkt war. Julia öffnete den Kofferraum und verstaute alles, was sie und Grace gekauft hatten.

“Warum soll Paul deine Hypothek übernehmen?”

“Um mich mal wieder zu etwas zu zwingen, was ich nicht machen möchte.”

Beide Frauen gingen um den Wagen herum und stiegen ein. “Und was zum Beispiel?” hakte Grace nach.

Julia spürte, dass ihre Mutter sie besorgt ansah, und sie starrte einen Moment lang aus dem Fenster. Grace war die Einzige, die wusste, dass Paul sie geschlagen hatte. Doch da Julia die Vergangenheit hatte hinter sich bringen wollen, kamen sie auf diesen Punkt höchst selten zu sprechen.

“Paul war gestern bei mir.” Sie drehte sich im Sitz zu ihrer Mutter um. “Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will.”

“O mein Gott!” Erschrocken legte Grace die Hände vor den Mund. “Warum denn das? Meint er, dass du lebensmüde bist?”

“Er hat gesagt, dass er sich verändert hat. Dass er sich ohne mich elend fühlt und dass er einen Neuanfang unternehmen möchte.”

Grace' Augen weiteten sich vor Schreck. “O Julia, du hast doch nicht Ja gesagt!”

“Natürlich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass eine Versöhnung nicht zur Debatte steht.” Sie hielt es für besser, weder ein Wort von Pauls hitzigem Kuss noch von der Ohrfeige zu sagen, die sie ihm verpasst hatte. Es hätte ihre Mutter umso stärker beunruhigt.

“Wie hat er es aufgenommen?”

“Eigentlich war er über meine Reaktion … amüsiert. So als wüsste er etwas, was ich nicht wusste.” Sie lächelte bitter. “Jetzt weiß ich auch, was es war.”

“O Julia, ich kann mir nicht vorstellen, dass er die Hypothek benutzen wird, damit du ihn heiratest. Das ist doch krank. Außerdem hast du etwas gegen ihn in der Hand, das weißt du doch, oder? Das kann er nicht ignorieren.”

“Er denkt nicht sachlich.”

Grace schüttelte den Kopf. “Er war immer besessen von dir. Ich hätte wissen müssen, dass er dich niemals aufgeben würde.” Ein Ausdruck von Besorgnis trat in Grace' grüne Augen. “Und was geschieht jetzt?”

Julia steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Sie hatte die ganze Nacht lang wach gelegen und überlegt, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Die Entscheidung, Paul zur Rede zu stellen, begeisterte sie nicht, aber sie sah keine Alternative. “Ich warte ab, bis Paul heute Abend von der Ratssitzung zurückkommt”, sagte sie. “Dann gehe ich zu ihm nach Hause und rede mit ihm. Ich will hören, was er plant.”

“Vielleicht plant er überhaupt nichts.”

Julia startete den Wagen und rangierte aus der Parklücke. “Paul macht nie etwas grundlos, Mom. Das weißt du.”

“Mag sein, aber mir gefällt die Vorstellung nicht, dass du zu ihm nach Hause gehst.”

“Mir wird nichts passieren.”

“Lass mich dich wenigstens begleiten.”

Julia schüttelte den Kopf. “Nein, Mom. Das ist eine Sache zwischen Paul und mir.” Sie beugte sich hinüber und drückte die Hand ihrer Mutter. “Mir wird nichts zustoßen. Paul ist nicht dumm. Er wird mich ganz sicher nicht schlagen, immerhin kandidiert er zur Zeit für den Posten des County Commissioners.” Sie lächelte. “Außerdem hat er um meine Hand angehalten. Solange er an die Chance glaubt, dass ich meine Meinung ändere, wird er sich von seiner besten Seite zeigen.”

“Du musst das ja wissen.”

An der Art, wie Grace ihre Hände gefaltet in ihren Schoß legte, erkannte Julia aber, dass sie davon nicht überzeugt war.

Auch jetzt, nach zwölf Monaten, war es für Julia immer noch schwierig, das Haus zu betrachten, in dem sie und Paul sechs Jahre lang gelebt hatten, ohne dass ihr ein eiskalter Schauder über den Rücken lief.

Das zweistöckige Gebäude im Tudorstil war ein Hochzeitsgeschenk von Charles gewesen, eine großzügige Geste, um seine neue, sehr leichtgläubige Schwiegertochter zu beeindrucken. Damals war sie so unschuldig gewesen – und völlig verzaubert davon, dass Paul Bradshaw sich für sie als seine Ehefrau entschieden hatte. Paul, ein Mitglied des Stadtrates von Monterey, war ein Mann, über den viele sagten, dass er eines Tages Gouverneur von Kalifornien werden würde.

Anfangs war er der perfekte Ehemann, liebevoll, aufmerksam und aufopfernd. Julia, die nur zu bereit war, ihm zu gefallen, hatte eingewilligt, ihre Karriere im Hotelmanagement aufzugeben, um ihren Ehemann bei dessen beruflichem Vorankommen zu unterstützen. So wie Pauls Mutter und Großmutter es vor ihr auch getan hatten.

Doch an dem Tag, an dem Andrew ein Jahr alt wurde, änderte sich alles. Während Julia den Kuchen anschnitt, verkündete Charles stolz, dass sein Enkel der Tradition der Bradshaws folgen und auf eines der ältesten und exklusivsten Internate des Landes gehen würde: die James Clark Academy in Alexandria, Virginia.

“Ich musste ein paar Freunde anrufen, die mir noch einen Gefallen schuldeten”, sagte er mit einem zufriedenen Lachen. “Aber ich habe meinen Jungen auf die Liste bekommen.”

Julia war entsetzt darüber, dass sie an dieser Entscheidung nicht beteiligt worden war, und sie war wütend auf Paul, der mit seinem Vater einer Meinung war. Sie stieß beide Männer vor den Kopf, indem sie erklärte, dass ihr Sohn nicht auf ein Internat geschickt würde, und dass ab sofort jeder Plan, der Andrew betraf, mit ihr besprochen werden müsse.

Als sie und Paul an dem Abend nach Hause kamen, eskalierte der Streit noch weiter. Paul hatte ihr mit aschfahlem Gesicht vorgeworfen, sie sei undankbar und wolle aus Andrew ein Muttersöhnchen machen. Julia ließ sich diesen Vorwurf nicht gefallen und bezahlte teuer dafür. Ohne Vorwarnung schlug Paul sie mit dem Handrücken. Die Wucht des Schlags war so groß, dass ihr Kopf zur Seite gerissen und sie gegen ein Bücherregal geschleudert wurde.

Während sie zu Boden glitt und Paul entsetzt ansah, eilte der zu ihr, nahm sie in seine Arme, murmelte, wie sehr er sie liebte und wie Leid ihm das tue, und er schwor, dass so etwas nie wieder geschehen würde.

Es geschah wieder. Viele Male.

Zunächst war Julia davon überzeugt, dass seine Wutausbrüche ihr Fehler waren. Sie war zu unreif, zu ungebildet. Sie verstand nicht in vollem Umfang, welche Verantwortung auf ihrem Ehemann lastete, nicht nur als ein Bradshaw, sondern auch als der Sohn des beliebtesten Exgouverneurs von Kalifornien. Oft hatte sie das Gefühl, dass seine Frustration von der tief sitzenden Furcht ausgelöst wurde, er könne nie so gut sein wie Charles, ganz gleich, wie sehr er sich anstrengte und wie viel er erreichte.

Weil sie ihren Mann liebte, versuchte sie mit aller Kraft die Frau zu sein, die Paul haben wollte. Sie schloss sich verschiedenen gemeinnützigen Organisationen an und wandte sich an verschiedene Frauengruppierungen. Und als Paul den Wahlkampf für seine Wiederwahl startete, war sie bis zur Siegesnacht immer an seiner Seite.

Doch da seine Beliebtheit zunahm und sie mehr mit anderen Menschen zusammenkommen mussten, zeigte sich bald eine neue Seite: Pauls krankhafte und grundlose Eifersucht. Es dauerte nicht lange, da beschuldigte er sie, mit anderen Männern zu flirten und ihn zu betrügen.

Ihr hartnäckiges Abstreiten, das er als eine andere Form des Betrugs auslegte, schürte seine Wut noch stärker.

Als Julia klar wurde, dass er nicht aufhören würde, sie zu misshandeln, stellte sie Paul ein Ultimatum. Entweder begab er sich in eine Therapie, oder sie würde ihn verlassen.

Seinen Gesichtsausdruck in jener Nacht würde sie nie vergessen. Er starrte sie einen Moment lang mit undurchschaubarer Miene an, dann legte er seine Hände auf ihre Schultern und drückte sie langsam und sanft aufs Sofa. Mit furchterregend ruhiger Stimme sagte er ihr, dass sie Andrew nie wieder sehen würde, wenn sie ihn verließ. Dafür würde Charles sorgen.

Als sie drohte, ihn wegen der Misshandlungen zu verklagen, lachte er nur. Wer würde ihr schon glauben? Wie wollte sie ihre lächerlichen Behauptungen untermauern? Hatte sie Zeugen? Hatte er ihr jemals eine bleibende Verletzung zugefügt? Oder war er in der Öffentlichkeit ihr gegenüber laut geworden? Hatte sie jemals irgendjemanden über ihre so genannte Prügel ins Vertrauen gezogen?

Während er leise und langsam auf sie in einer Weise einredete, in der man mit einem Kind spricht, erkannte sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Sie wusste, dass Pauls Ankündigung, ihr Andrew für alle Zeit wegzunehmen, keine leere Drohung war. Charles Bradshaw war ein reicher, mächtiger und einflussreicher Mann, der alles erreichen konnte und der sich sogar das Sorgerecht für ein Kind würde erkaufen können.

Sie hatte keine andere Wahl, als ihr Ultimatum zurückzuziehen. Sie würde bleiben und vortäuschen, dass sie einlenkte. Und wenn Paul sie das nächste Mal schlug, dann würde sie sich rächen, aber nicht, indem sie zurückschlug. Das war zwecklos. Vielmehr würde sie die Beweise zusammentragen, die sie benötigte, um mit Andrew aus dieser Ehe herauszukommen.

Dieser Tag kam früher als erwartet. Es war ein milder Frühlingsabend, und sie befanden sich auf dem Rückweg von einer Wohltätigkeitsveranstaltung, als Paul einen Streit begann. Der Anlass war nichtig, eine völlig unbedeutende Bemerkung, die Julia über einen ihrer Freunde gemacht hatte. Der Wutausbruch endete erst, als Julia mit blutig geschlagenen Lippen erschöpft und hilflos auf dem Boden lag.

Am nächsten Morgen waren Schmerz und Angst das Einzige, was Julia fühlte, aber sie war auch fest entschlossen. Sie machte Fotos von ihrem blau geschlagenen Gesicht und fuhr nach Santa Cruz zu einem Arzt.

Am Abend desselben Tags war sie ins Haus zurückgekehrt, nachdem sie Andrew bei ihrer Mutter abgesetzt hatte. Ihre neu entdeckte Macht ließ sie beinahe leichtsinnig werden, während sie Paul ihre Forderungen erklärte: ihr Schweigen im Austausch gegen ihre Freiheit und das alleinige Sorgerecht für Andrew.

Paul war sich im Klaren, wozu sie in der Lage war, und willigte ein. Er war ein ehrgeiziger Mann mit großen Zukunftsplänen, doch ein einziges Wort von ihr hätte genügt, um aus dieser Zukunft einen Scherbenhaufen zu machen.

Augenblicke später war sie zum letzten Mal aus diesem Haus gegangen.

Und jetzt saß Julia in ihrem Volvo und betrachtete das große, hell erleuchtete Gebäude, während sie sich an jeden Streit, jeden Vorwurf und an jeden Schlag erinnerte. Sie umklammerte das Lenkrad noch fester. Wie konnte Paul nur glauben, dass sie in diese Hölle würde zurückkehren wollen, auch wenn die “Hacienda” dabei auf dem Spiel stand?

Sie öffnete die Fahrertür, zögerte aber, da sie mit einem Mal von Zweifeln erfüllt war. War es richtig, Paul wegen der Hypothek zur Rede zu stellen? War es sinnvoll, ihm zu zeigen, dass sie sich Sorgen machte? Sicher, sie wollte wissen, was er vorhatte. Aber was, wenn ihre Mutter Recht hatte und er tatsächlich keine hinterhältigen Absichten verfolgte? Sie wollte ihn ganz bestimmt nicht auf dumme Gedanken bringen.

Sie zog die Tür wieder zu. Sie hasste es, so verängstigt und unentschlossen zu sein, aber so reagierte sie immer noch auf Paul.

Fünf Minuten lang saß sie einfach da, bis sie einen Entschluss fasste. Sie startete den Wagen und fuhr nach Hause.

“Oh, Mom, muss ich diese blöde Krawatte tragen?”

Julia unterdrückte ein Lächeln, während sie vor ihrem sechs Jahre alten Sohn in die Hocke ging. Durch sein blondes Haar, die blauen Augen und den kräftigen kleinen Körper erinnerte er sie immer an ihren verstorbenen Bruder Jordan. Und so wie Jordan war auch Andrew ein Energiebündel, das nicht eine Minute lang stillsitzen konnte.

“Ja, das musst du”, erwiderte sie und zog den Windsorknoten zurecht, den er gerade in eine Schieflage gebracht hatte. “Du gehst nachher mit deinem Großvater zum Mittagessen in den Club, und du weißt, wie genau er es nimmt, wenn es um das äußere Erscheinungsbild geht.”

“Aber ich bin noch ein kleiner Junge. Ich muss nicht aussehen wie ein Erwachsener. Und heute ist Samstag.”

Andrews gesunder Menschenverstand, der schärfer war als bei den meisten erwachsenen Männern, die sie kannte, brachte Julia zum Lachen. “Ich weiß, Schatz.” Sie strich über die Krawatte und zwinkerte ihm zu. “Tu mir einfach den Gefallen, einverstanden?”

Andrew seufzte. “Ich hasse den Club. Da sind alles nur alte Männer mit gelben Zähnen und mit stinkenden Zigarren. Die sagen alle immer nur: 'Als ich in deinem Alter war …'“

Julia musste laut auflachen, als Andrew perfekt die zittrige Stimme eines alten Mannes imitierte. “Du bist ein richtiger Komiker, weißt du das?”

Als er einen Finger zwischen Krawatte und Hemdkragen steckte, um den Knoten zu lockern, schob sie seine Hand zur Seite. “Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du deine Krawatte in Ruhe lässt und dich beim Mittagessen benimmst, gehen wir anschließend in die Videothek und leihen uns einen Film aus. Du darfst aussuchen.”

Andrews Gesichtsausdruck wechselte von Verärgerung zu purer Begeisterung. “Können wir Die Rache der Ninjas holen?”

“Schon wieder? Den hast du doch bereits zweimal gesehen.”

“Ja und? Jimmy hat ihn viermal gesehen.”

Julia lachte. “Na ja, wenn das so ist …”

Sein Lächeln wurde schelmisch. “Können wir anschließend noch bei Ben und Jerry ein Eis essen?”

“Du bist ein zäher Verhandlungspartner, Schatz.” Sie schob eine widerspenstige Haarsträhne zurück. “Na gut, ich schätze, das Geld für zwei Eishörnchen können wir noch verprassen.”

“Cool.” Mit einem Mal konnte er es nicht abwarten fortzukommen und sah auf die Küchenuhr. “Dad ist spät dran.”

Julia seufzte und hoffte, dass Paul es nicht vorzog, wieder mal nicht aufzutauchen. Jetzt, da er sich zur Wahl für den Posten des County Commissioner hatte aufstellen lassen, stand sein Sohn ganz unten auf der Liste seiner Prioritäten.

“Er wird bald hier sein”, sagte sie halbherzig.

Weitere zehn Minuten verstrichen, dann beschloss sie, bei ihm zu Hause anzurufen. Zu ihrer Überraschung wurde der Hörer bereits nach dem ersten Klingeln abgenommen, aber es war nicht Paul. Sie hörte eine männliche Stimme, die sie nicht kannte.

“Hallo?”

“Ähm …” Sie zögerte. “Könnte ich bitte Paul Bradshaw sprechen?”

“Wer ist da?”

“Julia Bradshaw, Pauls Exfrau. Und wer sind Sie?”

Es folgte eine kurze Pause, dann sagte der Mann: “Mein Name ist Detective Hank Hammond vom Monterey Police Department. Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten für Sie, Mrs. Bradshaw. Auf Ihren Exmann wurde geschossen. Er ist tot.”