3. KAPITEL
Julia war vor Schock wie gelähmt. Paul konnte nicht tot sein, sie hatte erst vor zwei Tagen noch mit ihm gesprochen. Er hatte direkt vor ihr gestanden, hier in der Küche.
“Was haben Sie gesagt?” Ihre Stimme klang weit entfernt und so unwirklich wie die Worte, die sie gerade gehört hatte.
“Mr. Bradshaw ist tot, Ma'am”, wiederholte Detective Hammond. “Es tut mir Leid.”
“Aber das ist nicht möglich. Er …” Sie hielt inne, weil sie nicht sicher war, ob sie Pauls Besuch erwähnen sollte.
Der Detective bemerkte sofort ihr kurzes Zögern. “Er … was, Mrs. Bradshaw?”
“Nichts.” Sie sah zu Andrew, der immer noch mit seiner Krawatte kämpfte. Gott, wie sollte sie ihm das nur beibringen? “Wissen Sie, was geschehen ist?” fragte sie. “Oder wer es getan hat?”
“Noch nicht.” Der Detective klang sachlich, als würde er solche Fragen routinemäßig beantworten. “Ich muss mich mit Ihnen unterhalten, Mrs. Bradshaw. Wo kann ich Sie finden?”
Wusste er das nicht? Wusste das nicht jeder in Monterey? “Ich betreibe ein Gasthaus an der Via del Rey – die 'Hacienda'.”
“Ich komme gleich bei Ihnen vorbei.”
Andrew beobachtete sie. Sein Gesichtsausdruck war plötzlich ernst geworden. Julia hockte sich vor ihm nieder, umschloss seine Hände und sah sie einen Moment lang an. Durch Pauls vollen Terminplan waren er und Andrew sich nie nahe gewesen, aber der Junge liebte seinen Vater, sodass der Verlust ihm wehtun würde.
“Was ist, Mom?” fragte er. “Mit wem hast du denn da gesprochen?”
“Mit einem Polizisten.” Sie sah auf. “Ich befürchte, dass es einen Unfall gegeben hat.”
In den blauen Augen zeichnete sich Angst ab. “Ist es Dad?” Er fixierte ihr Gesicht. “Es ist Dad, ja? Was ist passiert? Wo ist er?”
Ein Kloß bildete sich in Julias Hals. “Du musst jetzt sehr tapfer sein, Andrew. Und sehr stark.”
“Was ist mit Dad?” Seine Stimme zitterte, als würde er bereits die Antwort ahnen.
Julia atmete tief durch und hasste sich für den Schmerz, den sie ihm gleich bereiten würde. “Er ist tot, Darling.”
Als wäre mit einem Mal ein gewaltiges Gewicht auf ihn herabgestürzt, sackten seine Schultern herab. Er presste die Lippen aufeinander, um nicht weinen zu müssen. Doch er konnte die Tränen nicht zurückhalten, stieß ein herzzerreißendes Schluchzen aus und sank in Julias Arme, um sein Gesicht gegen ihre Schulter zu pressen.
Von seiner Trauer am Boden zerstört, drückte Julia ihn an sich, presste ihren Mund auf sein Haar. “Es tut mir so Leid, Andrew, so schrecklich Leid.”
Nach einer Weile löste sich Andrew mit gerötetem Gesicht und rot unterlaufenen Augen aus der Umarmung. “War es ein Autounfall?”, fragte er flüsternd. Mit einer Geste, die Julia an seine frühe Kindheit erinnerte, wischte er sich die Tränen mit dem Hemdsärmel fort.
“Nein.” Es machte keinen Sinn, ihn anzulügen. Paul war ein bekannter Mann. In wenigen Stunden kannte man in der ganzen Stadt die Umstände seines Todes, auch auf dem Schulhof. “Er wurde erschossen.”
Andrew riss die Augen auf, als würde der Gedanke sein Vorstellungsvermögen übertreffen. Dann funkelte durch den Schleier aus Tränen Wut, stechend und heiß. “Wer hat das getan?” wollte er wissen. “Wer hat meinen Dad umgebracht?”
“Das wissen wir noch nicht, Darling.” Sie schob erneut die hartnäckige Strähne zurück, die wieder nach vorne fiel. “Die Polizei ist jetzt dort. Die wird herausfinden, wer es getan hat.”
Wieder lief eine Träne über seine Wange, aber diesmal ignorierte er sie. “Letzte Woche war ich böse auf ihn”, sagte er verschämt.
“Warum denn, Schatz?”
“Weil er nicht mit mir zum Baseballspiel gegangen ist, obwohl er es mir versprochen hatte.”
Sie verstand sein Schuldgefühl. Ihr war es im vergangenen Jahr nicht anders ergangen, als ihr Bruder Jordan getötet wurde, der als Detective beim Monterey Police Department gearbeitet hatte. “Dein Vater wusste, dass du ihn geliebt hast”, sagte sie sanft und hoffte, seinen Schmerz zu lindern. “Und er wusste auch, dass du böse auf ihn warst, weil du Zeit mit ihm verbringen wolltest.”
“Aber er wollte keine Zeit mit mir verbringen.”
Diese Worte trafen sie mitten ins Herz. “O Andrew, das ist nicht wahr”, log sie. “Er hatte einfach nicht so viel Freizeit, das ist alles.”
Mit gesenktem Kopf fragte er: “Weiß Grandpa es auch schon?”
Charles. Für einen kurzen Moment schloss sie ihre Augen und erinnerte sich an seine Bestürzung, als vor acht Jahren seine Tochter ums Leben gekommen war. Und jetzt auch noch Paul.
Mit einem Mal war jegliche Feindseligkeit gegen diesen Mann wie weggewischt, stattdessen empfand sie für ihn tiefes Mitgefühl. “Ich bin sicher, die Polizei hat ihn sofort angerufen. Du kannst später mit ihm reden, wenn du willst.”
Sie sah auf die Uhr. Der Detective würde jeden Moment eintreffen, und sie wollte nicht, dass Andrew bei ihr war, wenn er sie befragte. “Erst mal werde ich jetzt Grandma anrufen, damit sie rüberkommt. Einverstanden?”
Er nickte. Einen Arm um seine Schultern gelegt, nahm Julia das schnurlose Telefon und drückte mit dem Daumen die Kurzwahltaste. Mit wenigen Worten schilderte sie ihrer Mutter die Situation.
Bevor Julia überhaupt fragen konnte, sagte Grace: “Ich komme sofort vorbei, Kind.”
Nachdem sie aufgelegt hatte, brachte Julia Andrew zu einem der Sessel in der Ecke des Zimmers. Durch das geöffnete Fenster war der Schrei einer Möwe zu hören, die in Richtung Ozean flog. Julia setzte sich und zog Andrew an sich.
So blieben sie sitzen, bis Grace eintraf.
Detective Hank Hammond war ein mittelgroßer, leicht übergewichtiger Mann mit schütterem schwarzen Haar und müden Augen, die ihn aussehen ließen, als hätte er gerade eine Doppelschicht hinter sich gebracht.
“Mrs. Bradshaw?” Als sie nickte, zeigte er kurz seine Marke. “Ich bin Detective Hammond.”
Julia ließ ihn ins Haus. Zum Glück waren die beiden Gäste der “Hacienda” Frühaufsteher und hatten das Haus bereits verlassen, um Ausflüge zu machen.
“Haben Sie seit unserem Telefonat noch irgendetwas herausbekommen?” fragte Julia, während der Detective ihr in die Küche folgte.
“Nur, dass es kein Raubüberfall war und dass keine Einbruchsspuren zu finden sind. Derjenige, der Ihren Exmann umgebracht hat, besaß entweder einen Schlüssel oder wurde von ihm ins Haus gelassen.”
Sein Blick schweifte durch die Küche, ehe er sich wieder ihr zuwandte und sie aufmerksam ansah. “Haben Sie noch einen Schlüssel für sein Haus?”
Julia schüttelte den Kopf und verspürte eine unerklärliche Nervosität. “Nein, nicht mehr.”
“Das ist gut.” Er holte einen kleinen Notizblock aus seiner Brusttasche und blätterte, bis er ein leeres Blatt fand. “Wissen Sie, ob Ihr Mann irgendwelche Feinde hatte?” Seine Stimme war so matt und farblos wie sein gesamtes Erscheinungsbild. “Irgendjemand, der ihn gerne tot gesehen hätte?”
“Da fällt mir auf Anhieb nur Vinnie Cardinale ein.” Es war kein Geheimnis, dass Paul seit seiner Aufnahme in die Kommission zur Verbrechensbekämpfung einen eifrigen Krieg gegen den Gangsterboss aus San Francisco geführt hatte. Er hatte nicht nur Cardinales Aktivitäten blockiert, in der Cannery Row einen Nachtklub zu eröffnen, er hatte auch geschworen, sich durch Cardinales Aktivitäten in Monterey zu graben, bis er genug zusammengetragen hatte, um den Mann für alle Zeiten hinter Gitter zu bringen.
“Und von Cardinale abgesehen?”
“Paul und ich haben nicht über unser Privatleben gesprochen, Detective, darum weiß ich nicht …”
“Aber Sie haben sich noch gesehen.”
Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. “Ab und zu. An den Wochenenden, die Andrew bei ihm verbrachte.”
“Und … war das eines von diesen Wochenenden?”
“Eigentlich war heute der Tag, an dem das nachgeholt werden sollte. Paul hatte die letzten beiden Besuchstage verpasst.”
Sie bedauerte ihre Worte in dem Moment, in dem sie sie aussprach. Die Bemerkung ließ sie unfreundlich klingen, fast schon vorwurfsvoll. Das Letzte, was sie wollte, war, der Polizei den Eindruck zu vermitteln, dass sie einen Groll gegen ihren Exmann hegte.
“Dann haben Sie ihn wann zum letzten Mal gesehen?”
Julia zögerte. “Donnerstagnachmittag”, sagte sie zögernd. “Er war für ein paar Minuten hier.”
“Um seinen Sohn zu sehen?”
Obwohl sich sein Gesichtsausdruck praktisch nicht veränderte, fühlte sie sich zunehmend unbehaglich. Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. “Nein, er wollte mich sehen.”
Der Polizist wandte den Blick kurz von ihr ab, um etwas auf seinem Notizblock zu notieren. “Irgendein bestimmter Grund?”
Sie zuckte mit den Schultern und versuchte, gelassen zu erscheinen. “Er wollte nur mit mir reden, nichts Wichtiges.”
“Erzählen Sie mir es trotzdem.”
Der Gedanke, ihn zu belügen, verschwand so schnell, wie er ihr in den Sinn gekommen war. Sie war entsetzlich schlecht im Lügen, und warum sollte sie ihm nicht die Wahrheit sagen? Sie hatte nichts zu verbergen. Es gab nichts, wofür sie sich schuldig fühlen musste. “Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten würde.” Das klang jetzt noch lächerlicher als beim ersten Mal, als sie diese Worte gehört hatte.
“Tatsächlich? Und was haben Sie geantwortet?”
Julia versuchte, seinem Blick standzuhalten, ohne mit der Wimper zu zucken. “Ich habe ihm eine Abfuhr erteilt.”
“Wie hat er die aufgenommen?”
“Sehr gut”, sagte sie wahrheitsgetreu. “Ich glaube, dass er die Antwort schon kannte, bevor er mich gefragt hatte.”
Hammond notierte wieder etwas. “Was geschah dann?”
Julias Herz schien einen Salto zu machen. Es war eine direkte Frage, der sie nicht so einfach ausweichen konnte. “Was meinen Sie?” fragte sie, um Zeit zu schinden.
“Ich meine, hat er versucht, Sie umzustimmen? Hat er Sie um ein Rendezvous gebeten? Oder ist er einfach gegangen?”
“Er ging kurz darauf.” Sie umklammerte die Spüle hinter ihr und zwang sich, Hammond anzusehen, während sie betete, er möge nicht bemerken, dass sie ihn anlog, indem sie etwas verschwieg. “Er sagte, er käme am Samstagmorgen zurück, um Andrew abzuholen.”
“Und Sie haben ihn nicht noch einmal gesehen?”
“Nein.”
Detective Hammond verzog den Mund und sah sich um, als versuche er, sich jeden Winkel und jeden Gegenstand im Raum zu merken. “Das ist ein wundervolles Haus. Es gehörte dem alten Sandi Garcia, oder?”
Julia nickte und war über sein plötzliches Interesse an ihrem Gasthaus ein wenig überrascht. “Ja, das stimmt.”
Er nickte. “Sie haben hier mit der Renovierung großartige Arbeit geleistet.”
“Danke.”
Er sah sie wieder an. “Wo waren Sie gestern Abend zwischen elf Uhr und Mitternacht, Mrs. Bradshaw?”
Obwohl sie die Frage erwartet hatte, begann ihr Herz zu rasen. Ihr Gesicht hatte offenbar ihre Angst erkennen lassen, da er anfügte: “Es ist nur eine Routinefrage. Sie hilft, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen.”
“Ich verstehe.” Sie versuchte zu schlucken, doch ihre Kehle war so trocken, dass es ein nahezu unmögliches Unterfangen war. “Ich war hier.” Es stimmte, aber nur ganz knapp. Sie war vor den 11-Uhr-Nachrichten zur “Hacienda” zurückgekehrt. “Wurde Paul in dieser Zeit ermordet?”
“Das ist nur eine grobe Schätzung. Eine genauere Todeszeit bekommen wir, wenn der Gerichtsmediziner die Autopsie abgeschlossen hat.”
Eine genauere Todeszeit. Es erschien ihr noch immer unmöglich, dass er über Paul sprach.
Hammond klopfte mit dem Kugelschreiber gegen sein Kinn. “War außer Ihnen noch jemand hier? Jemand, der bestätigen kann, dass Sie zu Hause waren?”
Noch eine Routinefrage? überlegte sie. Oder hatte er sie noch nicht als Verdächtige ausgeschlossen? “Meine Mutter war hier.”
Er schien überrascht. “Wohnt sie hier?”
“Nein, sie …” Julia widerstand dem Drang, eine Hand auf ihren Bauch zu legen, wo ein kaltes Gefühl sich langsam ausbreitete. “Sie übernachtet manchmal hier, wenn … wenn sie für mich auf meinen Sohn aufpasst.”
Die Augen des Detective hatten ihre Schläfrigkeit verloren. “Hat sie gestern Abend auf Ihren Sohn aufgepasst, Mrs. Bradshaw?”
O Gott, hatte sie wirklich geglaubt, sie könne ihm etwas so Maßgebliches verschweigen? “Ja.” Ihr Herz schlug so fest, dass sie sich fragte, ob Hammond es auch hören konnte. “Ich war eine Zeit lang unterwegs.”
“Und wo waren Sie?”
Einige Sekunden verstrichen, dann sagte sie im Flüsterton: “Bei Pauls Haus.”
Unter dem zerknitterten braunen Jackett strafften sich die Schultern des Detective. “Sagten Sie nicht, dass Sie Paul Bradshaw nicht mehr gesehen hatten, nachdem er am Donnerstagnachmittag auf der 'Hacienda' gewesen war?”
“Ich habe ihn auch nicht mehr gesehen.” Sie war froh, dass die Wahrheit endlich ausgesprochen war, und sprach mit festerer Stimme weiter. “Ich bin zu seinem Haus gefahren, aber ich bin nicht hineingegangen. Ich habe nur im Wagen gesessen und versucht, eine Entscheidung zu treffen. Nach etwa zehn Minuten bin ich dann zurück nach Hause gefahren.”
“Sie sind zu seinem Haus gefahren und haben da einfach nur geparkt? Warum?”
Julia sah aus dem Fenster. Der Frühnebel hatte sich aufgelöst und war einem blauen Himmel und strahlendem Sonnenschein gewichen. Eine milde Meeresbrise wehte durch das geöffnete Fenster in den Raum und trug den frischen, salzigen Geruch der See mit sich. Alles sieht so friedlich aus, dachte sie. Ein ganz normaler Tag. Aber sie wusste, dass von diesem Moment ihr Leben nie wieder so friedlich und normal sein würde.
“Ich hatte an dem Tag etwas erfahren”, sagte sie widerstrebend. “Etwas, das ich mit Paul besprechen wollte.”
Der Blick des Detective war scharf und forschend. “Und was war das?”
Während sie gegen die Panik ankämpfte, kam sie zu der Einsicht, dass sie es ihm ebenso gut sagen konnte. Früher oder später würde er sowieso dahinterkommen. Sie löste sich von der Spüle, an der sie sich in den letzten zehn Minuten festgeklammert hatte, und ging hinüber zur Kücheninsel. Mit einer Hand, die sie versuchte, ruhig zu halten, nahm sie die Butterschale von der Theke und stellte sie zurück in den Kühlschrank. “Am Tag nach Pauls Besuch erfuhr ich, dass er von der Bank meine Hypothek für die 'Hacienda' übernommen hatte.” Indem sie beschäftigt tat, musste sie den Detective nicht ansehen, während sie weiterredete. “Darüber wollte ich mit ihm reden.”
“Und darum fuhren Sie spätabends bis zu Mr. Bradshaws Haus. Und als Sie dort ankamen, überlegten Sie es sich anders und kehrten um.”
Das waren mehr oder weniger ihre Worte, doch als Hammond sie aussprach, klangen sie völlig unglaubwürdig. “Ja”, sagte sie, während sie ihre Schultern straffte und sich wieder zu ihm umdrehte. “Genau das habe ich gemacht.”
“Warum haben Sie es sich anders überlegt?”
Die Angst, die sich ihren Magen verknotet hatte, wurde noch größer. Wie eine Schlinge, dachte sie. “Ich war zu der Ansicht gelangt, dass ich das Thema nicht von mir aus anschneiden sollte. Ich dachte mir, dass er es mir über kurz oder lang von sich aus sagen würde.”
Wieder verzog Hammond den Mund, als versuche er, sich über irgendetwas klar zu werden, dann fragte er sie plötzlich: “Besitzen Sie eine Waffe, Mrs. Bradshaw?”
Seine Angewohnheit, in Schweigen zu verfallen und sie dann auf einmal mit unterschwellig anschuldigenden Fragen zu bombardieren, begann ihr auf die Nerven zu gehen. “Nein.”
“Aber Ihr Exmann. Wir haben in seinem Schreibtisch einen Waffenschein gefunden.”
“Vor einigen Jahren hatte er eine Beretta gekauft, nachdem unsere Nachbarn mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt worden waren.” Sie beobachtete, wie er diese Information auf seinem Notizblock notierte. “Als wir uns getrennt haben, hat er die Waffe behalten.”
“Das überrascht mich. Eine allein stehende Frau mit einem kleinen Jungen – ich hätte gedacht, dass Sie sich schützen würden.”
“Das hier ist eine friedliche Nachbarschaft, Detective. Außerdem mag ich keine Waffen”, fügte sie an. “Und schon gar nicht, wenn ein Kind im Haus ist.”
“Wissen Sie, wo sich die Beretta jetzt befindet?”
“Paul hatte sie immer in einem Schrank im Schlafzimmer liegen. Warum fragen Sie?”
“Weil die Waffe verschwunden ist, Mrs. Bradshaw.”
“Pauls Waffe ist verschwunden?”
Vom Hof her war das Geräusch quietschender Reifen zu hören. Eine Wagentür wurde zugeschlagen, dann eine zweite. Augenblicke später stürmte Penny, gefolgt von Frank, in die Küche.
“Oh, Julia, ich bin sofort hergekommen, als ich es gehört habe.” Penny nahm Hammond kaum wahr, eilte zu Julia und nahm sie in die Arme. Frank machte das Gleiche, dann ließ er sie los und nahm ihre Hand. Er war ein attraktiver Mann mit dichtem schwarzen Haar, nussbraunen Augen und einer rauen Stimme, die schon in der Schule alle Mädchen verrückt gemacht hatte. “Wo ist Andrew?” fragte er.
“In seinem Zimmer. Meine Mutter ist bei ihm.”
“Bist du okay?”
Julia nickte. “Mir geht es gut. Detective Hammond hat mir gerade einige Fragen gestellt.”
“Was ist hier los, Hank?” wollte Frank mit leicht schneidendem Tonfall wissen. “Warum befragen Sie Julia?”
Hammond reagierte mit einem nichts sagenden Schulterzucken. “Routinemaßnahmen, Frank. Das sollten Sie wissen.” Er schlug seinen Notizblock zu und lächelte matt in die Runde. “Ich bin hier fertig. Für den Augenblick”, fügte er an, während er Julia ansah.
Er gab ihr eine Visitenkarte. “Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, das hilfreich sein könnte, rufen Sie an.”
Nachdem er gegangen war, ließ Julia sich in einen Sessel sinken. Sie stützte ihre Ellbogen auf den Tisch und drückte die Finger gegen ihre Schläfen, da sich heftige Kopfschmerzen bemerkbar machten. “Er glaubt, dass ich es war”, murmelte sie. “Er hat es nicht direkt gesagt, aber ich habe es an der Art gemerkt, wie er seine Fragen gestellt und mich angesehen hat. Er denkt, dass ich Paul umgebracht habe.”
“Aber das ist doch lächerlich!” rief Penny. “Warum sollte er das glauben?”
“Das ist nur Hanks Art”, versicherte Frank. “Das hat nichts zu bedeuten.”
“Er hat gute Gründe, mich zu verdächtigen”, sagte Julia leise.
Wie zu erwarten, brachte ihre Bemerkung ihr überraschte Blicke von Frank und Penny ein. “Kurz bevor er ermordet wurde, habe ich vor Pauls Haus geparkt”, erklärte sie.
Frank war einen Moment lang ruhig, dann setzte er sich ihr gegenüber an den Tisch, die Hände auf den Tisch gelegt, die Finger verschränkt. “Was hast du da gemacht?”
Sie berichtete von dem, was sie von Phil in der Bank erfahren hatte, und von ihrem Entschluss, Paul zur Rede zu stellen. Als sie den Heiratsantrag ihres Exmannes erwähnte, sah Penny sie bestürzt an. “Heiratsantrag? Wie ist er denn auf die Idee gekommen, dass du auch nur im Traum daran denken würdest?”
“Vielleicht hat er gedacht, er könnte die Hypothek als Druckmittel benutzen. Ich weiß es nicht. Ich bin aus ihm nie schlau geworden.” Sie sah verzweifelt auf ihre Hände und hatte Angst, weiterzusprechen.
Frank beobachtete sie aufmerksam. “Was ist, Jules?” fragte er und benutzte den Spitznamen, den er ihr vor Jahren gegeben hatte. “Was verschweigst du uns?”
“Nichts.”
“Du lügst.”
Penny warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. “Frank, was soll das? Merkst du nicht, dass sie völlig außer sich ist?”
“Natürlich merke ich das. Ich merke aber auch, dass sie mir nicht alles sagt.” Er wandte sich wieder Julia zu und sagte: “Ich möchte dir helfen, Julia, aber das kann ich nicht, wenn du mir nicht alles sagst.”
“Ich möchte euch nicht mit hineinziehen.”
“Vergiss das lieber. Gibt es etwas, das du Hammond nicht gesagt hast?”
Julia nickte.
“Und was?”
Sie blickte auf. “Paul hat mich festgehalten und geküsst.”
“Diese Schlange”, stieß Penny tonlos hervor.
“Ich habe überreagiert”, fuhr Julia fort. “Ich … ich habe ihn geohrfeigt. Darum konnte ich Hammond nichts davon sagen. Wenn er das jetzt herausfindet …”
“Das wird er nicht”, sagte Frank, während er entschlossen seinen Kopf schüttelte. “Paul hasste es doch, sich zu blamieren, da bezweifele ich, dass er irgendjemandem von der Ohrfeige etwas gesagt hat. Und selbst, wenn Hammond das rauskriegt – was solls? Eine Ohrfeige ist kein Beweis, dass du deinen Exmann umgebracht hast.” Er tätschelte ihre Hand. “Mach dir deshalb keine Sorgen, okay? Das ist keine große Sache.”
Er sah auf seine Uhr. “Wisst ihr was? Ich fahre zurück zur Wache und erkundige mich, wie die Ermittlungen vorankommen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Charles Bradshaw den Chief ziemlich unter Druck gesetzt hat, damit der Fall mit oberster Priorität bearbeitet wird. Da dürfte sich also schon bald etwas abzeichnen.”
Julia fühlte sich etwas besser und nickte. “Danke, Frank.”
Er sah zum hinteren Teil des Raums. “Ist es dir recht, wenn ich nach meinem Kumpel sehe? Ein Gespräch unter Männern könnte ihm vielleicht gut tun.”
Julia lächelte schwach. “Das würde ihm gefallen.”