4. KAPITEL
In einer verrauchten Kneipe in Downtown Sacramento saß der ehemalige Sergeant Cooper “Coop” Reid an der Bar und klammerte sich an eine Coke. Ab und zu sah er nach oben zum Fernseher über der Theke, wo sich ein Baseballspiel zwischen den San Diego Padres und den San Francisco Giants unerträglich lange hinzog.
Coop trank wieder einen Schluck und verzog das Gesicht. Allmächtiger, wie konnten Leute dieses eklige Zeugs trinken und es auch noch mögen? Das Aroma von Metall erinnerte ihn an den Hustensaft, den seine Mutter ihm eingetrichtert hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Er hatte den Geschmack damals nicht gemocht, und er mochte ihn jetzt auch nicht.
Ein Seufzer stieg in seiner Kehle auf, als er das Glas auf die mit Wasserflecken übersäte Theke stellte. Wonach er sich wirklich sehnte, das war ein Schuss Johnny Walker. Oder ein frisch gezapftes Bier. Irgendwas, das ihn wach werden ließ und den Geschmack nach Medizin vertreiben konnte, den diese verdammte Brühe ihm bescherte.
Doch der Wunsch blieb nichts weiter als ein Wunsch. Er hatte ein Versprechen gegeben. Nicht gegenüber seiner Frau oder seiner Tochter, die er beide seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Auch nicht gegenüber seiner Vermieterin, die ihn wegen Ruhestörung aus dem Haus geworfen hatte. Nicht einmal gegenüber seinem Bewährungshelfer, der ihm geschworen hatte, ihn sofort wieder ins Gefängnis zurückzubringen, wenn er auch nur an einem Drink roch.
Nein. Diesmal hatte er aufgehört, weil er selbst das wollte. Coop Reid hatte die Talsohle erreicht und war durch die Hölle und zurück gegangen, und er hatte beschlossen, dass es reichte.
Als er aufsah, erhaschte er sein Spiegelbild im Spiegel hinter der Theke, und angewidert schüttelte er den Kopf. Die Jahre und der Alkohol hatten ihre Spuren hinterlassen – Tränensäcke unter seinen Augen und Falten um seinen Mund, die so tief wie Gräben waren. Sein feuerrotes Haar war überwiegend ergraut, und auch nach fünfundzwanzig Tagen Abstinenz sahen seine Augen aus wie nach einer dreitägigen Sauftour.
Die Hand, die einmal so sicher gewesen war, dass sie einen rennenden Hasen auf fünfzehn Meter Entfernung treffen konnte, wanderte zu seinem Gesicht und rieb über die Bartstoppeln. Er war froh darüber, dass er nicht länger zitterte, aber er bezweifelte, dass er jemals wieder mit Präzision eine Waffe abfeuern konnte.
Wie so oft, wenn er nüchtern war, wanderten seine Gedanken zu Grace, der hübschen und mutigen Frau, die er im Stich gelassen hatte. Ob sie ihn erkennen würde, wenn er ihr auf der Straße begegnete? Wahrscheinlich nicht. Er dagegen würde sie auf der Stelle wieder erkennen. Wie könnte er je diese wunderschönen grünen Augen vergessen? Oder ihr sanftes Lächeln?
Während er an alles dachte, was er geliebt und verloren hatte, erfüllten Schuldgefühle sein Herz. Dreiundzwanzig Jahre, seit er zum letzten Mal seine Familie gesehen hatte. Dreiundzwanzig Jahre seit jenem schicksalhaften Abend, als er Grace eröffnete, dass er wegen seiner Alkoholsucht wieder einen Job verloren hatte. Da hatte sie sich endgültig gegen ihn gestellt, sie war wütend und sie hatte es satt.
“Ich halte das nicht mehr aus, Coop”, hatte sie gesagt, während Tränen der Verzweiflung über ihre Wangen liefen. “Ich habe genug von den Saufgelagen und von Schlägereien in Kneipen. Und davon, dass ich kein Geld habe, um dich gegen Kaution aus dem Gefängnis zu holen. Julia ist elf Jahre alt, Jordan ist neun. Ich kann so etwas nicht mehr so vor den beiden verbergen wie früher, als sie noch kleiner waren. Und ich möchte nicht, dass sie mit einem betrunkenen Vater als Vorbild aufwachsen. Entweder hörst du jetzt endgültig auf zu trinken, oder du gehst.”
Coop wusste aber, dass er mit dem Trinken so wenig aufhören konnte, wie er das Atmen hätte einstellen können. Nicht einmal das Ultimatum, das Grace ausgesprochen hatte, konnte daran etwas ändern.
Am nächsten Morgen hatte er seiner Frau und seinen Kindern einen Abschiedskuss gegeben, als sie alle noch schliefen. Dann hatte er sie – feige wie er war – ohne ein Wort verlassen, da er überzeugt davon war, dass sie ohne ihn besser dran waren.
In den folgenden Jahren war er von einer Stadt zur nächsten, von einem Job zum anderen und von einem schmuddeligen Motelzimmer zum nächsten gezogen. Da er seine wenigen Ersparnisse Grace überlassen hatte, verfügte er nur über das bisschen Geld, das ihm seine Gelegenheitsjobs einbrachten.
Er war nur mit einem Menschen in Kontakt geblieben, seinem alten Army-Kameraden Spike Sorensen. Sie hatten zusammen in Vietnam gekämpft, in der Elitetruppe Fifth Special Forces. Nach dem Ende seines Dienstes hatte Spike eine Stelle bei einer Ölgesellschaft bekommen und verbrachte seitdem die meiste Zeit damit, Ölplattformen auf hoher See zu besuchen. Alle paar Jahre kehrte er für seinen wohlverdienten Erholungsurlaub in seine Jagdhütte in den Santa Monica Mountains zurück, die knapp vierzig Kilometer östlich von Monterey gelegen war. Wenn er auf seinem Anrufbeantworter eine Nachricht von Coop vorfand, rief Spike immer zurück und gab ihm die Neuigkeiten über seine Familie weiter, wenn er etwas wusste.
Auf diesem Weg hatte Coop auch von Jordans Tod erfahren.
Er schloss die Augen. Er erinnerte sich an diesen Tag, als wäre es erst gestern gewesen. Und er erinnerte sich an den Schmerz, der sich so anfühlte, als hätte jemand ein Messer in seinen Leib gestoßen.
Schließlich hatte er sich zusammengerissen und die Rückkehr nach Hause geplant, um bei der Beerdigung anwesend zu sein. Und falls Grace ihn ließ, konnte er ihr durch die Zeit der Trauer helfen. Doch auf halber Strecke hatte er die Bekanntschaft einer weiteren Flasche gemacht und war über Modesto nicht hinausgekommen.
Vor über drei Wochen hatte sich Coop nach einer Schlägerei in einer Bar im Gefängnis wiedergefunden, ohne sich daran erinnern zu können, wie er dorthin geraten war.
Das hatte bei ihm panische Angst ausgelöst. Noch am gleichen Abend war er zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker gegangen, eines von vielen, an denen er in der Vergangenheit teilgenommen hatte. Doch diesmal schwor er sich, das Programm durchzuziehen.
Und jetzt saß er hier, fünfundzwanzig Tage später und zu seiner eigenen Verwunderung noch immer nüchtern. Er hatte sogar einen neuen Job gefunden, eine leichte Zimmerarbeit, die ihm der Eigentümer einer Haushaltswarenhandlung angeboten hatte. Die Bezahlung war nicht besonders gut, aber sie reichte aus, um satt zu werden und ein Dach über dem Kopf zu haben.
Er würde etwas Besseres finden, doch im Moment genügte es. So wie mit seiner Abstinenz würde er sich auch dieser Herausforderung dem Grundsatz der Anonymen Alkoholiker entsprechend jedem Tag einzeln stellen und auf das Beste hoffen.
Dass er jeden Tag Clydes Kneipe aufsuchte und etwas trank, was ihm nicht schmeckte, war für ihn ein Test seiner eigenen Willensstärke. Die Anonymen Alkoholiker empfahlen das zwar nicht, aber ihm half es. Der Barkeeper wusste, was er wollte: das Gericht des Tages und eine Coke. Beides stellte er vor ihn auf die Theke, und dann ließ er ihn in Ruhe.
Während er wieder von seiner Cola trank, sah Coop erneut nach oben zum Fernseher. Das Spiel war endlich vorüber, und nun liefen die 6-Uhr-Nachrichten.
Plötzlich war in der rechten oberen Ecke des Bildschirms das Foto einer jungen Frau und eines kleinen Jungen zu sehen. Coop ließ beinahe sein Glas fallen, und sein Herz blieb einen Moment lang stehen, als er die blonden Locken betrachtete, die grünen Augen, die so sehr an die von Gracie erinnerten, den vollen Mund, das stolze Kinn.
Julia. Seine Julia.
“Hey, Joe”, sagte Coop, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. “Mach doch bitte mal den Fernseher lauter.”
Joe holte die Fernbedienung unter der Theke hervor und drückte auf eine Taste.
“… Ratsmitglied Bradshaw, Sohn des ehemaligen Gouverneurs von Kalifornien, Charles Bradshaw, hinterlässt seinen sechs Jahre alten Sohn Andrew. Die Polizei sucht immer noch nach Bradshaws Mörder. Eine Verhaftung hat es bislang nicht gegeben, jedoch bestätigt eine Meldung, dass die frühere Frau des Ratsmitglieds, Julia Bradshaw, über ihren Verbleib in der Mordnacht verhört wurde. Mrs. Bradshaw äußerte sich nicht zum Vorwurf, dass sie unter Verdacht stehen könnte. Und nun zum …”
“Julia”, flüsterte Coop, der immer noch auf den Bildschirm starrte, obwohl ihr Foto längst nicht mehr zu sehen war. “Meine kleine Julia.” Er hätte sie nicht erkannt, wenn Spike ihm nicht nach Jordans Beerdigung den Zeitungsausschnitt geschickt hätte. Und der Junge. Großer Gott, dieser Junge war sein Enkel.
Er wollte die Cola austrinken, doch seine Hand zitterte so sehr, dass er das Glas wieder absetzen musste. Wie war das nur möglich? Sie war das netteste, süßeste Mädchen, das er kannte. Sie hatte geweint, als die Katze ihrer Nachbarin gestorben war. Nicht nur aus Trauer um das Tier, sondern auch, weil die Besitzerin der Katze, eine freundliche alte Dame, die für die Kinder immer Kekse im Haus hatte, untröstlich gewesen war. Julia war ins Tierheim gegangen und hatte von ihrem eigenen Geld die Gebühr bezahlt, um der Nachbarin ein schwarzes Kätzchen zu holen.
Wie zum Teufel konnte da jemand Unterstellungen machen und Julia als unter Mordverdacht stehend bezeichnen?
Er musste mit Spike sprechen, er musste herausfinden, welche Beweise die Polizei in der Hand hatte. Er war allerdings nicht sicher, ob sein Freund wieder im Land war. Coop hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seit Jordan vor einem Jahr gestorben war. Aber es war einen Versuch wert.
Mit Schritten, die so sicher waren wie schon seit Jahren nicht mehr, ging er zum Telefon an der gegenüberliegenden Wand, warf ein paar Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer seines Freundes aus dem Gedächtnis. Beim vierten Klingeln sprang Spikes Anrufbeantworter an. Coop wartete den kurzen Ansagetext ab und hinterließ dann seine Telefonnummer der Haushaltswarenhandlung.
Zurück an der Theke stützte er seinen Kopf zwischen seine Hände.
“Noch eine Coke, Chef?”
Coop rieb sich das Gesicht, dann nickte er. Er musste etwas trinken, um die Trockenheit aus seiner Kehle zu vertreiben.
Und er musste sein kleines Mädchen wieder sehen.
Der Gedanke, nach Hause zurückzukehren, war ihm in den letzten fünfundzwanzig Tagen mehr als einmal in den Sinn gekommen. Jedes Mal hatte er ihn wieder verworfen, weil er sicher war, dass seine Familie nichts von ihm wissen wollte.
Aber jetzt war das etwas anderes. Julia war in Schwierigkeiten. Und da war auch noch der Junge – sein Enkel. Er hatte sein Gesicht gesehen, und er konnte es nicht wieder vergessen. Ein schwaches, trauriges Lächeln umspielte seinen Mund. Wie man sich wohl als Großvater fühlt, überlegte er. Wie würde es sein, mit dem Jungen zum Fischen zu gehen oder mit ihm Fangen zu spielen? All die Dinge zu machen, die er mit seinem eigenen Sohn nicht gemacht hatte?
Vielleicht sollte er sich auf den Weg machen, um sie zu finden. Julia war immer nachsichtig gewesen, und jetzt brauchte sie ihn.
Dieser Gedanke war so dumm, dass er lachen musste. Wem wollte er etwas vormachen? Julia war dreiundzwanzig Jahre lang ohne ihn zurechtgekommen. Warum sollte sie ihm überhaupt einen Blick gönnen? Warum sollte sie ihm nicht einfach die Tür vor der Nase zuschlagen?
Er war nicht mal sicher, ob sein Bewährungshelfer es ihm überhaupt erlauben würde, den Landkreis zu verlassen. Vielleicht würde sich ja etwas arrangieren lassen, wenn er sich bei einem anderen Bewährungshelfer in Monterey meldete.
Coop saß noch eine halbe Stunde an der Bar und drehte sein Glas auf der Stelle, während die Coke kleine Wellen schlug. Hinter ihm hatte jemand einen Quarter in die Jukebox geworfen, und jetzt erfüllt Reba McEntires Stimme das Lokal, während sie über ihre verlorene Liebe klagte.
Nach einer Weile stand Coop auf, zog ein paar Banknoten aus seiner Tasche, um die Rechnung zu bezahlen. Dann legte er fünf Dollar als Trinkgeld dazu. War ja schließlich nur Geld. Und Joe war immer nett zu ihm gewesen.
Dann warf er dem Barkeeper mit zwei Fingern einen Gruß zu, verließ die Kneipe und ging hinaus in die feuchte Nacht.