5. KAPITEL

Über dreihundert Menschen waren zum Friedhof El Camino hoch oben in den Hügeln von Monterey gekommen, um Ratsmitglied Paul Bradshaw die letzte Ehre zu erweisen.

Julia war über die große Anzahl Trauergäste nicht erstaunt. Seit dem Tag, an dem Pauls Urgroßvater Ende des 19. Jahrhunderts zum Bürgermeister von Monterey gewählt worden war, waren die Bradshaws in der Region sehr beliebt gewesen. Doch erst als Charles das Familienvermögen geerbt und beträchtliche Geldbeträge für die Bedürftigen gespendet und zur Verschönerung der Stadt beigetragen hatte, fingen die Bürger von Monterey an, die Bradshaws zu verehren.

Gleich neben Charles stand eine Handvoll entfernt Verwandter an dem kurz zuvor ausgehobenen Grab, die Julia seit ihrer Hochzeit vor sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ihre Gesichter wirkten so kühl und distanziert, als wären sie Fremde. Keiner von ihnen sah ihr in die Augen. Allerdings waren sie schon bei der Hochzeit nicht übermäßig freundlich gewesen.

Einige Meter weiter drängten sich Kamerateams aus ganz Kalifornien, die die Ankunft verschiedener Vertreter der Stadt filmten – den Polizeichef, der zugleich Charles' bester Freund war, den Bezirksstaatsanwalt, den Bürgermeister und die verbliebenen drei Ratsmitglieder.

Zwar hatte Julia über Charles' Anwalt von den Einzelheiten der Beerdigung erfahren, jedoch war nur Andrew eingeladen worden, mit seinem Großvater in der Limousine zu fahren. Jetzt stand er da neben Charles, ein ernster und traurig dreinblickender kleiner Junge im Sonntagsanzug.

Kaum waren die ersten Bürger eingetroffen, wurde getuschelt.

“Diese Dreistigkeit von ihr, hier zu erscheinen”, zischte eine Frau laut genug, dass Julia sie hören konnte.

“Als hätte sie nicht schon genug Unheil angerichtet.”

“Mir tut nur der Junge Leid.”

“Wenn du mich fragst”, mischte sich eine weitere Frauenstimme ein, “sollte Charles ihn bekommen und für eine gute Erziehung sorgen.”

Julias ganze Selbstbeherrschung war gefordert, um ihr Temperament zu zügeln. Unerschütterlich und unfähig, eine Träne zu vergießen, ignorierte sie das gehässige Getratsche und sah starr zu Reverend Barlow, dem Geistlichen, der sie und Paul getraut hatte.

Sie wusste sehr wohl, dass die Menschen in Monterey sie nie gemocht hatten. Die Nachricht, dass Paul Bradshaw die Tochter eines Säufers heiraten würde, der seine Familie im Stich gelassen hatte, war wie eine Welle des Entsetzens über die Kleinstadt hereingebrochen. Warum sie? fragten die Leute. Was konnte eine Frau wie Julia bloß zu Pauls Zukunft beitragen?

Sechs Jahre später gaben sie ihr erneut die Schuld, weil sie sich vom Lieblingssohn der Stadt scheiden ließ. Auch wenn sie und Paul unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten als Grund angegeben hatten, zeigten die Menschen schon bald mit dem Finger auf sie. Warum hatte sie sich nicht bemüht, damit die Ehe funktionierte? Wie konnte sie nur so herzlos sein und ihn verlassen, wo seine Karriere doch gerade auf einen Höhenflug zusteuerte?

Jetzt war er tot, und sie gaben ihr abermals die Schuld.

Während Julia einige Minuten später die Trauergäste beobachtete, die eine lange Reihe bildeten, um Charles ihr Beileid auszusprechen, fragte sie sich, was diese Menschen sagen würden, wenn sie wüssten, dass der Mann, um den sie trauerten und in den sie so viel Vertrauen gesetzt hatten, von der Sorte war, die ihre Ehefrau schlugen.

Würden sie es ihr überhaupt glauben?

“Julia?”

Sie drehte sich um und erkannte Barry Specter, den Bürgermeister von Monterey. Specter und Paul waren früher einmal befreundet gewesen, doch Pauls Entscheidung, als County Commissioner zu kandidieren und damit gegen seinen Vorgesetzten anzutreten, hatte ihrer Beziehung einen schweren Dämpfer erteilt.

Hinter ihm war Pauls treue Sekretärin Edith Donnovan, die Julia voller Wut ansah. Anstatt ihr Beileid auszusprechen, flüsterte Edith dem Bürgermeister etwas ins Ohr, dann ging sie fort.

“Was für eine schreckliche Sache.” Mit ernster Miene drückte er Julias Hand und sah dann zu Andrew, der inzwischen wieder an ihre Seite zurückgekehrt war. “Ich möchte, dass ihr beide wisst, dass ich weder Kosten noch Mühen scheuen werde, um herauszufinden, wer das getan hat.”

“Danke, Barry.” Julia hatte Specter noch nie leiden können. Und sie vertraute ihm auch nicht. Man musste keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um zu wissen, dass ihn Pauls Tod nicht im Geringsten berührte. Wahrscheinlicher war da schon, dass er ihn gefeiert hatte. Da ein so bemerkenswerter Konkurrent aus dem Weg geräumt worden war, konnte er nahezu sicher sein, zum neuen County Commissioner gewählt zu werden.

Andrew zupfte an ihrem Ärmel. “Gehen wir jetzt zu Grandpa nach Hause, Mom?”

Julia hätte am liebsten Nein gesagt. Der Gedanke, sich unter Leute zu mischen, die sie so sehr ablehnten, die sie anstarrten und abfällige Bemerkungen über sie machten, war mehr, als sie eigentlich ertragen konnte.

Aber Andrew ging offensichtlich davon aus, mehr Zeit mit seinem Großvater zu verbringen, und sie wollte ihn nicht enttäuschen. Und sie wollte Charles keinen Grund zu weiterer Kritik geben. Und wer konnte es schon wissen? Vielleicht würde ihr Exschwiegervater in diesem Augenblick der Trauer sogar die Vergangenheit ruhen lassen und sich ihr gegenüber zivilisiert verhalten.

“Ja, Andrew. Entschuldigen Sie uns bitte”, sagte sie zu Specter.

“Natürlich.”

Während der Bürgermeister und sein kleines Gefolge weiterzogen, wandte sich Julia ihrer Mutter zu. “Kommst du auch mit, Mom?” Sie beugte sich zu Grace vor und flüsterte: “Ich könnte ein wenig moralische Unterstützung gebrauchen.”

Grace nickte verständnisvoll.

Während die Trauergäste auf die lange Reihe wartender Fahrzeuge zustrebten, die den Fahrbahnrand säumte, legte Julia ihre Arme um Andrews Schultern und ging mit ihm zu ihrem Volvo.

Das Anwesen der Bradshaws, das den Blick auf die Bucht von Monterey erlaubte, war von Charles' Vater gebaut worden, einem Mann mit einem Geschmack, der so verschwenderisch wie protzig war. Das pompöse viktorianische Haus beherbergte zweiundzwanzig Zimmer und tonnenweise Antiquitäten, deren Vergangenheit so schillernd war wie die der Familie selbst. Hinter dem Anwesen befand sich ein prachtvoller Rosengarten, den Pauls Mutter angelegt hatte, als sie und Charles vor vierzig Jahren in das Haus gezogen waren. Nach Sarah Bradshaws Tod 1982 hatte man die von ihr begründete Tradition fortgeführt, den Garten einmal im Jahr für das Publikum zu öffnen. Es war ein Ereignis, das Neugierige noch immer zu Tausenden anlockte.

Pilar, Charles' langjährige Haushälterin, inspizierte gerade den Buffettisch, als Julia eintraf. Sie war eine kleine, rundliche Frau mit vollem grauen Haar, dunkler Hautfarbe und liebevollen Augen. Sie war eigensinnig und freimütig, und damit war sie Charles' größte Verfechterin und heftigste Kritikerin zugleich. Ihre hitzigen Streitereien waren legendär, und viele fragten sich, wieso Charles ein solches Verhalten von einer Bediensteten tolerierte.

Tatsächlich war es aber so, dass Pilar trotz ihres aufbrausenden Temperaments zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Bradshawschen Haushalts geworden war und dass Charles ohne sie einfach nicht zurechtkam.

Die Haushälterin sah auf, entdeckte Julia und eilte zu ihr, um sie und Andrew zu begrüßen und ihr Beileid auszusprechen.

“Wie geht es Ihnen?” fragte Julia, die wusste, wie sehr Pilar Charles' Kinder geliebt hatte.

“Es ist ein trauriger Tag, señora.” Pilar sah zu Andrew und legte eine Hand auf seine Schulter. “¿Y tu, pequeño?” , fragte sie in dem Spanisch, das sie ihm im Lauf der Jahre beigebracht hatte. “¿Como estas?”

“Ich bin schon fast sieben”, erwiderte er. “Du musst nicht mehr pequeño zu mir sagen.”

Pilar lachte glucksend. “Tut mir Leid, großer Mann”, sagte sie mit ihrem spanischen Akzent. “Ich werde versuchen, mir das zu merken. Kann ich dir in der Zwischenzeit etwas zu essen bringen? Eine Limonade?”

Andrew schüttelte den Kopf. “Nein, danke, Pilar.”

“¿Como?” Pilar legte eine Hand an ihr Ohr. “Ich habe dich nicht richtig verstanden.”

Andrew lächelte. “No, gracias, Pilar.”

“Schon besser.” Sie zerwühlte sein Haar. “Und Sie, Mrs. Bradshaw? Mrs. Reid? Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen einen Teller zusammenstellen kann.”

Julia schüttelte den Kopf. Ihr Magen befand sich in einer so festen Umklammerung, dass sie nichts hätte runterkriegen können. “Wir bleiben nicht lange.” Julias Blick wanderte durch den Raum auf der Suche nach Charles. Sie hatte ihm bislang noch nicht ihr Beileid aussprechen können, und diese Tortur wollte sie so schnell wie möglich hinter sich bringen. “Es war ein anstrengender Tag für Andrew, er gehört nach Hause.”

“Er gehört hierher”, sagte eine kühle Stimme hinter ihnen. “Zu mir.”

Julia, dankbar dafür, dass Pilar und Grace Andrew rasch mitnahmen, drehte sich um und stellte sich ihrem ehemaligen Schwiegervater. Mit sechsundsechzig Jahren war Charles Bradshaw immer noch ein imposanter Mann. Er war gut über 1,80 Meter groß und besaß einen athletischen Körper, den er durch tägliche Tennispartien in Form hielt. Die scharfen blauen Augen hatten den Ausdruck eines Jägers. Mit zusammengepressten Lippen stand er vor ihr und durchbohrte sie mit seinem unerbittlichen Blick, als fordere er sie heraus, sich ihm zu widersetzen.

Julia hatte nicht vor, sich von ihm einschüchtern zu lassen. Die Zeiten, als sie bei seinem bloßen Anblick zurückwich, waren lange vorüber. “Andrew muss trauern, Charles, das braucht aber nicht öffentlich zur Schau gestellt zu werden.”

“Was weißt du schon über das Trauern? Du hast meinen Sohn getötet.”

“Das habe ich nicht.” Weil sie es hasste, eine Szene zu machen, sprach sie kaum lauter als ein Flüstern. “Und das weißt du.”

Charles gab einen sarkastisch klingenden Laut von sich. “Deine ganze falsche Aufrichtigkeit hat vielleicht die Polizei beeindruckt, aber mich täuschst du nicht. Ich weiß von der Hypothek, die Paul von Phil übernommen hatte. Und ich weiß von deinem Besuch in Pauls Haus am letzten Freitagabend.”

Es überraschte sie nicht, dass er so gut informiert war. Charles hatte überall seine Spione. “Dann müsstest du auch wissen, dass ich niemals ins Haus gegangen bin”, sagte sie und hielt seinem Blick stand.

“Ich weiß, du hast ihn gehasst.”

Aus gutem Grund, Charles. Sie behielt den Gedanken für sich. Auch jetzt, nach Pauls Tod, hatte sie nicht die Absicht, ihr Versprechen ihm gegenüber zu brechen. Sie wollte auch nicht Andrews Leben zu einem Scherbenhaufen machen, indem er erfahren musste, dass sein Vater sie geschlagen hatte. “Ich habe Paul nicht gehasst”, erwiderte sie auf seine Worte. “Und selbst wenn es so gewesen wäre, macht mich das nicht zur Mörderin.”

Die Hände auf dem Rücken verschränkt, sah sich Charles im Zimmer um und nickte von Zeit zu Zeit jemandem zu, den er kannte. Ohne sie anzublicken, sagte er: “Du würdest es ohnehin bald erfahren, also kann ich es dir auch schon jetzt sagen. Ich beabsichtige, das Sorgerecht für Andrew zu beantragen.”

Julia hatte das Gefühl, einen Volltreffer in den Magen erhalten zu haben. Sie umfasste den Rand eines kleinen Tischs, der neben ihr stand. “Das Sorgerecht beantragen?” wiederholte sie schwerfällig. “Du willst mir mein Kind wegnehmen? Hast du den Verstand verloren?”

“Alle sind der Ansicht, dass er bei mir besser aufgehoben ist.”

“Es kümmert mich nicht, was alle meinen.” Sie bemerkte, dass sich eine kleine Gruppe der Gäste umgedreht hatte und zu ihnen sah. Sie atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen, und als das Zittern verschwand, redete sie weiter, diesmal wieder viel ruhiger.

“Andrew ist mein Sohn, Charles, und nichts, was du besitzt – dein Geld, deine Macht, deine Verbindungen –, wird daran etwas ändern.”

In seinen kalten blauen Augen blitzte Feindseligkeit auf. “Und wer wird sich um ihn kümmern, wenn du im Gefängnis sitzt? Oder wenn du Konkurs anmelden und arbeiten gehen musst?”

“Ich werde nicht ins Gefängnis kommen”, sagte sie, während sie es zunehmend schwieriger fand, ihre Wut zu bändigen. “Und so sehr du dir das auch wünschen magst, mein Geschäft wird nicht in Konkurs gehen.”

“Bist du da so sicher?” Charles verzog seinen Mund zu einem dünnen, gehässigen Lächeln. “Du kennst vielleicht noch nicht Pauls Testament, aber die Hypothek, die er von der Monterey Bank übernommen hat, gehört nun mir. Und ich fürchte, dass ich nicht so entgegenkommend sein kann wie Phil, der die Bank in den Ruin gewirtschaftet hat. Oder wie Paul, der statt eines Gehirns nur Marshmallows im Kopf hatte. Ich werde darauf bestehen, dass du deine Hypothek so zurückzahlst, wie es vereinbart worden war, nämlich immer zum Ersten eines jeden Monats.”

Sie zuckte nicht mit der Wimper. “Du bekommst dein Geld schon.”

Seine Blicke durchbohrten sie, aber sie hielt ihm stand. “Wie denn? Ich habe mich über dich erkundigt. Diese neue Ferienanlage gleich nebenan bringt dich um. Ich glaube, dass du noch vor dem Ende des Sommers Konkurs anmeldest.”

“Darauf solltest du nicht bauen.” Sie stellte sich vor ihn. “Unterschätze mich nicht, Charles. Und unterschätze nicht, wozu ich in der Lage bin, wenn ich zu etwas getrieben werde.”

In seinen Augen brannte ein grausames Feuer. “Wozu du in der Lage bist, wenn du zu etwas getrieben wirst, weiß ich bereits, Julia. Ich muss es nur noch beweisen.”

Mit aller Willenskraft, die sie aufbringen konnte, verkniff sich Julia eine bissige Erwiderung. Dann, als sie wusste, dass sie es keine Sekunde länger in diesem Haus aushalten konnte, wandte sie sich ab und begann, nach Andrew zu suchen.

“Bist du sicher, dass es dir gut geht?” fragte Grace, als sie alle drei wieder in der “Hacienda” waren. “Seit wir von Charles abgefahren sind, hast du kaum ein Wort gesagt.”

Julia war zwar immer noch von ihrer Auseinandersetzung mit Charles angeschlagen, ließ es sich aber nicht anmerken. Das Letzte, was sie im Augenblick wollte, war, ihrer Mutter Sorgen zu bereiten. “Mir geht es gut, Mom. Es war einfach nur ein anstrengender Tag, weiter nichts.”

Sie half Andrew, sein Jackett auszuziehen, und fragte ihn: “Und was ist mir dir, Süßer? Hast du Hunger? Ich könnte dir ein Sandwich machen.”

Mit einer Hand, die eine Tonne zu wiegen schien, zog Andrew seine Krawatte aus und schüttelte den Kopf.

Besorgt kniete Julia vor ihm nieder und umfasste ihn auf Hüfthöhe. “Warum fragen wir nicht deinen Freund Jimmy, ob er herkommen will?” schlug sie vor. “Wenn du willst, kann er zum Essen bleiben. Ich habe mir gedacht, dass ich dir dein Lieblingsessen mache? Sloppy Joes und Pommes frites?”

Anstatt aber zustimmend zu lächeln, schüttelte Andrew nur wieder den Kopf. “Ich möchte in mein Zimmer gehen, bitte.” Seine großen Augen, die sonst vor Leben sprühten, wirkten matt und traurig. “Darf ich?”

“Ja, natürlich, mein Schatz.” Sie schob seine Strähne zurück und hielt ihre Hand dort. “Soll ich mitkommen?” fragte sie voller Hoffnung.

“Nein.”

Bestürzt sah sie ihm nach, während er im Flur verschwand. “O Mom”, sagte sie und warf ihrer Mutter einen hilflosen Blick zu. “Es hat ihn so verletzt.”

“Ich weiß, mein Baby.” Grace legte tröstend einen Arm um Julias Schultern. “Und ich weiß, dass du ihm helfen willst. Aber Kinder trauern auf ihre Art, und wenn er jetzt allein sein möchte, dann musst du das respektieren. Er wird es dich schon wissen lassen, wenn er dich braucht.”

Julia nickte. Ihre Mutter hatte Recht. Kinder brauchten ihren Freiraum ebenso wie Erwachsene, auch wenn sein Anblick ihr das Herz zerriss. In einer Stunde würde sie nach ihm sehen, vielleicht war er dann bereit, mit ihr zu reden.

“Ich mache dir einen Tee”, sagte ihre Mutter und war bereits am Herd aktiv. “Du siehst so aus, als könntest du einen gebrauchen. Du warst den ganzen Tag lang am Rande der Verzweiflung.”

Julia hätte fast gelacht. Du wärst auch am Rand der Verzweiflung, Mom, wenn dir jemand gedroht hätte, dir dein Geschäft und dein Kind wegzunehmen.

Sie hatte den Gedanken gerade zu Ende geführt, als das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer auf: “Hallo?”

“Mrs. Bradshaw?” Es war die Stimme einer jungen, zaghaften Frau.

“Ja, wer spricht da?”

“Sie kennen mich nicht, Mrs. Bradshaw. Mein Name ist Jennifer Seavers. Ich bin die Nichte von Eli Seavers.”

“Ich fürchte, der Name Eli Seavers sagt mir auch nichts.”

“Da war ich mir nicht sicher.” Es folgte eine kurze Pause. “Mein Onkel ist krank, Mrs. Bradshaw. Er leidet an Alzheimer und ist seit sechs Monaten in einem Pflegeheim untergebracht.”

Julia sah zu Grace, die sie beobachtete, und zuckte ahnungslos mit den Schultern. “Das tut mir Leid.”

“Ich rufe Sie an, weil sich mein Onkel heute im Fernsehen die Beerdigung ihres Exmannes angesehen hat. Als er den Namen Bradshaw hörte, konnte ich seinen Augen ansehen, dass der irgendeine Erinnerung in ihm geweckt hat. Das ist deswegen so ungewöhnlich, weil er seit Monaten niemanden mehr erkannt hat.”

“Kannte Ihr Onkel Paul?” fragte Julia.

“Ich weiß nicht. Aber er war sehr erregt, vor allem, als die Kamera über die Menge schwenkte und er Ihren Sohn sah. Daraufhin fing er an, immer wieder den Namen seines eigenen Sohnes zu sprechen: Joey.”

“Dann sollten Sie sich vielleicht mit seinem Sohn unterhalten”, schlug Julia vor.

“Mein Cousin starb, als er noch ein kleiner Junge war, Mrs. Bradshaw. Das war vor zweiunddreißig Jahren. Mein Onkel hat Joeys Namen nicht mehr erwähnt, seit er im Pine-Hill-Pflegeheim untergebracht worden ist. Und wie gesagt, er hat seit Monaten niemanden mehr erkannt, auch mich nicht. Aber heute hat der Name Bradshaw seine Erinnerung geweckt.”

Julia versteifte sich, ohne zu wissen, warum. “Geweckt? Was hat er gesagt?”

“Er hat nichts gesagt, er hat nur … reagiert.”

“Ich weiß ehrlich gesagt nicht so recht, warum sie mich anrufen, Miss Seavers.” Julia nickte ihrer Mutter ein Dankeschön zu, als die einen Becher Tee vor ihr abstellte. “Ich kann Ihnen da nicht helfen, und Ihrem Onkel auch nicht.”

“Ich denke schon”, sagte Jennifer überzeugt. “Das ist das ermutigendste Zeichen, das wir seit seiner Einweisung in das Pflegeheim erlebt haben. Ich dachte, wenn Sie … ich meine, ich hatte gehofft …” Sie gab einen erstickten Laut von sich und ließ den Satz unvollendet.

Jennifer tat ihr Leid. Sie schien sich wirklich um ihren Onkel zu sorgen, auch wenn Julia nicht sicher war, wie sie ihr helfen sollte. “Was hatten Sie gehofft?” fragte sie vorsichtig.

“Dass Sie nach Pine Hill kommen würden”, antwortete sie, nachdem sie sich geräuspert hatte. Sie sprach schnell, als würde sie befürchten, dass ihr Mut sie verlassen könnte. “Ich weiß, dass das heute kein guter Tag ist, um Sie darum zu bitten. Sie können mir glauben, Mrs. Bradshaw, dass ich das nicht machen würde, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass ein Besuch von Ihnen meinem Onkel irgendwie helfen könnte. Vielleicht würde Ihr Besuch ihn auch einfach nur beruhigen.” Hastig fügte sie hinzu: “Pine Hill liegt in Carmel Valley, eine halbe Autostunde von Monterey entfernt.”

“Ich schätze, dass ich ein paar Minuten Zeit finden könnte”, sagte Julia. “Aber nicht heute. Heute werde ich hier bei meinem Sohn gebraucht. Wäre morgen für Sie in Ordnung?”

“Das wäre wunderbar. Ich danke Ihnen, Mrs. Bradshaw.”

Julia nahm sich vom Tisch einen Zettel und einen Stift. “Gut, dann geben Sie mir die Adresse.”