8. KAPITEL
Briggs' ungeduldig erwarteter Anruf erfolgte gegen Mittag des nächsten Tages. McDermott, der trotz seines anfänglichen Optimismus nur ein paar Stunden geschlafen hatte, nahm den Hörer ab, bevor sein übereifriger Butler das für ihn erledigen konnte.
“Ja?”
“Ich habe Seavers überprüft.”
Die Stimme seines Verbündeten verriet ihm, dass er keine guten Neuigkeiten hatte. “Wer ist er?”
“Wir kannten ihn als J.C. Spivak.”
McDermott sog tief Luft ein und atmete langsam wieder aus. J.C. Spivak war ein selbsterklärter Söldner ohne besondere Verbundenheit für irgendein Land gewesen, der für sie als Chefunterhändler für Waffen aufgetreten war, ein Mann, der 1986 und 1987 im Alleingang einen immensen Waffenkauf zwischen Gleic Éire und Libyen abgeschlossen hatte.
Sie hatten über den Mann so gut wie nichts gewusst, außer dass er zuverlässig, als Waffenhändler und Bombenexperte höchst kompetent und nicht billig war. Zu der Zeit hatte das genügt.
Als sie ihn aber eines Tages wieder brauchten, hatte Spivak auf ihre Anrufe nicht reagiert. Nicht einmal Spencer Flynns hochsensibles Netzwerk aus Sicherheitsleuten hatte den Mann ausfindig machen können. Er war einfach verschwunden.
“Bist du sicher, dass er es ist?” fragte McDermott.
“Absolut. Ich habe die Patientenunterlagen im Pflegeheim überprüft. In Spivaks Akte gibt es ein Foto von 1986. Kein Zweifel, er ist unser Mann. Ein anderer Name, aber derselbe Mann.”
“Verdammt.” McDermott strich sich mit der Handfläche über seinen Bürstenschnitt. “Er weiß, wer ich bin und wo ich lebe.”
“Komm schon, Ian. Spivak oder Seavers, oder wie immer du ihn nennen willst, ist ein kranker Mann. Er kann sich ja nicht mal an seinen eigenen Namen erinnern.”
Aber er hatte sich an den Namen ihrer Gruppe erinnert.
McDermott starrte einen Moment lang in die Ferne und versuchte, ruhig und rational zu denken. Die gute Nachricht war, dass die Polizei nichts aus ihm hatte herausholen können. Die schlechte Nachricht war, dass sie es wahrscheinlich wieder versuchen würde.
Was für McDermott bedeutete, dass er schnell handeln musste.
“Tu mir einen Gefallen”, sagte er zu Briggs. “Überprüf die nächtlichen Abläufe im Pine-Hill-Pflegeheim und melde dich dann noch mal.”
Die Stimmen waren wieder zurückgekehrt. Sie kamen immer in der Nacht, wenn es ganz dunkel im Zimmer war. Oder wenn er alleine war.
Er konnte nicht sagen, wie viele es waren oder was sie ihm sagten. Aber er wusste, dass sie seinetwegen kamen. Das wusste er, weil er hörte, wie die marschierenden Schritte näher kamen und lauter wurden.
Eli lag in seinem Bett und zog das Laken bis zu seinem Kinn hoch, während er versuchte, sich zu erinnern. Aber an was? Sein Kopf fühlte sich an wie ein großer Ballon, der nicht aufhörte, auf dem Boden aufzuprallen. Er wusste nicht, was ihm mehr Angst machte – der aufprallende Ball oder die marschierenden Stiefel.
Plötzlich wurde die Tür zu seinem Zimmer langsam geöffnet, ein Lichtschein aus dem Flur fiel herein. Von diesem Licht eingerahmt stand ein Schatten da, der furchterregender war als alles, was Eli jemals gesehen hatte.
Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Herz hämmerte wie eine Trommel. Er hielt den Atem an und rutschte tiefer unter das Laken. Der Schatten schloss die Tür und kam langsam auf sein Bett zu.
Aus der Nähe betrachtet, verwandelte sich der Schatten zu einem Mann, einem lächelnden Mann, der das vertraute Weiß der Pfleger trug.
“Hallo, J.C.”, flüsterte der Mann ihm ins Ohr. “So heißt du doch, oder?” Er befreite das Laken aus Elis Griff und zog es fort. “Steh auf, J.C. Wir gehen ein wenig spazieren.”
Verwirrt und verängstigt, aber stets gehorsam, ließ Eli es zu, dass sein Besucher ihn aus dem Bett holte und mit ihm zum Fenster ging.
Der Fremde, der Handschuhe trug, öffnete den komplizierten Mechanismus, um dann Eli am Arm zu nehmen und ihn sanft weiterzuschieben. “Komm schon, J.C. Über die Fensterbank.” Die Stimme war sanft, fast melodisch. Eli hatte das Gefühl, dass er sie kennen sollte, aber er konnte sich nicht an den Grund dafür erinnern. “Erst das linke Bein, dann das rechte. Genau so. Gut gemacht, J.C.”
Der kalte Wind schmerzte in seinem Gesicht, und unter seinen bloßen Füßen fühlte sich das Gras feucht an. Während sie über den weiten Rasen eilten, begann Eli zu frieren, da er nur seinen Schlafanzug trug. Wohin ging er? Wer war dieser Mann?
Das Geräusch und der Geruch der Brandung kamen näher, und Momente später standen er und sein Begleiter am Rand der Klippe, einem Gebiet, von dem er vage wusste, dass es tabu war. Unter ihm tobte wütend die See und schlug hart gegen die Felsen. Er schloss seine Augen, als ein feiner Nebel ihm ins Gesicht schlug.
Der Mann ließ seinen Ellbogen los. Ohne diesen Halt wankte Eli vor und zurück, und für einen Augenblick dachte er, dass er umfallen würde.
Der Mann fing ihn auf. Und lächelte ihn an. “Wolltest du schon mal fliegen, J.C.?” fragte er. “So wie ein Vogel?”
Panik stieg in Eli auf. Er schüttelte den Kopf und überlegte wieder, was er machen sollte.
“Oh, komm schon, J.C. Du weißt nicht, wie viel Spaß das macht, wenn du es nicht mal versuchst.” Die Hand des Mannes ruhte auf Elis Rücken. “Du hast doch keine Angst, oder, J.C.? Du hast doch nie Angst gehabt. Vor nichts und niemandem. Aber ich schätze, dass du dich daran nicht mehr erinnerst.”
Das Marschieren hatte wieder eingesetzt, langsam und leise, aber es wurde immer lauter.
“Flieg, J.C.”, flüsterte der Mann. “Flieg.”
Eli spürte nicht, dass er gestoßen wurde. Mit einem Mal befand er sich nicht mehr auf der Klippe. Ein Windstoß erfasste ihn und trug ihn mit sich, mit ausgebreiteten Armen stieg er auf wie ein Vogel. Einen Moment lang fühlte er sich erheitert.
Eli hörte Gelächter, war sich aber nicht sicher, ob er lachte oder der Mann auf der Klippe.
Dieser wunderbare Moment der Euphorie war nur von kurzer Dauer. Ohne Vorwarnung stürzte Eli in die Dunkelheit unter ihm.
Obwohl Julia versucht hatte, ihre beiden Gäste von der Abreise abzuhalten, hatten sie auf das Frühstück verzichtet, ihre Rechnung bezahlt und exakt um Viertel nach neun die “Hacienda” verlassen. Zum ersten Mal seit der Eröffnung des Gasthauses vor neun Monaten hatte sie keinen Gast.
Der Gedanke erfüllte Julia mit erdrückender Verzweiflung. Am Anfang war das Gasthaus nichts weiter als ein Weg gewesen, um sie und Andrew zu ernähren, während sie etwas machte, das sie liebte. Jetzt aber war Charles' Drohung ihr noch so gut in Erinnerung, dass ihr nur zu klar war, wie leicht Erfolg oder Scheitern der “Hacienda” einen Richter in einem Sorgerechtsprozess beeinflussen konnte.
Sie ballte die Hände zu Fäusten und drückte sie gegen ihren Mund. Ich lasse es nicht so weit kommen, schwor sie sich stumm. Ich werde alles machen, was nötig ist, um die “Hacienda” am Laufen zu halten. Und der erste Punkt auf dieser Liste bestand darin, das Fenster reparieren zu lassen. Um den Rest würde sie sich später kümmern.
Was sie jedoch für eine leichte Aufgabe gehalten hatte, erwies sich nur als eine weitere Quelle der Frustration. Nachdem Larry Sims von der Eisenwarenhandlung sich ihr Anliegen angehört hatte, erklärte er, er sei schrecklich im Rückstand und könne die Arbeit nicht ausführen.
Wütend legte sie den Hörer auf. Etwas an der Art, wie er sich um ihre Fragen wand, ließ sie daran zweifeln, dass er wirklich so beschäftigt war. Wahrscheinlicher war es, dass er zu den vielen Leuten gehörte, die sie für Pauls Mörderin hielten und die auf diese Weise ihre Ablehnung zum Ausdruck brachten.
Sogar das weit verbreitete Monterey Journal, in dem sie eine Dauerwerbung geschaltet hatte, war heute ohne ihre Annonce erschienen.
“Ich bin sicher, dass da etwas schief gelaufen ist”, hatte der Anzeigenleiter gesagt, als sie sich bei ihm telefonisch beschwert hatte. “Wir werden dafür sorgen, dass die Anzeige in der Ausgabe der nächsten Woche steht. Kostenlos.”
Etwas schief gelaufen, von wegen. Sie waren alle fest entschlossen, sie in den Bankrott zu treiben. So oder so.
Bevor sie sich wieder ihrem Selbstmitleid widmen konnte, klingelte das Telefon. Ohne ihre schlechte Laune abschütteln zu können, nahm sie den Hörer auf und murmelte ein knappes Hallo.
“Julia, hier ist Jennifer Seavers.” Die junge Frau sprach mit bebender Stimme, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. “Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren … Mein Onkel ist tot.”
Julia war geschockt, als sie das hörte. “O Jennifer, nein. Was ist passiert?”
“Es war ein Unfall. Er ist in der Nacht aufgestanden und nach draußen gegangen. Er …” Ein Schluchzen unterbrach ihre Worte. “Er ist von der Klippe gestürzt. Sie haben seine Leiche heute Morgen gefunden, auf einem Felsvorsprung in fünfzehn Meter Tiefe.”
Julia setzte sich hin und war voller Mitgefühl für Jennifer, die ihren Onkel so sehr geliebt hatte, und auch für sich selbst. Was Eli gewusst haben mochte, welche Geheimnisse er in seinem verwirrten Verstand mit sich getragen hatte, sie waren mit ihm gestorben.
“Das Personal kann sich das nicht erklären”, fuhr Jennifer fort, während ihre Stimme fester wurde. “So etwas ist noch nie geschehen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, sind die Patienten in Pine Hill sehr passiv. Und sämtliche Fenster haben einen komplizierten Schließmechanismus, damit keiner von ihnen sie aus eigener Kraft öffnen kann.”
“Ihr Onkel ist tatsächlich durch das Fenster aus seinem Zimmer gelangt?”
“Sie haben das Fenster offen vorgefunden, darum kann man davon ausgehen, dass er herausgefunden hat, wie er es öffnen konnte. Es überrascht mich nicht. Er war schon immer sehr begabt, was mechanische Dinge angeht. Als ich klein war, habe ich ihm zugesehen, wie er Dinge auseinander genommen und wieder zusammengesetzt hat. Vielleicht war das etwas, was die Krankheit noch nicht völlig zerstört hatte.”
Ihre Stimme brach wieder ein. “Das ist alles meine Schuld. Hätte ich ihn nicht so sehr gedrängt, sich zu erinnern, dann wäre er auch nicht so rastlos gewesen.”
Diese Worte lösten auch bei Julia Schuldgefühle aus. Sie war genauso hartnäckig gewesen, genauso begierig zu erfahren, was Eli wusste. Und das aus dem einzigen Grund, um ihre Unschuld zu beweisen.
“Geben Sie nicht sich die Schuld, Jennifer”, sagte sie und wünschte, sie könnte ihren eigenen Ratschlag befolgen. “Sie haben nur versucht, ihm zu helfen.”
“Ich schätze, Sie haben Recht. Ich werde noch verrückt, wenn ich denke, dass ich irgendwie zu seinem Tod beigetragen haben könnte.”
Julia musste an etwas anderes denken. “Sind Sie sicher, dass er das Fenster geöffnet hatte?” fragte sie. Sie hasste es, in diesem Moment Jennifer Angst zu machen, doch wenn die Möglichkeit bestand, dass es ein Verbrechen war, dann musste Detective Hammond davon erfahren.
“Ich weiß nicht, worin ich mir noch sicher sein soll”, seufzte Jennifer. “Und der Arzt auch nicht. Darum hat er die Polizei von Carmel benachrichtigt.”
Julia bezweifelte, dass man irgendwelche verdächtigen Fingerabdrücke finden würde. Wenn es tatsächlich ein Verbrechen war, dann war derjenige, der Eli umgebracht hatte, sicher nicht so dumm gewesen, solche offensichtlichen Beweise zu hinterlassen. Der Verdacht war einfach zu nahe liegend. Das hatte Pauls Mörder schließlich auch nicht gemacht.
“Haben Sie schon Vorbereitungen für die Beerdigung getroffen?” fragte sie.
“Ja.” Jennifer hatte sich wieder gefasst. “Ich lasse ihn in L.A. beerdigen. Neben seiner Frau und seinem Sohn. Er hat in seinem Testament nichts zu seiner Beerdigung gesagt, aber ich glaube, er hätte es so gewollt.”
“Das glaube ich auch, Jennifer.” Der Gedanke, zur Beerdigung zu fahren, hielt sich nur einen Augenblick lang. L.A. war sechs Autostunden entfernt und würde eine Übernachtung erforderlich machen. Sie konnte Andrew unmöglich so lange allein lassen, wenn er gerade erst seinen Vater verloren hatte. Sie würde einen Blumenstrauß schicken oder der Alzheimer-Forschung etwas spenden.
“Geben Sie mir Bescheid, wenn ich irgendetwas für Sie tun kann”, sagte sie ruhig. “Sie haben ja meine Nummer.”
“Ja. Danke, Julia.”
Nachdem Julia aufgelegt hatte, wichen Trauer und Schuldgefühle neuen beunruhigenden Fragen. War Elis Tod wirklich ein Unfall gewesen, wie jeder zu glauben schien? Oder hatte man ihn zum Schweigen gebracht? Sie musste abwarten, bis Detective Hammond von der Polizei in Carmel einen Bericht über die Fingerabdrücke erhielt.
Ihr wurde bewusst, dass sie absolut nichts machen konnte, also nahm sie das Telefonbuch und suchte nach einem anderen Glaser.
“Verdammt, Garrett”, polterte Charles Bradshaw. “Erzähl mir nicht, dass du an das Märchen glaubst, Gleic Éire sei in den Mord an Paul verwickelt. So gerne ich die Bastarde finden würde, die meine Tochter auf dem Gewissen haben, glaube ich nicht eine Sekunde lang daran, dass eine irische Terroristenbande bis nach Monterey kommt, um Paul zu töten. Das ist nur ein Täuschungsmanöver von Julia, um den Verdacht von sich abzulenken.”
Charles, der vor dem Schreibtisch seines alten Freundes stand, wartete darauf, dass Garrett antwortete, was bei ihm wie üblich eine ganze Weile dauerte. Polizeichef Garrett Browning, ein schlaksiger Mann mit einer gelassenen Haltung, von der seine Leute sehr wohl wussten, dass sie sich von ihr nicht täuschen lassen durften, war ein guter Bulle, aber seine langsame Art konnte einen manchmal rasend machen. Das, so fand Charles, war ein solcher Moment.
“Dieses Märchen”, sagte Garrett, ohne auch nur eine Wimper zu rühren, “muss trotzdem untersucht werden. Vor allem, wenn Paul irgendetwas Wichtiges über die Gruppe herausgefunden hatte, das das FBI auf ihre Spur bringen könnte.”
“Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er es mir gesagt.”
“Nicht zwangsläufig. Paul war ein Showman. Er liebte es, zu überraschen und zu blenden. Und genau das hatte er mit dieser Pressekonferenz auch vor. Darum hat er so viel Theater darum gemacht.”
“Die Pressekonferenz hat nichts mit Pauls Tod zu tun”, sagte Charles verbohrt, während er wieder vor Garretts Schreibtisch auf und ab ging. “Julia hat meinen Sohn umgebracht. Du weißt das, ich weiß das. Warum zum Teufel verhaftest du sie nicht endlich?”
“Weil ich Beweise haben muss, Charles.”
“Du hast Beweise. Erstens”, sagte er und begann, an seinen Fingern abzuzählen, “hat sie Paul leidenschaftlich gehasst. Zweitens war sie zur Tatzeit am Tatort. Drittens weißt du, dass Paul gerade erst die Hypothek für die 'Hacienda' übernommen hatte, was sie nicht glücklich gemacht haben kann.” Er breitete die Arme aus. “Was zum Teufel willst du mehr?”
Garrett beugte sich vor, die schmalen langen Hände auf dem Tisch verschränkt. “Ein Augenzeuge wäre schön. Ein paar Fingerabdrücke. Oder die Mordwaffe.” Sein gelassener Blick ruhte auf Charles. “Aber niemand hat sie in Pauls Haus gehen sehen. Von den Fingerabdrücken, die das Laborteam gefunden hat, stammte keiner von Julia. Und was die Waffe angeht …” Er zuckte mit den Schultern. “Die ist nicht auffindbar.”
Garretts Logik ging Charles allmählich sehr auf die Nerven. “Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie sie ins Meer geworfen hat.”
“Oder ein anderer hat Paul getötet, jemand mit einem besseren Motiv. Wie zum Beispiel Vinnie Cardinale. Aus meiner Sicht ist er ein sehr wahrscheinlicher Verdächtiger, auch wenn er in der Woche in Sacramento war, um vor der Grand Jury zu erscheinen. Das Problem ist, wir können niemals beweisen, dass er oder einer seiner Handlanger den Mord begangen hat.”
Charles schüttelte den Kopf. “Cardinale hat das nicht gemacht. Der Mann ist vielleicht eine Schlange, aber er ist nicht dumm. Er hätte Paul nicht umgebracht, so kurz nachdem sein Antrag auf einen Nachtklub in der Cannery Row abgelehnt worden ist. Dann hätte er gleich ein Geständnis unterschreiben können.”
“Und du glaubst, dass Julia dumm genug wäre, Paul zu töten, nachdem sie gerade erfahren hat, dass er ihre Hypothek übernommen hat?”
Charles seufzte verärgert angesichts der Tatsache, dass es dem Chief völlig an Fantasie mangelte. Musste er denn anderen Leuten immer alles haarklein erklären? “Vielleicht wollte sie ihn nicht umbringen, Garrett”, sagte er geduldig. “Vielleicht ist sie zu ihm gegangen, um die Unterlagen über die Hypothek von ihm zu fordern. Und als er sie ihr nicht geben wollte, hat sie die Beherrschung verloren. Dazu ist nicht viel erforderlich, glaub mir. Das Mädchen war schon immer sehr aufbrausend.”
“Du willst mir also erzählen, dass Julia mitten in diesem Streit in Pauls Schlafzimmer geht, die Waffe aus dem Versteck holt, natürlich vorausgesetzt, dass er sie noch immer an derselben Stelle liegen hat, und sie dann zurückkommt und ihn erschießt?” Garretts Lächeln war ein wenig überheblich. “Komm schon, Charles. Sogar du musst doch zugeben, dass das ziemlich weit hergeholt ist.”
Garretts bewusst herablassender Tonfall machte ihn nur noch wütender. “Soll das heißen, dass du sie laufen lässt?”
“Das bedeutet, dass ich nichts überstürzen werde, bis ich etwas Konkreteres habe als deine wilden Vermutungen. Und wenn du dir nicht eine Klage einhandeln willst, dann solltest du aufhören, Julia des Mordes zu beschuldigen.”
Diese Bemerkung brachte das Fass zum Überlaufen, vielleicht, weil Charles' Anwalt sich über denselben Punkt Gedanken gemacht hatte. “Auf wessen Seite stehst du eigentlich?” murmelte er, fest entschlossen, das letzte Wort zu haben.
“Ich stehe auf der Seite des Gesetzes, Charles.”
Außerstande, noch etwas zu sagen, warf Charles die Hände in die Luft und stürmte aus dem Büro des Chiefs. Trottel, dachte er, während er durch den langen Flur eilte. Alle nur Trottel.
McDermott saß auf der Terrasse seiner Villa, zog an einer dünnen Zigarre und starrte in den wolkenlosen Morgenhimmel. Er war stolz auf sich. Von der Schrecksekunde abgesehen, als eine Schwester in den Vorratsraum kam, in dem er sich versteckt hatte, war sein kleiner Ausflug ins Pine-Hill-Pflegeheim problemlos verlaufen.
Und wie passend, dass sich dieser Zwischenfall ausgerechnet am Vorabend seines dreizehnten Jahrestags als Anführer von Gleic Éire abgespielt hatte.
Schon dreizehn Jahre. Er zog wieder an der Zigarre und blies den Rauch in die Luft. Viel war geschehen seit den Tagen, als er ein kleiner Junge in den Slums im Westen Belfasts gewesen war.
Ian McDermott, dem Sohn republikanischer Aktivisten, und seiner jüngeren Schwester Lizzy, waren seit ihrer Geburt Jahrhunderte des Hasses zwischen England und Irland eingehämmert worden. Aber erst als seine Eltern von britischen Truppen während einer von Ausschreitungen geprägten Demonstration getötet wurden, verstand der damals acht Jahre alte Ian, wie tief der Hass wirklich saß.
In seinem jungen Herzen kochte eine Wut, die er nicht unterdrücken konnte. Am Tag der Beerdigung seiner Eltern hatte er vor seinem Zuhause die irische Flagge gehisst, obwohl das illegal war. Als die Polizei die Flagge mit einer Spitzhacke herunterholte, rächte sich Ian, indem er die Männer mit Steinen bewarf, bis es erneut zu einer Straßenschlacht kam. Verletzt stürzte Ian auf den Fußweg, während Tränen des Schmerzes und der Frustration über seine Wangen liefen. In der Nacht im Krankenhaus legte er einen feierlichen Schwur ab: Eines Tages würde er den Tod seiner Eltern rächen.
Zu seinem Unglück hatte seine Großmutter andere Pläne. Da sie befürchtete, ihre beiden Enkel könnte das gleiche Schicksal ereilen wie ihren Sohn und ihre Schwiegertochter, beschloss sie, sie aus dem vom Krieg zerrissenen Land zu bringen.
Im Oktober 1950 wanderte der Rest der Familie der McDermotts mit der Hilfe eines entfernt Verwandten in die Vereinigten Staaten aus und ließ sich in San Francisco nieder.
Anfangs hasste Ian die USA. Er wollte zurück nach Irland, bei seinen Freunden sein und sein Versprechen einlösen. Doch mit der Zeit gewöhnte sich der rebellische Junge an sein neues Leben und wurde schließlich amerikanischer Staatsbürger, was seine Großmutter mit großem Aufheben feierte.
Weil ihn alles faszinierte, was mit dem Meer zu tun hatte, begann er schließlich, für einen Bootsbauer in Marin County zu arbeiten. Sein Chef, der kinderlose Syd Rupert, mochte den hart arbeitenden Jugendlichen auf Anhieb und brachte ihm alles bei, was man über das Geschäft des Bootsbauers wissen musste.
Kurz nach dem Tod seiner Großmutter im Jahr 1965 kehrte Ian für einen kurzen Aufenthalt nach Belfast zurück. Dort schloss er sich Gleic Éire an, einer kleinen, aber schlagkräftigen Gruppe, der zuvor schon seine Eltern und vor ihnen deren Eltern angehört hatten. Und er schwor Treue auf die gleiche verbotene Flagge, die die Briten siebzehn Jahre zuvor vom Haus seiner Eltern gerissen hatten.
Von dem Moment an ging jeder Dollar, den er von seinem Lohn erübrigen konnte, an die Gruppe.
Als Ian dreißig wurde, hatte sein Chef so großes Vertrauen in ihn entwickelt, dass er ihn zum vollwertigen Geschäftspartner machte. Als der alte Rupert 1981 starb, hinterließ er Ian die Werft und sein gesamtes Hab und Gut, das auf mehrere Millionen Dollar geschätzt wurde.
Das Erbe war für ihn wie ein Wink Gottes. Da er immer darauf aus gewesen war, eine aktivere Rolle in der Gruppe zu spielen, die er all die Jahre über finanziell unterstützt hatte, flog er nach Belfast und traf sich mit den Anführern von Gleic Éire. Die waren von Ians Zukunftsvisionen und seinem Geld sehr beeindruckt, hörten sich seine Pläne an und stimmten ihm zu, dass ein aggressiveres Vorgehen notwendig war, um schneller das gesetzte Ziel zu erreichen.
1985 war man so sehr von McDermotts Führungsqualitäten überzeugt und hielt sie genau für das, was die Gruppe benötigte, dass ein zwölfköpfiges Komitee ihn zum Präsidenten ernannte.
Eine der ersten Maßnahmen, die McDermott als der neue Anführer von Gleic Éire in Angriff nahm, war die Planung einer Reihe von mittelschweren Bombenanschlägen in London, um Downing Street in die Knie zu zwingen. Die Briten reagierten zwar aufgeregt und wütend, wichen aber nicht von ihrer Position ab.
Damit kam die Zeit, die nächste Stufe einzuleiten. Um sein hochgestecktes Ziel zu erreichen, benötigte Ian Hilfe. Er benötigte mächtige Männer, vermögende Männer, Männer, die den gleichen brennenden Wunsch verspürten, Irland von seinen Unterdrückern zu befreien und zu einem eigenständigen Staat zu machen.
Die Suche nach diesen Männern kostete ihn drei Jahre, in denen er vier außergewöhnliche, leidenschaftliche und zutiefst pflichtbewusste Personen aussuchte.
Da die Aktivitäten dieser fünf Partner in völliger Verschwiegenheit ausgeführt werden mussten, verkaufte Ian die Werft und erwarb das abgelegene Haus auf Point Cobra. Schon bald kannten die ihn umgebenden Gemeinden Ian als zurückgezogenen, aber großzügigen Mann, der Orchideen züchtete und jedes Jahr den Pfadfinderinnen Kekse gleich kartonweise abkaufte.
Nach fünf Jahren Terror in den Straßen von London mussten die Briten 1990 einräumen, dass Gleic Éire tatsächlich eine Streitmacht war, die man nicht ignorieren konnte und die man bei kommenden Friedensgesprächen mit an den Tisch würde holen müssen.
Doch im Gegensatz zu anderen Gruppierungen, die ein Friedensabkommen bevorzugten, weigerte sich Gleic Éire, sich mit den Briten an einen Tisch zu setzen und über etwas zu verhandeln, was ihnen aus ihrer Sicht ohnehin gehörte. Was die Gruppe wollte, formulierte Ian in einem Brief an die Herausgeber der London Times: den umgehenden und bedingungslosen Abzug der britischen Truppen aus Irland.
Rivalisierende republikanische Gruppierungen waren besorgt, dass die radikalen Ansichten von Gleic Éire den Friedensprozess stören könnten, und erklärten die Organisation zu einer Gruppe verantwortungsloser und rücksichtsloser Extremisten, denen Irland überhaupt nichts bedeutete. Diese Erklärung, die publik gemacht wurde, als sich Ian und seine vier Partner mit J.C. Spivak wegen eines möglichen Waffenhandels mit Libyen trafen, hatte McDermott amüsiert.
“Wir werden ja sehen, wer als Erster etwas erreicht”, hatte er zu seiner kleinen Gruppe gesagt.
Den ersten großen Anschlag, den J.C. arrangiert hatte, gab es in einem Londoner Restaurant, in dem drei Mitglieder des Parlaments zu Mittag aßen. Die kamen zwar verletzt mit dem Leben davon, doch die Explosion tötete elf Menschen, darunter zwei Amerikaner, und machte in aller Welt Schlagzeilen.
Die internationalen Medien waren außer sich gewesen und nannten den Anschlag eine “barbarische und feige Tat”.
McDermott nannte ihn gerecht.
Vor wenigen Wochen hatten McDermott und seine vier Partner die Planung für ihren bislang wagemutigsten Coup begonnen – einen Anschlag auf den Führer der Ulster Unionist Party. Patrick O'Donnell sympathisierte nicht nur massiv mit England, er hatte sich auch besonders geringschätzig über die Organisation Gleic Éire und die von ihr begangenen, so genannten “Grausamkeiten” geäußert.
O'Donnells Reise in die USA, deren Zweck es war, Unterstützung für das von seiner Partei vorgeschlagene Friedensabkommen zu bekommen, würde ihn in ein Hotel in Downtown Chicago führen. Dort würde O'Donnell auch seine viel diskutierte Pressekonferenz abhalten.
Als das Thema Sicherheit für O'Donnell und sein sechsköpfiges Gefolge zur Sprache kam, gab es nur wenig zu diskutieren. Diese Aufgabe sollte dem größten und angesehensten Unternehmen in den USA zufallen: Flynn International.
Nur Sekunden, nachdem er von dieser Entscheidung in Kenntnis gesetzt worden war, hatte ein ausgelassener Spencer Flynn bei McDermott angerufen, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen.
McDermott grinste, während er die Zigarre zwischen seine Zähne klemmte. Diese armen Schweine würden nie erfahren, was über sie gekommen war.