10. KAPITEL

Steve wusste, dass er im Umkreis von fünf Häuserblocks keinen Parkplatz finden würde, also wartete er, bis ein Lieferwagen aus der Lücke in der Calle Ocho abgefahren war, um dann seinen zehn Jahre alten Jaguar in der Lücke abzustellen.

Das Viertel Little Havana in Miami war eine Kombination aus Bildern, Geräuschen und Gerüchen, die es sonst auf der Welt nur in Havanna selbst gab. Aber erst während des hektischen Treibens am späten Nachmittag begann dieses kubanische Viertel richtig aufzublühen.

Mit den Händen in den Taschen ging Steve eine bevölkerte Hauptverkehrsstraße entlang und steuerte auf das Haus seiner Mutter in der 31st Street zu.

Er war gerade einmal zwei Jahre alt gewesen, als seine Eltern mit ihm aus Castros Kuba geflohen und nach Miami eingewandert waren. Alles, was er über Havanna wusste, war gleich hier, in der Luft, die voll war vom Aroma des Café Cubano, in den Geschäften, in denen man alles von religiösen Artefakten bis hin zu Cocofrio kaufen konnte, einer eiskalten Kokosnussmilch, die bei den Touristen sehr beliebt war, und im Domino Park, wo alte Männer in weißer Baumwollkleidung Domino spielten, während sie in Erinnerungen an ihre alte Heimat schwelgten.

Steves Großvater hatte davon gesprochen, eines Tages nach Kuba zurückzukehren, in ein freies Kuba, in dem Angst und Unterdrückung nicht länger existierten. Doch Steves Vater Luis Reyes hatte es besser gewusst. Nach dreißig Jahren ohne eine Veränderung in Castros Politik hatte Luis die Hoffnung aufgegeben, je wieder seine Heimat zu sehen.

Zu dieser Zeit hatte er begonnen, die Rettung seines jüngeren Bruders Ricardo zu planen, der idealistischer als Luis gewesen war und Kuba während Castros Machtübernahme nicht hatte verlassen wollen. Viele Jahre danach, als er erkennen musste, dass die Versprechen des Diktators niemals Wirklichkeit werden würden, war es zu spät.

Im Frühjahr 1989 war Luis, der eine kleine Charterfluglinie besaß, mit einer seiner Maschinen um Mitternacht abgeflogen. Während er so tief flog, dass Castros Radar ihn nicht erfassen konnte, steuerte er einen verlassenen Strand an der Nordküste Kubas an.

Die Mission nahm ein tragisches Ende. Luis' Maschine wurde von einer von Castros MIGs abgeschossen, und Ricardo war mit seiner Familie in Havanna geblieben, wo er weiter darauf wartete, dass der kubanische Diktator seine Einstellung zur Einwanderungspolitik änderte.

Steve verdrängte die unerfreulichen Erinnerungen und bog in südlicher Richtung in die 31st Street ein. Obststände und Zigarrengeschäfte hatten dort Platz gemacht für einfache, gepflegte kleine Häuser mit winzigen Gärten, in denen die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde. Als er an einem geöffneten Fenster vorbeiging, ließen ihn Salsa-Klänge lächeln, da sie einige lebhafte Erinnerungen aus seiner Zeit als Teenager weckten.

Das Haus seiner Mutter lag am Ende eines Blocks, ein kleiner Bungalow im Farbton eines Pfirsichs gestrichen. Die gelbe Schaukel, um die er und seine Schwester sich als Kinder immer gestritten hatten, war immer noch da, wurde aber nur benutzt, wenn Lenas Kinder von Coral Gables zu Besuch kamen.

Wie immer wartete seine Mutter bereits auf dem Fußweg auf ihn. Als sie ihn sah, lächelte sie. Sie war eine große, majestätische Frau mit dunklem Haar, das zu einem glatten Knoten zusammengebunden war, mit hohen Wangenknochen und einem langen, aristokratischen Hals.

“Du hast gerade Evita verpasst”, sagte sie und küsste ihn auf beide Wangen. Dann fügte sie listig an: “Sie sieht heute sehr hübsch aus.”

“Gut für Evita.” Er spürte, dass seine Mutter in der Stimmung war, ihn zu verkuppeln, und lenkte sie ab, indem er schnupperte. “Mmm, rieche ich da puerco asado?”

Anna Maria Reyes strahlte. “Würde ich irgendetwas anderes kochen, wenn du zu Besuch kommst?”

“Du verwöhnst mich, Mama.”

Sie öffnete das kleine weiße Gartentor und ging voraus. “Irgendjemand muss das ja machen.”

Diese Bemerkung war ihre alles andere als subtile Art, ihn daran zu erinnern, dass er mit achtunddreißig Jahren noch immer nicht verheiratet war. Dieser Zustand war für sie Anlass genug, ihn immer wieder mit einigen der begehrenswertesten, jungen Frauen von Little Havana bekannt zu machen. Evita war natürlich eine von ihnen.

Steve hatte es nicht eilig zu heiraten oder auch nur eine feste Beziehung einzugehen. Zwar hatte es nach Sheila andere Frauen gegeben, aber keine von ihnen hatte in ihm die Leidenschaft entfacht, die er für eine lebenslange Bindung für erforderlich hielt.

Arm in Arm gingen er und seine Mutter auf die mit Fliegengittern geschützte Veranda, wo ein Tisch hübsch gedeckt war. Zwei große Gläser mit eisgekühltem Kaffee, das Lieblingsgetränk der Reyes', wartete bereits auf ihn.

“Hier.” Anna Maria reichte ihrem Sohn eines der Gläser. “Wirst du mir verraten, warum du nicht wolltest, dass deine Schwester heute mit uns zusammen isst?”

“Weil ich dir etwas sagen muss …”

Sie warf ihm einen ironischen Blick zu. “Etwas, das sie nicht hören soll?”

Er lächelte. Seine Mutter hatte es schon immer verstanden, seine Gedanken zu erraten. “Etwas, das sie nicht von mir hören soll. Wenn sie es nämlich von mir hört, fängt sie wieder mit einer ihrer Predigten an, und ehrlich gesagt bin ich dafür nicht in der Stimmung.”

“Feigling.”

Steve lachte. “Wenn es um Lena geht, ja. Dieses Mädchen ist brutal.”

“Wenn Lena ihre Meinung sagt, dann nur, weil sie dich liebt und nur dein Bestes will.”

Das stimmte. Als Kinder waren er und seine jüngere Schwester unzertrennlich gewesen. Aber irgendwann war ein Augenblick gekommen, da war sie zu seiner großen Schwester geworden, die kostenlos Ratschläge erteilte und ihn wegen seines lässigen Lebensstils kritisierte. Als glückliche Hausfrau und Mutter von zwei ungestümen Jungs war sie außerdem der Ansicht, es sei an der Zeit, dass Steve die Vergangenheit hinter sich ließ und sein Leben wieder in den Griff bekam. So wie er Lena kannte, bedeutete das nichts anderes, als dass er heiraten und eine Familie gründen sollte.

“Was ist, Stefán?” fragte Anna Maria und sprach ihn mit seinem richtigen Namen an. “Was beschäftigt dich?”

Als er in Fort Lauderdale abgefahren war, hatte er kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, seiner Mutter nichts von seiner Entscheidung zu sagen, Gleic Éire aufzuspüren. Nicht nur, weil sie dagegen sein würde – er wusste, dass sie das sein würde –, sondern auch, weil sie sich um ihn sorgen würde.

Aber bei den Reyes' war es nie üblich, den anderen zu täuschen, und daran sollte sich auch jetzt nichts ändern.

“Tim Malloy war heute bei mir”, sagte er beiläufig. Als sich die Augenbrauen seiner Mutter ein wenig zusammenzogen, erklärte er ihr den Grund für Tims Besuch.

Besorgnis stand in Anna Marias dunklen Augen geschrieben. “Ich dachte, du hättest mit diesen Männern abgeschlossen.”

“Das habe ich auch gedacht.”

“Bist du sicher, dass sie in Kalifornien sind? Oder ist das wieder eine falsche Fährte?”

“Tim glaubt, dass sie dort sind.”

Anna Maria schüttelte missbilligend den Kopf. “Das ist so lange her, Stefán. Kannst du die Vergangenheit nicht ruhen lassen? Kannst du nicht dein eigenes Leben weiterleben und die Behörden ihre Arbeit machen lassen?”

Steve starrte in sein Glas Eiskaffee. Diese Frage hatte er sich Hunderte Male selbst gestellt, als er diese Bestien gejagt hatte. “Nein”, sagte er nur. “Ich kann es nicht.”

Der forschende Blick seiner Mutter blieb auf ihn gerichtet. “Liebst du Sheila immer noch? Machst du es deshalb?”

Er schüttelte den Kopf. “Nein, Sheila ist tot, und das habe ich akzeptiert. Was ich nicht akzeptiert habe, ist diese Tatsache, dass ihre Mörder davongekommen sind. Ich möchte sie für das zur Rechenschaft ziehen, was sie getan haben, Mama.”

Es war keine wirkliche Überraschung, dass Anna Maria nickte. Sie ist eine bemerkenswerte Frau, dachte Steve. Stolz, mitfühlend und genauso ein Verfechter der Gerechtigkeit wie er selbst.

“Ich denke, ich habe immer gewusst, dass du dich eines Tages wieder auf die Suche nach ihnen machen würdest”, sagte sie mit emotionsgeladener Stimme. “Jedes Mal, wenn ich den Namen Gleic Éire in Verbindung mit einem Bombenattentat höre, rechne ich mit deinem Anruf, weil ich denke, dass es jetzt so weit ist. Dass jetzt der Tag gekommen ist, an dem Stefán beschließt, sich wieder auf ihre Spur zu heften.”

Sie sah ihn eine Weile an, dann fügte sie hinzu: “Ich bin dagegen, das weißt du. Welche Mutter wäre das nicht? Aber ich verstehe, warum du gehen musst.” Mit ihren langen, schmalen Fingern berührte sie seine Wange. “Du bist deinem Vater so ähnlich – loyal, leidenschaftlich. Und du hast diesen verrückten Drang, dem Unrecht ein Ende zu setzen. So wie dein Vater.”

Steve stellte das leere Glas auf den Tisch. “Jetzt hörst du dich an wie Lena.”

“Ihr wird das nicht gefallen, das weißt du.”

Er lachte, erleichtert darüber, dass sie diese schwere Hürde überwunden hatten und immer noch lachen konnten. “Darum übertrage ich dir die aufregende Aufgabe, es ihr zu sagen. Nachdem ich abgereist bin.”

“Du passt auf dich auf”, sagte Anna Maria ernst.

“Das kann ich dir versprechen.”

Sie nickte kurz. “Gut, dann lass uns jetzt essen, bevor alles kalt ist.”

Augenblicke später genoss Steve den köstlichen Schweinebraten nach kubanischer Art, während er das Neueste aus der Nachbarschaft erfuhr, so wie jedes Mal, wenn er nach Miami kam.

Er holte das Beste aus seinem Besuch heraus, indem er einen Teil des Zauns reparierte, der vom Sturm umgerissen worden war, und er half ihr, den neuen Videorekorder zu programmieren. Da Lenas Kinder solche Videofanatiker waren, war Anna Maria nichts anderes übrig geblieben, als den Sprung ins 21. Jahrhundert zu machen und sich einen Rekorder anzuschaffen.

Gegen sieben Uhr war Steve satt und zufrieden darüber, dass er alles erledigt hatte, was es im Haus zu tun gab. Er versprach ihr noch einmal, dass er auf sich aufpassen werde, gab seiner Mutter einen Abschiedskuss und ging. Bevor er um die Ecke bog, blickte er noch einmal zurück und sah, dass seine Mutter auf dem Fußweg stand und ihm nachwinkte.

Steve winkte ebenfalls.

Es konnte eine ganze Weile dauern, ehe er wieder nach Hause zurückkehren würde.

Er stand am Heck der “Time Out”, die Ellbogen auf die Reling gestützt, während er zusah, wie die Dämmerung blaue Schatten warf.

Eine elegante Donzi mit einem Mann am Steuer bahnte sich langsam den Weg in Richtung Hafen. Neben ihm lachte ein kleines Mädchen glücklich, während der Wind sein Haar in alle Richtungen wirbelte. Das Kind war vielleicht sieben Jahre alt.

So alt wie Steves Kind jetzt auch wäre, wenn es eine Chance zum Leben gehabt hätte.

Die Erinnerungen, gegen die er so hart ankämpfte, stürmten auf ihn ein – Bilder von Sheilas glücklichem Lächeln, als sie ihm sagte, sie sei schwanger, als er sie hochhob und herumwirbelte, um sie dann rasch abzusetzen, weil er fürchtete, er könnte ihrem Baby etwas getan haben.

Sie hatte darüber gelacht, mit ihrem hellen, sprudelnden Lachen, das ihn immer mit Freude erfüllt hatte.

“Du hast ihm nicht wehgetan”, hatte sie gesagt und sein Gesicht zwischen ihre Hände genommen. “Ein Baby muss sich geliebt und gewollt fühlen. Das hast du ihm gerade gezeigt. Oder ihr”, hatte sie mit einem noch nie gesehenen Funkeln in den Augen verkündet.

Sie waren sich zum ersten Mal im Central Park begegnet, an einem strahlenden Nachmittag im April.

Sheila, die in Teilzeit als Schaufensterdekorateurin arbeitete, während sie Innenarchitektur an der New York University studierte, blätterte in einem Buch mit Stoffmustern, als er an ihr vorüberging, mit einem Beutel Sonnenblumenkerne in der Hand. Er war mit ihr über das Taubenfüttern ins Gespräch gekommen und hatte ihr erklärt, dass er als Reporter für die New York Sun arbeitete. Nach zehn Minuten war er von der lebhaften Kalifornierin völlig verzaubert gewesen.

Zwar hatte er von dem bekannten Exgouverneur Charles Bradshaw gehört, aber über seine Kinder wusste er nicht viel.

“Ich schätze, ich bin das schwarze Schaf der Familie”, gestand Sheila, als sie ihm die Bradshaws zu erklären versuchte. “Ich hasse Geld. Und ich verabscheue die Politik, die für meine Familie der Lebenssaft ist. Von all den hochkarätigen Karrieren, die sich mein Vater für mich ausgemalt hatte, entschied ich mich dafür, Innenarchitektin zu werden, was er für weit unter dem gesellschaftlichen Status der Bradshaws angesiedelt hält.”

Als Sheila drei Monate später verkündete, dass sie jemandem begegnet sei, den sie heiraten wollte, reagierte Charles exakt so, wie sie es vorhergesagt hatte. Er sagte seiner einundzwanzig Jahre alten Tochter, sie sei noch zu jung und solle derartige Entscheidungen nicht treffen, ohne zuerst nach Hause zu kommen und das mit ihm zu besprechen. Als sie nicht auf ihn hören wollte, legte er auf.

Und als Sheila Wochen später wieder anrief, um ihm zu sagen, dass sie schwanger war, lernte Steve eine Seite von Charles Bradshaw kennen, von der Sheila noch nichts gesagt hatte: seine Engstirnigkeit.

“Meine Tochter”, brüllte der Exgouverneur laut genug, dass Steve ihn quer durchs Zimmer hören konnte, “wird keinen unterprivilegierten Einwanderer heiraten und sein Kind zur Welt bringen, hast du mich verstanden? Ich bestehe darauf, dass du diese Beziehung sofort beendest und herkommst. Wir werden uns mit der Schwangerschaft befassen, sobald du zu Hause bist.”

Charles' Reaktion machte Steve wütend und war ein schwerer Schlag für Sheila, die ihren Vater trotz aller Meinungsverschiedenheiten sehr liebte. Sie war zu stur, um sofort aufzugeben, und rief nach einer Woche noch einmal an, da sie hoffte, dass er sich in der Zwischenzeit beruhigt hatte.

Diesmal war sie diejenige, die den Hörer aufknallte.

Ein paar Tage später änderte sich Steves perfektes Leben grundlegend. Auf dem Weg zur Arbeit ging Sheila am britischen Konsulat vorbei, als eine Bombe vor dem Gebäude explodierte und drei Menschen tötete, darunter Sheila.

Und ihr ungeborenes Kind.

Nach einer halben Stunde meldete sich eine irische militante Gruppe namens Gleic Éire und übernahm die Verantwortung für den Anschlag.

Steve raste vor Wut. Er schwor, Sheilas Tod zu rächen, und verbrachte den ganzen Tag im Archiv der Sun, um alles zusammenzutragen, was er über die gefürchtete Organisation und ihre Anführer finden konnte.

So wie viele andere terroristische Gruppen wollte auch Gleic Éire die Aufmerksamkeit der Medien auf sich lenken. Voller Wut auf eine Regierung, die ihnen ihr Land geraubt hatte, schrieb ihr Präsident – der nie mit seinem Namen unterzeichnete – lange und wortgewandte Briefe an die Verleger der London Times und der Irish Voice, in denen er forderte, dass sich die Briten aus Irland zurückzogen.

Von Zeit zu Zeit folgten den Forderungen Drohungen, und wenn diese Drohungen nicht ernst genommen wurden, schlug Gleic Éire zu. Ihre Ziele waren immer zentrale, stark frequentierte Gebiete, in denen es fast unmöglich war, sie zu entdecken. Der Anschlag auf das britische Konsulat in New York City war einer Aufforderung gefolgt, Großbritannien solle den Besuch des Premierministers in der Stadt absagen.

Als die Aufforderung ignoriert wurde, wurde die Drohung in die Tat umgesetzt.

Während seiner jahrelangen Suche nach Sheilas Mördern hatte Steve mit jedem gesprochen, der bereit war, auch nur ein Minimum an Information über die Gruppe zu geben – die örtliche Polizei, FBI-Agenten, Scotland Yard sowie eine Reihe von irischen Informanten, denen er bei seiner Suche begegnet war.

Die Suche hatte sich als ergebnislos entpuppt.

Zum Ende dieses Jahres hatte Steve erschöpft und enttäuscht die Suche aufgegeben, sein Apartment in Manhattan verkauft und war nach Florida gezogen.

Und jetzt war er bereit, es noch einmal zu versuchen. Würde er diesmal Erfolg haben? Oder würde er nur wieder einem Phantom nachjagen?

Er hörte, wie Delgado unter Deck die wenigen noch fehlenden Vorräte für die morgige Fahrt verstaute. Wie erwartet, war sein Freund davon begeistert, die Touren zu übernehmen. Auch wenn er neugierig war, hatte er doch Steves Privatsphäre respektiert und keine Fragen gestellt, nicht einmal, wann Steve zurückkehren würde.

Die hätte er ihm ohnehin nicht beantworten können.

Julia betätigte schwungvoll die letzte Taste und drehte sich zu Penny um, die ihr über die Schulter geschaut hatte. “Und? Du bist die Künstlerin, was meinst du?”

Penny nickte zustimmend. “Fantastisch”, sagte sie, während ihr Blick über den Flyer huschte. “Das ist kurz und knapp, es fällt ins Auge, und es kommt direkt auf den Punkt. Das hätte ich nicht besser machen können.”

“Nur … wird es mir Gäste einbringen?”

“Bergeweise, wenn du das an den richtigen Stellen verbreitest.”

“Ich möchte mich auf die Nachbargemeinden wie Pacific Grove, Pebble Beach und Carmel konzentrieren. Diese Städte sind nicht so in die Bradshaw-Historie verstrickt wie Monterey. Dadurch, dass ich einige Extras wie das Essen und die anschließende Diskussionsrunde dazugenommen habe, dürften die Kurse wohl außergewöhnlich genug sein, um die Leute anzusprechen.”

Penny machte eine ungeduldige Handbewegung. “Mach schon, druck es aus.”

Julia klickte auf das Druckersymbol, und Sekunden später gab der Laserdrucker ein cremefarbenes Blatt Papier aus. Penny nahm es und las laut vor: “Anmeldung für wöchentliche Gourmet-Kochkurse jetzt möglich. Lernen Sie in vier einfachen, praktischen Übungseinheiten köstliche Gerichte von Antipasti bis Desserts zuzubereiten. Ihre Lehrerin, eine Absolventin des French Culinary Institute, führt in angenehmer, ländlicher Atmosphäre durch die Kurse. Die Teilnahmegebühr von 300 Dollar umfasst den viertägigen Kurs, Abendessen im Haus und anschließende Diskussionen. Rufen Sie die 'Hacienda' an unter 555-3943.”

Penny legte den Flyer auf den Schreibtisch. “Die Leute werden vor der Tür Schlange stehen.”

“Das hoffe ich.” Mit neuer Hoffnung erfüllt, nahm Julia einen Stoß Papier, legte ihn ins Papierfach und befahl dem Drucker, diesmal hundert Exemplare zu drucken. “Von der einen Reservierung ab heute abgesehen, ist die 'Hacienda' leer. Und leer bedeutet keine Einnahmen. Also musste ich mir etwas ausdenken und ich halte diese Aktion für sehr lukrativ.”

“Hast du nicht gesagt, du wolltest deine Anzeigen in Travel & Leisure überarbeiten?”

Julia nickte. “Schon geschehen. Die neue Version sollte ab der nächsten Ausgabe erscheinen. Bis dahin”, fügte sie an und beobachtete die Flyer, die der Drucker auswarf, “sollte das hilfreich sein. Auch wenn ich die Kurse auf zwölf Teilnehmer beschränke, bringt mir das dreitausendsechshundert Dollar im Monat.”

“Wieviel ist das netto?”

“Etwa zweitausendachthundert. Das reicht auf jeden Fall, um Charles zu bezahlen und ihn ruhig zu stellen, wenigstens was die 'Hacienda' angeht.”

Pennys Miene verfinsterte sich. “Hast du die Sorgerechtsangelegenheit mit einem Anwalt besprochen?”

Das Wort Sorgerecht erfüllte sie immer mit Furcht. Julia rieb mit ihrer Hand behutsam über die Magengegend. “Ich habe meine ehemalige Mitbewohnerin vom College angerufen. Sie praktiziert Familienrecht. Vom Gesetz her hat Charles nicht das Recht, Andrew zu sich zu holen. Er hätte Schwierigkeiten, einen Richter davon zu überzeugen, ihm das Sorgerecht zu übertragen.”

“Du machst dir trotzdem Gedanken.”

“Wenn ein Mann mit so viel Macht eine solche Drohung ausspricht, dann mache ich mir Gedanken.” Sie sah wieder zum Drucker. “Darum mache ich das hier, Penny. Solange ich Gewinne erziele, kann Charles nicht Fuß fassen. Hoffe ich”, fügte sie mit einem skeptischen Schulterzucken an.

Als der Drucker den letzten Flyer ausgab, nahm Julia den Stoß und reichte ihn Penny. “Du kannst mir helfen, indem du die hier an deine Kunden verteilst. Nach dem zu urteilen, was du mir über sie erzählst”, sagte sie lächelnd, “könnten einige von ihnen noch das eine oder andere über das Kochen lernen.”

Als Julia von der Post zurückkam, wo sie ihre insgesamt fünftausend Flyer als Wurfsendung aufgegeben hatte, saß ein gepflegter und attraktiver Mann auf der Stufe und wartete offenbar auf sie.

“Mrs. Bradshaw?” Er lächelte sie freundlich an. “Mein Name ist Ron Kendricks. Ich arbeite für die Los Angeles News …”

Bevor er weiterreden konnte, schüttelte Julia den Kopf. “Ich habe der Presse nichts zu sagen, Mr. Kendricks.”

Ihr scharfer Ton schien ihn nicht zu beeindrucken. “Ich bin nicht hier, um Sie zu belästigen, Mrs. Bradshaw. Meiner Ansicht nach hat man das schon viel zu viel mit Ihnen gemacht.” Er schloss zu ihr auf und ging neben ihr, während sie auf die Vordertür zueilte. “Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, über den Sie nachdenken sollten.”

“Leben Sie wohl, Mr. Kendricks.”

“Sie verstehen nicht”, sagte er eindringlich. “Ich bin auf Ihrer Seite. Ich finde es abscheulich, wie die Stadt und vor allem Charles Bradshaw Sie behandeln.”

Julia blieb stehen. “Woher wollen Sie wissen, wie Charles Bradshaw mich behandelt?”

Er hob sein Kinn geringfügig höher, als hätte sie ihm gerade das größte Kompliment gemacht. “Ich war am Dienstag auf dem Friedhof. Ich habe gesehen, wie er und die anderen Trauergäste Sie angeschaut haben. Ich habe sogar einige Bemerkungen gehört, die über Sie gemacht wurden.”

“Sehr gut, Mr. Kendricks, Sie bekommen einen Bonuspunkt für Ihre scharfe Beobachtungsgabe. Das ändert nichts an meiner Einstellung zu einem Interview.”

Er versperrte ihr den Weg zur Tür, woraufhin sie ihm einen eisigen Blick zuwarf und darauf wartete, dass er zur Seite ging. Das geschah nicht.

“Ich möchte Ihre Geschichte erzählen, Mrs. Bradshaw”, sagte er mit der unerfreulichen Hartnäckigkeit, die für einen gewissen Schlag von Reportern typisch war. “Sie unterhalten sich mit mir, und ich werde dafür sorgen, dass Ihre Botschaft zu den Menschen gelangt. Ich stelle Sie als das Opfer dar, nicht als eine Verdächtige. Eine unschuldige, hart arbeitende Frau, die von einer ganzen Stadt ausgegrenzt wird und die versucht, sich gegen ihren reichen und mächtigen Exschwiegervater zu behaupten.”

Endlich kam Julia dahinter, was er haben wollte: eine schmutzige Story, die jeder Zeitung im Land beste Verkaufszahlen bescheren würde. “Welches Stück Dreck sind Sie …”

“Wir befassen uns mit allen Aspekten”, unterbrach Kendricks sie. “Vielleicht gibt es etwas in der Vergangenheit von Charles Bradshaw, das wir benutzen können, um ihn in Misskredit zu bringen. Oder in Pauls Vergangenheit. Und wir setzen auch Ihren Sohn ein. Wir zeigen seinen Kampf, wie er hin- und hergerissen ist zwischen seiner Liebe zu Ihnen und seiner Loyalität gegenüber seinem Großvater. Die Leser werden uns diese Geschichte aus den Fingern reißen. Da könnte sogar ein Buch folgen oder ein Filmvertrag. Ich habe Verbindungen nach Hollywood.”

Julia warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. “Sie sind so verabscheuenswürdig wie alle anderen Reporter, die versuchen, sich in dieses Haus einzuschleichen.” Sie spuckte ihm die Worte fast entgegen. “Wie können Sie es wagen, meinen Sohn in Ihre schäbigen Pläne hineinzuziehen und aus der Trauer eines unschuldigen Sechsjährigen Kapital zu schlagen?”

“Sie verstehen nicht …”

“Ich verstehe sehr gut. Und jetzt verschwinden Sie von hier.”

“Sie verzichten auf die Möglichkeit, ein paar Millionen Dollar zu verdienen?” Er lachte ungläubig auf. “Das meinen Sie doch nicht Ernst.”

Wütend darüber, dass er sie noch immer nicht weitergehen ließ, stieß Julia ihm dem Finger gegen die Brust. “Sie haben fünf Sekunden Zeit, um mir aus dem Weg zu gehen, und noch einmal fünf Sekunden, um meinen Grund und Boden zu verlassen. Wenn Sie das nicht machen, werden Sie merken, wie ernst ich das meine.”

Kendricks Lächeln nahm gehässige Züge an. “Dann werde ich wohl meine Geschichte ohne Sie schreiben müssen.”

“Wenn Sie das machen, sollten Sie darauf achten, dass Sie die Fakten überprüft haben. Wenn Sie nämlich auch nur ein Wort drucken, das nicht der Wahrheit entspricht, werde ich Sie und Ihren Verleger verklagen. Sie haben noch drei Sekunden.”

Sie sah seinem überheblichen Lächeln an, dass er schon früher bedroht worden war und trotzdem weiter über seinen Vorschlag geredet hatte. Er unternahm einen letzten Anlauf, griff in seine Hemdtasche und holte eine Visitenkarte heraus, die er auf die Steinbank legte.

“Ich wohne im Monterey Arms …”

“Eine Sekunde.”

Ihr Blick musste ihn schließlich davon überzeugt haben, dass er ihre Geduld überstrapaziert hatte, da er mit einem Mal den Rückzug antrat. “Rufen Sie mich an, wenn Sie Ihre Meinung ändern sollten.”

Nachdem er gegangen war, machte Julia die Tür hinter sich zu, lehnte sich dagegen und schloss die Augen. Es genügte nicht, dass die Stadt gegen sie war, jetzt wollte auch noch die Presse aus ihrer Pechsträhne eine Soap Opera machen.

Einen verrückten Augenblick lang dachte sie daran, sich an Charles zu wenden. Er hasste es, wenn der Name Bradshaw in den Schmutz gezogen wurde. Ein Wort aus seinem Mund, und Ron Kendricks würde in L.A. nur noch Nachrufe schreiben.

Andererseits war Charles immer noch ihr ärgster Feind. Die Drohung des Reporters und die Möglichkeit, dass er Andrew nachstellte, wären für Charles nur weitere Gründe gewesen zu glauben, dass sein Enkel bei ihm besser aufgehoben sei.

Wieder ergriff ein Gefühl völliger Hilflosigkeit von ihr Besitz. Was machte sie verkehrt? Warum tauchte sofort ein neues, unheilvolleres Problem auf, sobald ein anderes gelöst worden war?

Sie atmete mehrmals tief durch, dann öffnete sie wieder die Augen. Sie würde sich von Ungeziefer wie Ron Kendricks nicht in die Knie zwingen lassen. Und welcher Kampf auch immer am Horizont auf sie wartete – sie würde sich so wie immer stellen, nämlich ganz allein.