11. KAPITEL

“Was ist los, Schatz?” fragte Julia, als Andrew seine Makkaroni auf dem Teller hin- und herschob. “Hast du keinen Hunger?”

Mit gesenktem Blick schüttelte Andrew den Kopf.

Da sie spürte, was ihm im Magen lag, schob Julia ihren Stuhl zurück und klopfte auf ihre Knie. “Komm her zu mir.”

Er kletterte auf ihren Schoß, und als sie ihn in ihre Arme schloss, legte er seinen Kopf auf ihre Schulter.

“Bist du heute wieder traurig?” flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie fühlte, dass er nickte, und wünschte, sie könnte sich um diese Wunde genauso einfach kümmern wie um ein aufgescheuertes Knie. “Das ist schon in Ordnung, wenn du traurig bist, Andrew.”

Er sah auf, in seinen Augen standen Tränen. “Du warst doch auch traurig, als Onkel Jordan gestorben ist, oder, Mommy?”

“Das ist richtig. Aber nach einer Weile ging es mir wieder besser, und das hatte ich dir, Grandma, Tante Penny und Onkel Frank zu verdanken. Du wirst dich auch wieder besser fühlen, Andrew, das verspreche ich dir.”

Er zwinkerte, als versuche er, nicht zu weinen. “Aber … wenn …” Er biss sich auf die Lippe.

“Wenn was, Darling?”

“Wenn du auch stirbst?” fragte er mit bebender Stimme.

“O Andrew.” Das hatte sie nicht erwartet. Der Gedanke, dass er seit Tagen mit dieser Angst lebte und ihr nichts davon gesagt hatte, erschütterte sie. “Ich werde nicht sterben”, sagte sie und drückte ihn fest an sich. “Ich werde hier sein, hier bei dir.”

“Connie Monroes Mom ist letztes Jahr gestorben.” Da sein Mund gegen ihre Schulter gedrückt war, klang seine Stimme gedämpft.

“Connies Mutter war sehr krank”, erinnerte sie ihn. “Ich bin nicht krank, Baby. Ich bin sehr gesund und werde nicht sterben.”

Er legte seine Arme um ihren Hals. “Schwörst du das?”

Sie küsste ihn auf den Kopf. “Das schwöre ich dir. Ich werde immer für dich da sein, Andrew. Bis ich alt und faltig bin und so rede wie die alten Männer in Grandpas Club.”

Als er sich von ihr fortbewegte, waren seine Wangen von den Tränen feucht, die er so sehr hatte zurückhalten wollen. Aber gleichzeitig lächelte er, und dafür war Julia dankbar. “Wieder besser?” fragte sie.

Er nickte.

“Gut.” Die Makkaroni waren inzwischen kalt geworden, und sie fragte: “Wie wärs, wenn wir das Abendessen vergessen und runter zum Spielfeld der Little League fahren? Wenn wir uns beeilen, können wir noch die letzten Innings mitbekommen.”

Durch die Tränen hindurch strahlten sein Augen. “Okay.”

Sheila Fay Bradshaw

Geliebte Tochter und Schwester

1969-1990

Paul Maximilian Bradshaw

Geliebter Sohn

1958-1998

Weiße Blüten eines in der Nähe stehenden Mandelbaums lagen verstreut über dem marmornen Grabstein und verdeckten teilweise Sheilas Namen.

Steve, der vor dem Grab hockte, schob sie zusammen und legte das kleine Häufchen neben den Wildblumenstrauß, den er in der Friedhofsgärtnerei gekauft hatte.

Es war in acht Jahren sein zweiter Besuch an Sheilas Grab. Der erste Besuch am Tag der Beerdigung war ihm noch immer lebhaft in Erinnerung. Obwohl Charles ihm die Teilnahme an dem Trauergottesdienst nicht erlaubt hatte, war Steve dennoch hergekommen, wurde aber am Tor von zwei uniformierten Wachen aufgehalten. Während Charles dem Ganzen zusah, ließen sie ihn wissen, dass es sich um eine private Bestattung handele und er gehen solle.

Aus Respekt vor Sheila und in dem Wissen, dass es sinnlos war, Theater zu machen, hatte er dem Drang widerstanden, sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen. Stattdessen hatte er gewartet, bis der letzte Trauergast gegangen war, um dann zum Grab seiner Verlobten zu gehen und sich von ihr zu verabschieden, bevor er sich auf die Jagd nach ihren Mördern machte.

“Ich bin ihnen wieder auf der Spur, Sheila”, sagte er und sah sich um. “Hältst du mich für verrückt?”

Es war ein warmer Nachmittag im Juni, angenehm erfrischend nach der schweißtreibenden Hitze im Süden Floridas. Er lauschte dem Geräusch der Brandung und atmete tief die frische und klare Luft ein. Er verstand, warum Sheila diesen Teil von Kalifornien geliebt und weshalb sie sich so darauf gefreut hatte, mit ihm zusammen herzukommen.

Sein Blick wanderte über den gepflegten Friedhof, wo Dutzende von Grabsteinen standen. “Ziemlich edler Platz, den dein Vater für dich ausgesucht hat”, sagte er. “Überall nur Damen mit Doppelnamen. Und die Herrschaften haben alle ein III. oder IV. hinter dem Namen.”

Er fühlte sich erstaunlich ruhig. Die nagende Trauer und der blinde Zorn, den er kurz nach Sheilas Tod verspürt hatte, waren verschwunden, und er hatte sich wieder völlig unter Kontrolle. Vielleicht hatte Tim Recht. Nur halb bei Sinnen einem Verrückten zu folgen, war eine dumme Idee gewesen.

Diesmal würde es anders sein.

“Ich werde ihn kriegen, Sheila”, murmelte er und blinzelte in die Sonne, als er in die Ferne sah. “Und dann lasse ich ihn für das büßen, was er dir angetan hat. Und unserem Baby.”

Er blieb dort, bis ein Trauerzug den steilen asphaltierten Weg heraufkam.

Mit den Gedanken bereits bei der Aufgabe, die vor ihm lag, machte er sich auf den Weg zu dem grünen Landrover, den er am San Francisco International Airport gemietet hatte.

Steve lenkte den sportlichen Geländewagen durch den Verkehr von Monterey, bog in die Via del Rey ein und fuhr bergauf auf der Suche nach der “Hacienda”, während er die Schönheit der Stadt bewunderte.

Monterey hatte sich zu einem Mekka an Kultur und Tradition entwickelt und war einer der beliebtesten Urlaubsorte des Landes. Während er sich weiter in die Hügelregion bewegte, erkannte er auch den Grund. Von hier oben war der Blick auf die Halbinsel, die sich von der im Sonnenschein glitzernden Bucht bis zu den sie umgebenden Pinienwäldern erstreckte, einfach atemberaubend. Nicht einmal die dunklen, bedrohlich wirkenden Wolken, die vom Meer in Richtung Binnenland zogen, konnten diese Schönheit beeinträchtigen.

Die “Hacienda” war nur etwas mehr als einen Kilometer vom Zentrum der Aktivitäten auf der Cannery Row entfernt, lag zugleich aber abseits genug, um ihm das Gefühl zu geben, eine grüne ruhige Oase gefunden zu haben.

Am Ende des Kiesweges angekommen, stellte Steve den Landrover im Schatten einer riesigen Eiche ab und sah aus dem Fenster.

Mit ihren lila Bougainvilleen, die kaskadenartig vom zweiten Stockwerk herunterhingen, den Balkonen, dem blumenübersäten Hof und dem sprudelnden Brunnen erinnerte die “Hacienda” an eines der prächtigen Landhäuser, die bei den spanischen Edelleuten beliebt gewesen war, die einst über das Gebiet geherrscht hatten.

Die Fakten, die Tim über Julia Bradshaw zusammengetragen hatte, ergaben, dass sie neben dem Collegeabschluss im kaufmännischen Bereich ein Praktikum in einem großen Hotel in San Francisco gemacht hatte, wo sie an Marketingprogrammen mitgewirkt hatte.

Die Erfahrung hatte sich offenbar bezahlt gemacht. Die “Hacienda”, die auf einer zwei Hektar großen Klippe mit Blick auf den Pazifik gelegen war, stellte eine der attraktivsten Immobilien in der gesamten Gegend dar. Es war einfach nur Pech, dass eine luxuriöse Ferienanlage mit Tennisplätzen, einer Sauna und einem 4-Sterne-Restaurant kurz nach der “Hacienda” eröffnet und dem kleineren Gasthaus das Überleben schwer gemacht hatte.

Nach ein paar Minuten stieg er aus dem Landrover und ging zur Eingangstür. Er ignorierte den schmuckvollen Türklopfer in der Form von Stierhörnern und klingelte stattdessen.

Steves erster Gedanke, als er Julia Bradshaw vor sich sah, war, dass das Foto, das Tim ihm gegeben hatte, ihr nicht gerecht wurde.

Auf dem Schnappschuss hatte sie auf eine zurückhaltende Weise hübsch ausgesehen. In natura war ihre Schönheit dagegen nahezu atemberaubend. Er schätzte sie auf 1,65 Meter und nicht schwerer als 55 Kilo. Ihr Haar wies einen gedeckten Blondton auf und rahmte ihr Gesicht in einem Wust aus Locken und Strähnen ein. Ihre Lippen waren voll und sinnlich und konnten wahrscheinlich den stärksten Mann zu einem stammelnden Idioten machen. Ihre grünen Augen betrachteten ihn in dem Moment kühl.

Das strahlend gelbe Kleid, das sie trug, war Welten von dem seriösen dunklen Anzug auf dem Foto entfernt. Es betonte ihre schmalen Hüften und die vollen, festen Brüste und gab den Blick frei auf die schönsten Schultern, die er je gesehen hatte. Abgesehen von einer zweckmäßigen, preiswerten Uhr trug sie keinen Schmuck.

Einen Augenblick lang war sein Kopf wie benebelt.

“Kann ich Ihnen behilflich sein?” fragte sie.

Steve erkannte, dass er sie angestarrt hatte, gab sich einen geistigen Tritt und räusperte sich. “Mrs. Bradshaw?”

Ihr Ausdruck wurde noch kühler. “Sind Sie Reporter?”

“Ja, das stimmt. Mein Name …”

Die Tür fiel mit Schwung vor seiner Nase ins Schloss.

Irritiert stand Steve einen Moment lang da, sein Gesicht nur Zentimeter von dem bedrohlichen Türklopfer entfernt. Offenbar hatte die Frau eine ausgeprägte Antipathie gegen die Presse.

Das bedeutete, dass er einen anderen Weg gehen musste, um ihr ohne viele Worte sein Anliegen zu verstehen zu geben – und zwar rasch.

Wieder klopfte er.

Als Julia diesmal die Tür öffnete, hielt Steve ihr die Bestätigung für sein Zimmer vors Gesicht.

Sie warf einen Blick darauf, machte “Oh” und ging einen Schritt nach hinten. “Sie sind mein neuer Gast.”

Lächelnd breitete Steve seine Arme aus: “Unbewaffnet und ungefährlich, das versichere ich Ihnen.”

Sie wirkte nicht amüsiert. “Der Mann, der das Zimmer gebucht hat, hat nicht erwähnt, dass Sie Reporter sind.”

“Hätte er das machen sollen?”

Wieder sah sie ihn ausdruckslos an. “Normalerweise nicht, aber angesichts des Verhaltens Ihrer Kollegen wäre es mir lieber gewesen.”

“Hätten Sie mir ein Zimmer vermietet, wenn Sie es gewusst hätten?”

“Nein.”

Kein Lächeln, keine honigsüße Antwort, nur eine klare, tonlose Erwiderung, die keinen Zweifel daran ließ, was sie empfand. Das gefiel ihm, auch wenn mit jeder Sekunde die Chancen schlechter wurden, ein Zimmer in der “Hacienda” zu bekommen. “Es tut mir Leid, dass meine Kollegen Sie belästigen, Mrs. Bradshaw. Und es tut mir Leid, dass die Reservierung ein Missverständnis verursacht hat. Die Wahrheit ist, dass ich mit alledem nichts zu tun hatte.”

“Hören Sie, Mister …”

“Reyes.” Er machte einen Schritt nach vorn und reichte ihr die Hand. “Steve Reyes von der New York Sun.”

Nachdem sie ein paar Sekunden lang seine Hand angestarrt hatte, ergriff sie sie und ließ sie dann schnell wieder los.

“Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich übernachten lassen würden”, fügte er hinzu, bevor sie die Gelegenheit bekam, das auszusprechen, was ihr auf der Zunge lag. “Im Gegenzug verspreche ich, ganz leise zu sein, die Hausordnung zu beachten und mich auf jede nur denkbare Weise nützlich zu machen.”

Er zeigte ihr sein Lächeln, von dem er hoffte, dass es so freundlich war, wie er das meinte. “Nun, Mrs. Bradshaw? Haben wir eine Übereinkunft?”

Nachdem sie einen Moment lang über seine Frage nachgedacht hatte, schien sie einzulenken. “Wenn ich Sie hier übernachten lasse”, sagte sie vorsichtig, “dann bedeutet das, dass ich keine Interviews gebe. Alles, was Sie über den Mord an meinem Exmann wissen wollen, müssen Sie auf eigene Faust herausfinden.”

“Kein Problem.”

“Und mein Sohn ist für Sie auch tabu.”

“Selbstverständlich.”

Ihre Stimme war nach wie vor kühl und geschäftsmäßig. “Ich muss Ihr Wort darauf haben.”

Mit den Händen in den Taschen verbeugte sich Steve leicht. “Das haben Sie. Sonst noch etwas?”

“Im Augenblick nicht.” Schließlich machte sie die Tür ganz auf und trat zur Seite. “Warum kommen Sie nicht herein und tragen sich in unser Gästebuch ein?”

Er beugte sich über den kleinen Tisch und vermerkte Name und Adresse.

“Florida?” fragte sie und klang mit einem Mal misstrauisch. “Sie hatten doch eben gesagt, dass Sie für die New York Sun arbeiten.”

“Ich bin kein fester Mitarbeiter der Sun”, antwortete er, während er weiterschrieb. “Ich übernehme nur besondere Aufträge für sie. Von Florida aus.”

“Ich wusste nicht, dass der Tod eines örtlichen Politikers für eine Zeitung wie die New York Sun von Interesse ist.”

“Nun, es geht ja auch nicht mehr nur um den Tod eines örtlichen Politikers, Mrs. Bradshaw.” Er legte den Stift zur Seite. “Jetzt, wo Gleic Éire ins Spiel gekommen ist, hat der Mord an Ihrem Exmann eine neue Bedeutung erreicht. Ganz zu schweigen von Eli Seavers' rätselhaftem Tod …”

“Rätselhaft?” Sie versuchte, desinteressiert zu klingen, dennoch spürte er eine plötzliche Erregung. “Ich dachte, sein Tod war ein Unfall.”

“Für einen alten Hasen wie mich sind Unfälle dieser Art immer dubios, vor allem, weil Eli Ihnen gegenüber Gleic Éire erwähnt hatte und ein paar Tage später tot war.”

Sie betrachtete ihn lange, so als würde sie nicht ganz schlau aus ihm. “Für einen Neuen in der Gegend sind Sie aber sehr gut informiert.”

“Ein Reporter ist nur so gut wie seine Quellen, Mrs. Bradshaw. Meine Quellen sind zum Glück hervorragend.” Er sah sich um und rieb sich die Hände. “Und”, sagte er gut gelaunt, “wo ist meine Koje?”

“Das überlasse ich Ihnen. Da Sie der einzige Gast sind, können Sie sich eines der fünf Zimmer im zweiten Stock aussuchen. Ich bringe Ihnen die Schlüssel.”

Während sie in die große, sonnendurchflutete Küche ging, folgte Steve ihr und schnupperte kurz und intensiv. “Brownies?” fragte er. “Mit doppelter Portion Schokolade?”

Sie hob eine Augenbraue. “Sind Sie ein Experte für Brownies, Mr. Reyes?”

“Seit ich so klein war.” Er hielt eine Hand auf Kniehöhe. “Ich habe sie immer quer durch die ganze Stadt riechen können.” Wieder schnupperte er. “So gute habe ich schon seit Jahren nicht mehr gerochen.”

Diese Bemerkung brachte ihm ein Lächeln ein, ihr erstes, wie er feststellte. “Schmeichelei bringt Sie in diesem Haus nicht weiter”, sagte sie und ging an ihm vorbei. “Aber ich werde dran denken, für Sie ein paar zurückzulegen.”

Ihr Duft, den er für eine feine Mischung aus Jasmin und Geißblatt hielt, hüllte ihn wie eine verführerische Wolke ein. “Danke.”

Steve folgte ihr in einen großen, hohen Raum, dessen Decke mit Holzbalken verkleidet war, mit einem gemauerten Kamin und schweren spanischen Möbeln, die mit Firnis behandelt worden waren und matt glänzten. Feudale Sofas und Sessel in sattem bordeauxroten Samt waren zu kleinen Sitzgruppen zusammengestellt. Ein Bücherregal aus Eiche nahm eine ganze Wand in Anspruch und war mit alten und neuen Büchern randvoll gestellt. An einer anderen Wand erinnerten Landschaftsgemälde von Monterey an eine vergangene, ruhigere Zeit.

Der glänzende kleine Flügel war eine wirkliche Überraschung. Mit einem wertvollen alten Stoff behängt, auf dem wunderschöne Blumenarrangements angeordnet waren, stand er in einer Ecke direkt unter der breiten, gewundenen Treppe.

Steve blieb stehen, um ihn zu bewundern. “Spielen Sie?”

Sie hielt in der Bewegung inne, eine Hand auf dem Geländer. “Leider nicht. Das Instrument habe ich zusammen mit dem Haus gekauft. Eine Zeit lang habe ich mit dem Gedanken gespielt, es zu verkaufen. Aber in letzter Minute habe ich mich anders entschieden und es stimmen und neu lackieren lassen.”

Dann fügte sie an: “Übrigens … der Salon steht meinen Gästen zur Verfügung, Sie können also gerne jederzeit nach unten kommen. Dort drüben können Sie sich immer einen Kaffee oder einen Tee nehmen.” Sie zeigte auf einen Tisch am zur Bucht hin gelegenen Fenster, auf dem eine Kaffeemaschine und eine Auswahl verschiedener Sorten Kaffee und Tee säuberlich angeordnet waren. “In der Küche können Sie sich Wasser und Milch holen oder was Sie sonst noch haben möchten. Ach ja, diese Bücher dort dürfen gerne gelesen werden. Wir haben alles von Faulkner bis Clancy.”

Steve beobachtete sie, während sie sprach. Auch wenn sie sich bemühte, distanziert zu wirken, nahm sein geübtes Auge unter diesem Panzer etwas anderes wahr: Stolz. Und Leidenschaft. Er versuchte vergeblich sich vorzustellen, dass sie jemanden kaltblütig ermordete. “Danke”, sagte er auf ihre Einladung. “Ich werde sicher einen Blick riskieren.”

“Das Frühstück wird entweder im Salon serviert oder im Hof”, fuhr sie fort. “Sie können alles bekommen, was Sie haben möchten – Pfannkuchen, Eier, Cornflakes, Obst. Ich muss es nur am Abend zuvor wissen.”

Gemeinsam gingen sie nach oben. “Sie müssen sich keine Umstände machen”, sagte er. “Ich brauche nur einen starken schwarzen Kaffee.”

“Wie Sie möchten.”

Nachdem sie ihm die fünf Zimmer gezeigt hatte, die jeweils ein eigenes Flair ausstrahlten, entschied Steve sich für das, das einfach nur als der Grüne Raum bezeichnet wurde. Frei von jeglichen Kinkerlitzchen war er mit den gleichen schweren spanischen Möbeln eingerichtet, die er schon im Parterre bewundert hatte. Der vorherrschende Farbton war ein dunkles Grün, das ihn an seine Kabine an Bord der “Time Out” erinnerte.

Auf dem Weg nach unten fiel Steves Blick auf das notdürftig reparierte Fenster. Er wandte sich an Julia und fragte scherzend: “Ein wütender Vogel?”

“Vandalen.” Sie blieb am Fuß der Treppe stehen. “Ich habe Probleme, jemanden zu finden, der es repariert, daher werden Sie sich noch ein paar Tage mit meiner Heimarbeit abfinden müssen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.”

“Überhaupt nicht. Hat die Polizei die Täter schon gefasst?”

“Ich habe es nicht gemeldet.” Offensichtlich wollte sie nicht weiter über den Vorfall sprechen und reichte ihm stattdessen einen Bund mit großen, altmodischen Schlüsseln. “Dieser ist für die Tür im Parterre”, erklärte sie. “Der kleinere ist für Ihr Zimmer, wenn Sie das Gefühl haben, sich vor Mörderinnen schützen zu müssen.”

Als hätte sie gespürt, dass diese Bemerkung ihn völlig unerwartet getroffen hatte, lächelte sie ihn freundlich an: “Noch Fragen?”

“Nein, ich …”

“In dem Fall”, sprach sie weiter und schien seinen verwirrten Gesichtsausdruck zu genießen, “lasse ich Sie erst mal zur Ruhe kommen.” Sie nahm seine Hand und ließ die Schlüssel in seine Handfläche fallen. “Sagen Sie mir, wenn Sie irgendetwas brauchen.”

An der Spüle stehend, hatte Julia freie Sicht auf ihren Gast, der mehrere große Reisetaschen von der Ladefläche des Landrovers hob.

Sie hoffte, dass es kein Fehler gewesen war, ihn hier logieren zu lassen. Das Erlebnis mit Kendricks am Tag zuvor hätte eigentlich genügen sollen, um sie davon zu überzeugen, dass alle Reporter potenziell gefährlich waren, ganz egal, was sie von sich behaupteten. Oder wie charmant sie zu sein schienen.

Dieser Reporter dagegen wirkt irgendwie anders, dachte sie, während sie ihn beobachtete, wie er auf das Haus zuging. Er hatte etwas Harmloses und Ehrliches an sich, eine Art wie der nette Junge von nebenan, die sofort Vertrauen weckte.

Außerdem sah er gut aus, auf eine raue, natürliche Art. Sein dichtes schwarzes Haar war für ihren Geschmack etwas zu lang, aber der Rest – die strahlenden, dunklen Augen, die so aussahen, als ob ihnen nichts entging – hätte auch dem Geschmack der anspruchsvollsten Frauen entsprochen.

Irgendwo in ihrem Kopf schrillte eine Alarmglocke auf. So hatte sie auch für Paul empfunden. Er war auch charmant und schön anzusehen. Und er hatte in ihr auch dieses blinde Vertrauen geweckt.

Anders aber als bei Paul war an Steve Reyes' Einstellung keine Arroganz, keine Blasiertheit. Nur eine Selbstsicherheit, die zu locker war, um nicht echt zu sein.

Als er das Foyer betrat und mit seinem Gepäck gegen die Tür stieß, wandte sie sich schnell ab und erwischte sich dabei, dass sie lächelte.