14. KAPITEL
Julia stand wie erstarrt da. Während die Erkenntnis dämmerte, bohrte sich ein Schmerz durch ihre Brust, so schrecklich wie an jenem entsetzlichen Morgen vor dreiundzwanzig Jahren. Sie versuchte zu sprechen, musste aber feststellen, dass sie nicht ein einziges Wort herausbrachte. Hätte nicht gleich hinter ihr der Schreibtisch gestanden, nach dem sie blindlings tastete, wäre sie möglicherweise hingefallen.
“Mom, guck mal, wer hier ist!” Ohne etwas von dem Kampf zu merken, der in ihr tobte, sprang Andrew von seinem Stuhl. “Mein Großvater ist da!”
Zorn, der so bitter war, dass sie ihn förmlich schmecken konnte, holte sie aus ihrer Trance. “Was machst du hier?” fragte sie und erkannte fast ihre eigene Stimme nicht wieder.
Coop ging ein paar Schritte auf sie zu. “Ich wollte dich sehen, ich wollte wissen, wie …”
Während seine Stimme immer leiser wurde, starrte sie den Vater an, den sie einmal angebetet hatte, den Mann, den sie immer und immer wieder in Schutz genommen hatte, ihrem Bruder, ihren Klassenkameraden und sogar ihrer Mutter gegenüber. “Er kommt zurück”, hatte sie ihnen allen gesagt. “Du wirst es schon sehen.”
Sie hätte lügen müssen, wenn sie behaupten wollte, dass sie in all den Jahren niemals an ihn gedacht hatte. Im Jahr nach seinem Verschwinden hatte sie an ihn gedacht, wenn sie einschlief, und gleich wieder, wenn sie am nächsten Morgen aufwachte. Als sie an der High School ihren Abschluss gemacht hatte, war sie dummerweise von der Hoffnung erfüllt gewesen, er könnte plötzlich auftauchen und in diesem stolzen Augenblick bei ihr sein.
Sie hatte am Tag ihrer Hochzeit an ihn gedacht und als Andrew geboren wurde, und dann wieder, als ihr Bruder Jordan starb. Zu der Zeit war ihre Bewunderung aber längst einer tief sitzenden Ablehnung gewichen.
“Was willst du?” fragte sie und verkniff sich Tränen des Zorns. “Dass du einfach wieder in mein Leben platzen kannst, als wäre nie etwas geschehen? Als wärst du nur mal eben aus dem Haus gegangen, um die Zeitung zu holen?”
“Julia …”
“Hör auf.” Sie hob warnend eine Hand. “Ich will deine Lügen nicht hören. Du bist hier nicht willkommen, also geh.”
“Mom!”
Mit einem beklommenen Gefühl in der Magengegend sah Julia, wie Andrew Coops Hand nahm. In seinen Augen erkannte sie eine Mischung aus Entsetzen und Vorwürfen, während er sie ansah. “Er ist mein Großvater. Er ist von ganz weit hergekommen, um mich zu sehen. Ich will nicht, dass er geht.”
“Andrew, geh in dein Zimmer.” Sie wollte es nicht so grob klingen lassen, aber die Worte platzten einfach aus ihr heraus. “Bitte”, fügte sie leise an, als Andrew protestieren wollte.
Steve, der wortlos und aufmerksam alles mitverfolgt hatte, stand auf. “Komm schon, Kleiner”, sagte er und legte einen Arm um Andrews Schultern. “Warum lassen wir deine Mom und deinen Grandpa nicht eine Zeit lang allein? Vielleicht kannst du mir ja deinen tollen Roboter zeigen. Wie hieß er noch? Zokor?”
Schmollend ließ sich Andrew von Steve in sein Zimmer manövrieren.
Julia wartete, bis sie verschwunden waren und sie sicher sein konnte, dass Andrew nichts mitbekam, dann sagte sie knapp: “Draußen.”
Auf dem Hof zog bereits der nachmittägliche Nebel vom Ozean herüber und hüllte die “Hacienda” in einen feuchten Dunst, der Julia erschaudern ließ.
Sie wandte sich Coop zu und ließ ihrem Zorn so rasch freien Lauf, dass sie ihn nicht einmal hätte zurückhalten können, wenn sie es gewollt hätte. “Wie kannst du es wagen, hierher zu kommen?” herrschte sie ihn an. “Du dringst in mein Zuhause ein und platzt in das Leben meines Sohnes? Hast du nicht schon genug angerichtet? Musst du uns allen noch mal wehtun?”
“Ich möchte dir nicht wehtun, Julia.” Seine Stimme war der gleiche Bariton, den sie so gut in Erinnerung hatte. “Du hast mir so sehr gefehlt. Ich habe jeden Tag an euch drei gedacht und gebetet, dass es euch gut geht. Und ich habe mir gewünscht, dass alles anders sein könnte.”
“Es hätte alles anders sein können, wenn du dich nicht lieber besoffen hättest, anstatt bei uns zu sein.”
“Ich habe es versucht.”
Sie lachte trocken und sarkastisch. “Ach, erspar mir doch den Mist. Das habe ich alles schon mal gehört, weißt du noch? Ich war vielleicht noch klein, aber ich war weder taub noch blind noch dumm.”
“Es tut mir Leid.”
Sie legte ihre Arme um sich, um das Frösteln abzuschütteln, bezweifelte aber, dass sie damit auch gegen die Kälte in ihr selbst ankämpfen konnte. “Warum jetzt?” fragte sie und fühlte sich mit einem Mal todmüde. “Nach so langer Zeit?”
“Ich habe vom Tod deines Mannes gehört und dass die Polizei dich verhört hat. Ich habe dich und Andrew in den Nachrichten gesehen”, antwortete Coop, dessen Stimme fast versagte.
“Und?”
“Und da habe ich gedacht, wenn ich herkomme … vielleicht könnte ich dir irgendwie helfen.” Seine Augen flehten sie fast an. “Und ich wollte meinen Enkel sehen.”
Sie verarbeitete noch immer den Schock, ihm plötzlich gegenüber zu stehen, während sie heftig ausatmete. “Wie hast du mich gefunden?”
“Ich stehe in Kontakt mit einem alten Freund. Du kennst ihn – Spike Sorensen.”
Sie überlegte, ob Spike ihm etwas von Jordan gesagt hatte. Sie wollte ihm den Tod ihres Bruders ins Gesicht schleudern, sie wollte ihn so verletzen, wie er sie verletzt hatte. Aber sie bekam die Worte nicht über die Lippen. “Weiß Mom, dass du in der Stadt bist?”
“Nein, ich habe mich im Monterey Arms einquartiert und bin direkt hergekommen.”
Sie atmete tief durch und sah in den Nebel, während sie sich wünschte, darin verschwinden und so tun zu können, als wäre das alles nie geschehen. “Ich möchte, dass du gehst und nie wieder herkommst.”
“Julia …”
“Ich brauche deine Hilfe nicht. Niemand von uns braucht deine Hilfe.”
“Ich möchte meinen Enkel kennen lernen. Du kannst ihn mir doch nicht vorenthalten.”
“Vorenthalten?” wiederholte sie. “Und was ist mit allem, was du uns vorenthalten hast? Eine normale Kindheit ohne Angst und Peinlichkeiten. Gemeinsam gefeierte Geburtstage, Weihnachten, so wie andere Kinder auch, einen Vater, den man lieben und zu dem man aufblicken kann.”
“Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe.”
“Tatsächlich? Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie schwer es für Jordan und mich all die Jahre gewesen ist? Wir haben die Väter unserer Freunde gesehen und uns gefragt, wo unser Vater ist und ob er jemals wieder zurückkommen würde.”
“Ich kann es mir vorstellen.” Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. “Und ich weiß auch, dass ich viel von dir verlange, wenn ich dich um Vergebung bitte. Aber ich habe dir nie wehtun wollen. Das musst du mir glauben. Ich bin nur gegangen, weil ich wusste, dass ihr alle ohne mich besser dran sein würdet.”
Sie musste lachen. Und einen grässlichen Augenblick lang dachte sie, dass sie in Tränen ausbrechen müsste. “Willst du das damit rechtfertigen? Indem du dir einredest, du hättest uns einen Gefallen getan?”
“Anfangs vielleicht ja”, gab er zu. “Weil es alles viel einfacher machte. Aber jetzt weiß ich, dass es nicht stimmte. Was ich gemacht habe, war falsch, und ich hasse mich dafür, dass ich so schwach gewesen bin. Es ist für mich auch nicht leicht gewesen. Als ich dann das mit Jordan erfuhr …” Diesmal versagte seine Stimme, sein Gesicht war vom Schmerz gezeichnet.
“Das weißt du?” fragte Julia erstickt.
Coop nickte.
“Und nicht mal da konntest du zurückkommen? Zur Beerdigung deines eigenen Sohnes?” Ihre Stimme zitterte beleidigt und ungläubig. “Mein Gott, was für ein Ungeheuer bist du bloß.”
“Ich habe es versucht.” Er sah zur Seite. “Es … es hat einfach nicht geklappt.”
“Mit anderen Worten: Du warst zu betrunken.”
“Ja.” Er entgegnete ihren harten, erbarmungslosen Blick. “Aber diese Tage liegen hinter mir, Julia. Ich trinke nicht mehr. Und ich gehe jeden Tag zu den Anonymen Alkoholikern, egal, wo ich bin.”
“Das kommt dreiundzwanzig Jahre zu spät”, sagte sie und weigerte sich, auch nur eine Spur von Mitgefühl zu empfinden. “Wenn du erwartest, dass ich jetzt beeindruckt bin, dann vergeudest du deine Zeit. Ich möchte dich nicht hier haben”, fügte sie hinzu, als er sie weiter mit diesem bereuenden Gesichtsausdruck ansah. “Und ich möchte dich nicht in der Nähe meines Sohnes.”
Coop schossen Tränen in die Augen. “Das meinst du nicht ernst.”
“Doch, das meine ich ernst.” Sie spürte, dass in ihrer Kehle ein Schluchzer aufstieg, und eilte zurück zum Haus.
Steve konnte nicht gut mit weinenden Frauen umgehen. Meistens war ein Mann der Grund, dass sie weinten. Und da er selbst ein Mann war, hatte er immer das Gefühl, ein Teil des Problems zu sein.
Julias Tränen allerdings sprachen etwas in ihm an, von dem er geglaubt hatte, es könne ihn nie wieder berühren. Sie saß in einem der großen Sessel im Wohnbereich der Küche, den Kopf in ein Kissen vergraben. Ihr ersticktes Weinen erschütterte ihren ganzen Körper und ließ ihre Schultern zucken. Er verspürte den Wunsch, sie in seine Arme zu nehmen und zu wiegen, bis sie in den Schlaf sank.
Mit einem Gefühl der Hilflosigkeit schloss Steve die Tür, die die Küche vom Schlafzimmer trennte, und stand einfach nur da und sah sie an. Er beschloss, den Tränen ihren Lauf zu lassen. Diese Verzweiflung benötigte ein Ventil.
Erst als das Schluchzen leiser wurden, ging er hinüber zur Spüle, goss ein Glas Wasser ein und brachte es ihr. “Hier, Sie können es wahrscheinlich brauchen.”
Julia sah mit geröteten und verquollenen Augen auf. “Danke.” Sie nahm das Glas und trank einen Schluck. “Sie halten mich jetzt wahrscheinlich für einen schrecklichen Menschen.”
“Nein, das mache ich nicht. Außerdem möchte ich mich entschuldigen, wenn ich in irgendeiner Weise zu dem Problem zwischen Ihnen und Ihrem Vater beigetragen habe. Andrew und ich spielten immer noch Ball, als Coop eintraf und sich vorstellte. Ich habe ihn erst ins Haus gelassen, nachdem er mir seinen Ausweis gezeigt hatte. Er sagte, er sei einige Zeit fort gewesen, und meinte, es sei Zeit, seinen Enkel zu sehen.”
“Und Sie haben nicht gedacht, dass da irgendetwas nicht stimmen könnte?”
Ihre Stimme war vorwurfsvoll, aber Steve ignorierte das. “Es war nicht meine Sache, über ihn zu urteilen, Julia. Oder ihm zu verbieten, seinen Enkel zu sehen. Außerdem habe ich die beiden nie allein gelassen, ich war die ganze Zeit über bei ihnen.”
“Welche Lügen hat er Ihnen aufgetischt?” fragte sie sarkastisch.
“Er hat nur gesagt, dass er Fehler gemacht habe, die er wieder gutmachen wolle, wenn es dafür nicht zu spät ist. Andrew hat sich auf Anhieb mit ihm verstanden.”
“Das habe ich gesehen”, merkte sie verbittert an.
Eine Haarsträhne klebte an ihrer feuchten Wange. Er schob sie fort, bevor sie es selbst machen konnte. “Wollen Sie darüber reden?”
“Nein.” Sie trank einen Schluck Wasser. “Ja.”
Sie schwieg einige Augenblicke, dann kehrten Erinnerungen zurück, die sie in eine entlegene Ecke ihres Gedächtnisses verdrängt hatte. “Ich war elf Jahre alt, als er uns verließ”, begann sie mit immer noch bebender Stimme. “Im einen Moment war er da, im nächsten war er verschwunden. Ich war am Boden zerstört. Ich wusste nicht, wie ich damit zurechtkommen sollte. Meiner Mutter ging es nicht viel besser, und mein Bruder tobte eine ganze Woche lang.”
“Warum hat er Sie verlassen?”
Sie starrte auf das Glas in ihrer Hand. “Er trank. Sehr viel. Er ging wochenlang auf Sauftouren, er vergaß, nach Hause zu kommen. Ein paar Jahre zuvor hatte man ihn aus der Army geworfen, seitdem nahm er immer wieder irgendwelche Aushilfsjobs an, von denen er keinen sehr lange behielt. Ich schlief jeden Abend ein, während ich im Nebenzimmer meine Mutter weinen hörte. Und dann waren da die Streitereien, von denen wir nichts mitbekommen sollten, die Vorwürfe, das Schlagen von Türen, die Nachbarn, die einen Bogen um uns machten, und die Kinder, die uns hänselten.”
“Das tut mir Leid”, sagte er leise.
“Wir haben es überlebt. Es war nicht einfach, aber wir haben es geschafft. Nachdem er gegangen war, nahm meine Mutter eine zweite Arbeitsstelle an, damit das Geld reichte. Ich erinnere mich daran, dass sie abends nach Hause kam und so müde war, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Aber sie hatte immer Zeit für uns, sie hörte sich unsere Probleme an, sie tröstete uns. Wir fühlten uns nie von ihr vernachlässigt.”
Julia lachte. Es war ein trauriges, leises Lachen, das fast in ein Schluchzen überging. “Ich habe immer auf ihn gewartet. Jeden Abend nach dem Essen saß ich in meinem Zimmer am Fenster und wartete darauf, dass er mit seinem alten Chevy um die Ecke kam. Jedes Mal, wenn ich ein Scheinwerferpaar sah, machte mein Herz einen Satz, weil ich dachte, er würde endlich nach Hause kommen.”
“Und wo ist Ihr Bruder jetzt?”
Sie schloss die Augen und begann wieder zu weinen. “Er ist tot. Er war Detective in der Rauschgiftabteilung beim Monterey Police Department. Vor einem Jahr kam er bei einer Drogenrazzia ums Leben.”
Steve sagte nichts. In solchen Augenblicken reichten Worte einfach nicht aus.
Er sah, dass sie ihre Hände zu zierlichen Fäusten ballte. Einen Moment lang war das einzige Geräusch im Zimmer ein gelegentliches Schluchzen.
“Jordan hatte seiner Trauer auf andere Weise Ausdruck verliehen”, fuhr sie fort. “Nachdem er aufgehört hatte zu heulen, bekam er einen Wutanfall und zerstörte alles, was ihn an seinen Vater erinnerte. Jedes Spielzeug, das Coop ihm jemals geschenkt hatte, jedes Foto, jedes Stück Kleidung, das er zurückgelassen hatte. Wir konnten ihn nicht aufhalten.”
Sie sah Steve mit mattem Blick an. “Heute habe ich erfahren, dass Coop von Jordans Tod wusste und dass er zu betrunken war, um zur Beerdigung zu kommen.” Eine Träne lief ihr über die Wange, sie wischte sie wütend weg. “Können Sie sich das vorstellen? Er war zu betrunken, um zur Beerdigung seines Sohnes zu kommen.”
“Alkoholismus ist eine schreckliche Krankheit, Julia. Er kann aus den liebevollsten und zuverlässigsten Menschen …”
“Hören Sie auf, sich auf seine Seite zu stellen! Sie kennen ihn nicht. Und Sie wissen nicht, wie es für uns gewesen ist.” Sie drückte ihren Hinterkopf gegen das Polster und starrte an die Decke. “Ich habe ihn so sehr geliebt, aber er hat diese Liebe einfach weggeworfen.”
“Nein, das hat er nicht. Sonst wäre er nicht zurückgekommen und hätte sich Ihrem Zorn und Ihrer Ablehnung gestellt. Ich glaube, ich verstehe, was Sie durchgemacht haben”, sagte Steve. “Ich weiß, was es heißt, seinen Vater zu verlieren.”
Julia zwinkerte, um ihre Tränen zu unterdrücken. “Hat Ihr Vater Sie auch verlassen?”
“Nein. Er starb.”
“Oh.” Sie strich ihr Haar zurück. “Das tut mir Leid.”
“Ich ging zu der Zeit aufs College, meine Schwester war noch in der High School. Meinem Vater gehörte eine kleine Charterfluglinie in Miami. Er war außerdem Mitglied einer Organisation namens Brothers to the Rescue.”
“Davon habe ich gehört.” Mit einem Taschentuch tupfte sie die Tränen ab. “Sie fliegen Einsätze, um anderen Kubanern zu helfen, die ihr Land verlassen wollen.”
Steve starrte in die Ferne. “Das gehört mit zu den Dingen, die sie machen. Und mein Vater machte das sehr gut. Er ist Dutzende dieser Missionen geflogen, immer mit Erfolg. In einer Nacht stieg er auf mit Ziel Havanna, um meinen Onkel zu retten, der im Land geblieben war, als Castro an die Macht kam. Dad hatte alles geplant: die Route, die geringe Flughöhe, um nicht entdeckt zu werden, die Landebahn auf einem verlassenen Stück Strand, wo mein Onkel mit seiner Familie warten sollte.”
Julia vergaß für einen Moment ihren Schmerz und beugte sich vor. “Was ist geschehen?”
“Er unterschätzte Castros neue Technologie und die Möglichkeit, tief fliegende Maschinen zu entdecken. Zwei Meilen vor der kubanischen Küste wurde die Maschine meines Vaters abgeschossen. Die kubanische Luftwaffe machte sich nicht mal die Mühe, ihn zu warnen. Sie schickte keine Maschine, die meinen Vater zum nächsten Luftwaffenstützpunkt begleitet hätte. Sie eröffnete einfach das Feuer. Mein Vater hatte keine Chance. Sein Flugzeug explodierte und stürzte ins Meer. Nur ein paar Leichenteile wurden geborgen.”
“O Steve, das ist ja entsetzlich.” Julia legte eine Hand auf seinen Arm. “Für Sie und Ihre Familie.”
“Wir waren danach nie wieder eine richtige Familie. Wir drei stehen uns sehr nahe, und inzwischen hat meine Schwester Kinder, aber ohne meinen Vater ist es nicht mehr so wie früher.”
“Er starb für eine Sache, an die er geglaubt hat.”
“Ich weiß, aber ich habe mich mit ihm oft über diese Missionen gestritten. Ich habe ihm gesagt, sie seien zu gefährlich, dass er aufhören solle, dass er nach einer anderen Möglichkeit suchen solle, um diesen Menschen zu helfen. Er hat nur gelacht. 'Anders kann ich meinem Volk nicht helfen, hijo', hat er zu mir gesagt. 'Ich muss das einfach machen.' Danach habe ich nie wieder etwas gesagt, aber wir wussten beide, dass er mich nicht überzeugt hatte.”
Steve sah wieder zu ihr. “Ich beneide Sie, Julia. Ihr Vater ist hier. Ich hätte alles gegeben, um meinen Vater noch einmal zu sehen, um ihm sagen zu können, dass ich ihn geliebt habe, dass ich verstanden habe, warum er so handeln musste.”
Abrupt zog Julia ihre Hand zurück. “Ich hoffe nicht, dass Sie Ihren Vater mit meinem vergleichen wollen.”
“Nein. Was ich sagen will, ist, dass das Bedauern für etwas, das wir hätten machen können, aber nicht getan haben, oft mehr schmerzen kann als der Verlust selbst.”
Hinter sich hörte Steve, dass die Tür geöffnet wurde. Als er sich umdrehte, sah er Andrew in der Türöffnung stehen. “Wo ist Grandpa?” Seine Stimme war tonlos, sein Ausdruck kühl, während er sich umsah.
“Er ist gegangen …”, begann Julia.
Der Blick des Jungen erfasste sie. “Hast du ihm gesagt, dass er gehen soll?”
“Ich weiß, dass das für dich nur schwer zu verstehen ist, Andrew …” Sie wollte auf ihn zugehen, aber er machte einen Schritt nach hinten.
“Du hast es ihm gesagt, nicht?” schrie er. “Du hast ihn weggeschickt. Er ist so weit gefahren, weil er bei uns sein wollte. Und du hast ihn weggeschickt.”
“Andrew, du weißt überhaupt nichts über ihn.”
Tränen liefen Andrew über die Wangen, die Julias eigenen Schmerz noch stechender zu machen schienen. “Ich weiß, dass er böse Dinge gemacht hat. Aber er ist zurückgekommen. Er wollte sich entschuldigen.”
“Ich kann jetzt nicht darüber reden”, sagte Julia und sah so aus, als sei sie selbst ebenfalls wieder den Tränen nahe. “Warum gehst du dir nicht die Hände waschen? Das Abendessen …”
“Ich will kein Abendessen!”
Mit diesen Worten stampfte er aus dem Zimmer und warf die Küchentür hinter sich zu.