21. KAPITEL
Stimmen und Gelächter waren über den gesamten Hof zu hören. Lächelnd stieg Steve aus dem Landrover, ging den aus Ziegelsteinen gelegten Weg entlang und betrat die “Hacienda”.
Julia war Gastgeberin für sieben Frauen und zwei Männer, die um die Kochinsel versammelt standen. Um ihre schlanke Hüfte gebunden trug sie eine weiße Schürze mit der Karikatur eines angeheiterten Kochs auf dem Latz. Keine Bewegung war überflüssig, während sie die Zutaten klein hackte, in die Töpfe warf und sautierte.
Sie ist richtig in ihrem Element, dachte Steve, als er ihrem munteren Geplauder lauschte. Die Rezepte, die sie so präzise vorbereitet hatte, waren vergessen. Sie ging ihre Kochanleitungen durch und gab auf auftauchende Fragen kompetent und selbstsicher Antworten, die sie mit der genau richtigen Portion Humor würzte.
Leise machte er sich auf den Weg in sein Zimmer, obwohl ohnehin niemand auf ihn achtete.
Der Anruf von Monsieur Garnier kam am nächsten Morgen, als Steve in Julias Küche seinen ersten Kaffee des Tages trank.
“Es ist für dich, Monsieur Reyes.” Julia gab ihm schwungvoll den Hörer.
Die sanfte Stimme des Händlers klang höchst selbstzufrieden. “Ich habe die Information, um die Sie mich gebeten haben, Monsieur.”
“Ich höre.”
“Der fragliche Teller wurde am 3. August 1987 bei 'Malamoud Antiques' in Kairo gekauft.”
Steve sah Julia an, die aufmerksam zuhörte. “Sagten Sie Kairo? Kairo in Ägypten?”
“Das ist richtig.”
Steve atmete langsam aus. Seavers hatte also doch gelogen. Aber warum? Was hatte er in Ägypten gemacht? “Wissen Sie, wer den Teller gekauft hat?” fragte er.
“Nein, Monsieur, der Käufer hat bar bezahlt.”
“Danke, Monsieur Garnier. Ich komme in Kürze vorbei, um Sie für Ihre Bemühungen zu bezahlen und um den Teller abzuholen.”
“Das wäre sehr nett.”
Steve legte auf, dann rief er sofort Tim in New York an. “Durchsuch das Archiv der Sun”, sagte er, als der Verleger sich meldete. “Und sieh nach, ob es am oder um den 3. August 1987 irgendwelche terroristische Aktivitäten in England oder Irland gab.”
“Wieso? Was war am 3. August 1987?”
Steve erklärte es ihm, während Tim an seinem Computer Daten eingab. Julia stellte ihre Tasse Kaffee ab. “Eli hat den Teller in Kairo gekauft?” fragte sie.
Steve legte die Hand auf die Sprechmuschel. “Die Vergangenheit unseres harmlosen, kleinen Professors wird mit jedem Augenblick verdächtiger.”
“Was hat er in Kairo gemacht?”
“Ich weiß nicht. Auf jeden Fall wollte er nicht, dass es jemand herausfindet.”
“Steve?” Tim war wieder am Apparat.
Steve nahm die Hand weg. “Hast du was gefunden?”
“Es gab ein paar Bombenattentate in Frankreich und eines in Rom, aber die Schiiten hatten für alle die Verantwortung übernommen, nicht Gleic Éire. Ich habe aber noch etwas anderes gefunden. Das Datum passt nicht, es könnte jedoch eine Verbindung geben.”
“Und was ist das?”
“Am 13. September 1987 erhielt Scotland Yard einen Hinweis, dass eine große Schiffsladung Waffen nach Nordirland geliefert worden waren, vermutlich an Gleic Éire.”
Steve konnte hören, wie Tims Finger über die Tastatur flogen. “Ein paar Tage später”, fuhr der Verleger fort, “begann Gleic Éire eine Reihe von Anschlägen in Nordirland und England. Vom Zweiten Weltkrieg abgesehen, gilt dieser September 1987 als eine der blutigsten Phasen in England.”
“Ich kann mich erinnern. Es gab Gerüchte, dass ein Amerikaner mit Verbindungen in den Nahen Osten den Handel arrangiert hatte, aber es gab keinerlei Beweise.”
Tims Stimme war gepresst. “Denkst du, was ich denke?”
“Dass Seavers dieser Amerikaner gewesen sein könnte?”
“Er hatte den richtigen Hintergrund. Zwanzig Jahre in Beirut. Er beherrschte die Sprache fließend. Und er hatte viele libysche Freunde mit guten Verbindungen.” Wieder war zu hören, dass Tasten gedrückt wurden. “Es gibt nur ein Problem.”
“Das wäre?”
“Wie kann er in Ägypten gewesen sein, wenn der Pass, den das FBI gefunden hat, während seiner Zeit in Beirut nur Reisen von und nach Libyen aufweist?”
“Gefälschte Dokumente, mein lieber Watson. Wenn er ein Waffenhändler war, dann wusste er genau, an wen er sich dafür wenden musste.” Steves Herz schlug laut und schnell. “Vielleicht sollte ich mir sein Haus noch einmal ansehen.”
“Das wäre nicht schlecht”; sagte Tim. Steve hörte ein anderes Telefon klingeln. “Da kommt ein anderes Gespräch rein, halt mich auf dem Laufenden.”
Julia sah Steve an, als er auflegte. “Ein Waffenhändler? Dieser gebrechliche, hilflose alte Mann?” Sie schüttelte den Kopf. “Das kann ich nicht glauben.”
“Die Unauffälligsten sind oft diejenigen, die wir am wenigsten verdächtigen. Darum sind sie auch so erfolgreich.” Steves Nerven waren auf das Äußerste gespannt, während er hin und her lief und im Geist noch einmal alles durchging, was er in Elis Haus gemacht hatte, die Stellen, an denen er so gründlich gesucht hatte, sowohl im Haus als auch im Schuppen. Siebzehn Jahre im Leben dieses Mannes waren irgendwo versteckt, und er hatte nichts gefunden.
“Was kann ich bloß übersehen haben?” fragte er sich und überlegte, ob er stärker aus der Übung gekommen war, als er es für möglich gehalten hatte. “Ich dachte, ich hätte alles durchsucht.”
“Hast du einen Schlüssel herumliegen sehen?” fragte Julia. “Vielleicht hatte er irgendwo ein Schließfach.”
“Es gab ein Schließfach, aber da hat das FBI nur eine Kopie seines Testaments gefunden. Und in dem vermacht er alles, was er besitzt, seiner Nichte.”
“Vielleicht bei einer anderen Bank? Einer, von der wir nichts wissen?”
Steve schüttelte den Kopf. “Das haben sie auch schon überprüft. Er hatte nur eine Bank, ein Konto, keine Ersparnisse.”
“Hatte er einen Speicher?”
Wieder schüttelte er den Kopf. “Keinen Speicher, keinen Keller, keine Garage. Nur das kleine Haus und einen Schuppen voller Gartengeräte und Pflanzenschutzmittel.”
“Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll”, meinte Julia mit einem enttäuschten Seufzer. “Mrs. Hathaway scheint ihn besser gekannt zu haben als sonst jemand. Was hat sie dir über ihn erzählt? Vielleicht hat sie irgendeinen Hinweis gegeben, der dir nur nicht aufgefallen ist. Was hat Eli gerne gemacht?”
“Nicht viel. Sie sagte, er habe viel in seinem Garten gearbeitet. Der schien das Einzige zu sein, was ihm wirklich Vergnügen bereitet hat …”
Er hielt inne und wirbelte herum. “Das ist es! Der Garten!” Er schlug auf den Küchentresen. “Warum habe ich nicht daran gedacht? Wie dumm von mir!” Er nahm Julias Gesicht in seine Hände und gab ihr einen Kuss auf den Mund. “Du bist ein Genie, danke!”
Sie lachte. “Ich habe gar nichts gemacht.”
Aber er war schon aus dem Zimmer geeilt.
Diesmal rief Briggs aus Monterey an, wo er persönlich beim täglichen Pressegespräch der Polizei anwesend gewesen war. “Ich fürchte, es gibt noch mehr schlechte Nachrichten”, sagte er am Telefon zu McDermott.
Der atmete laut aus. “Du langweilst mich allmählich, Aaron. Was ist es diesmal?”
“Steve Reyes ist hier in der Stadt. Und er wohnt oben in der 'Hacienda'.”
Als er den Namen des Mannes hörte, der ihm acht Jahre zuvor so hartnäckig auf den Fersen gewesen war, versteifte sich McDermott. “Du hast ihn gesehen?”
“Ja, er war bei dem Gespräch.”
“Er ist schon die ganze Zeit in der Stadt”, brüllte McDermott, “und das erfahre ich erst jetzt?”
“Er ist nicht die ganze Zeit hier gewesen”, erwiderte Briggs gereizt. “Er ist vor einer Woche eingetroffen. Und ich habe das gerade eben erst erfahren.”
Vor einer Woche. McDermott rechnete schnell nach. Das war in etwa kurz nach Julia Bradshaws Besuch im Pine-Hill-Pflegeheim. “Wenn er so spät eingetroffen ist”, sagte er zu Briggs, “dann kann das nur eines bedeuten: Er ist nicht nach Monterey gekommen, um sich mit dem Mord an Paul Bradshaw zu befassen. Er ist unseretwegen hier.”
“So weit bin ich auch schon gekommen. Was machen wir mit ihm?”
McDermott ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. Steve Reyes hatte sich als exzellenter Gegner erwiesen. Er war aufgeweckt, erfinderisch und erbarmungslos, was ihm wenigstens für einen gewisse Zeit das Durchhaltevermögen eines jungen Stiers verliehen hatte.
Als McDermott erfahren hatte, dass Reyes die Jagd aufgegeben und die New York Sun verlassen hatte, war er erleichtert und enttäuscht zugleich gewesen. Nicht jeden Tag begegnete er einem Mann, der es in puncto Intelligenz und Ausdauer mit ihm aufnehmen konnte. Eine Zeit lang hatte er sich versucht gefühlt, dem Reporter einen Knochen zuzuwerfen, einen winzigen Hinweis, der nur dem Zweck gedient hätte, dass er die Verfolgung nicht aufgab.
Die anderen hatten ihn überstimmt.
Und jetzt war Reyes wieder da. Wie aufregend. Wie unglaublich aufregend.
“Ian”, sagte Briggs ungeduldig. “Hast du mich gehört? Was sollen wir mit Reyes machen?”
“Nichts.” Vielleicht würde der fantasievolle Reporter nahe genug an ihn herankommen, damit er mit ihm um der alten Zeiten willen ein harmloses kleines Katz-und-Maus-Spiel treiben konnte.
“Was soll das heißen, dass wir nichts machen? Hast du mich nicht gehört? Er wohnt in der 'Hacienda'. Wie können wir einen von Flynns Leuten nach dem Band suchen lassen, wenn Reyes dort ist?”
Von der Haustür her waren Stimmen zu hören. McDermott lächelte. “Wir müssen keinen von Flynns Leuten schicken, Aaron. Ich habe jemanden, der besser ist.”
“Wovon redest du? Wer …” McDermott hörte Briggs am anderen Ende der Leitung aufstöhnen. “O nein, du hast doch nicht etwa Ben geholt? Ohne dich mit uns zu beraten?”
“Was hast du gegen meinen Neffen?”
“Der Junge ist unreif, impulsiv und unberechenbar. Reicht das für den Anfang?”
“Er hat sich geändert, Aaron. Und was noch wichtiger ist, der Job liegt genau auf seiner Linie.”
“Das ist mir egal. Wir waren uns einig, dass einer von Flynns Leuten das erledigt.”
McDermott schüttelte den Kopf. “Zu riskant. Wir brauchen jemanden, dem wir bedingungslos vertrauen können.”
“Flynn nimmt nur Leute, denen er vertrauen kann.”
“Aber es sind trotzdem Fremde, Aaron. Sie könnten auspacken.”
“Wissen die anderen, dass du Ben geholt hast?”
“Ich wollte erst mit ihm reden, bevor ich die anderen anrufe. Mach dir keine Sorgen”, fügte er an. “Wenn ich das Gefühl habe, dass er noch nicht bereit ist, werde ich ihn nicht losschicken.”
McDermott beendete gerade das Telefonat, als sein Neffe ins Zimmer kam, einen Matchbeutel über die Schulter geworfen und ein großspuriges Lächeln auf den Lippen. Mit sechsundzwanzig Jahren war Ben Rosenthal über 1,80 Meter groß und stark wie ein Bulle. Als Kontrast zu seiner beeindruckenden Statur hatte er sein feines blondes Haar fast so geschnitten wie McDermott, blaue Augen, die so unschuldig blickten wie die eines Neugeborenen, und ein Lächeln, dem kaum eine Frau widerstehen konnte.
McDermott hatte sich vor zwölf Jahren des Jungen angenommen, der das einzige Kind seiner Schwester Lizzy war, die mit ihrem Ehemann bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Er war auf die Vaterrolle nicht vorbereitet, und auch nicht auf den großmäuligen und zu Nervenkitzel bereiten Vierzehnjährigen, dessen bevorzugtes Hobby darin bestand, in Einkaufszentren herumzuhängen und nichtsahnende Käufer zu berauben.
Da er befürchtete, der Junge könne sich als Hindernis erweisen, hatte McDermott ihn auf ein Internat geschickt, sodass er nur an den Feiertagen und in den Sommerferien nach Hause kam. Im Laufe der Jahre hatte sich die rebellische Einstellung des Jungen deutlich verbessert, seine Vorliebe zum Stehlen dagegen nicht.
Ben hatte gerade die High School abgeschlossen, als er die Unterhaltungen seines Onkels belauscht hatte und dahinter gekommen war, dass er und seine vier reichen Freunde Mitglied von Gleic Éire waren. Zu McDermotts Überraschung wusste der Junge einiges über den Unabhängigkeitskampf des irischen Volks und sympathisierte mit ihrer Sache.
“Mom hasste die Briten für das, was sie deinen Eltern angetan haben”, hatte er McDermott gesagt. “Ich hasse sie auch, Onkel Ian. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.”
Ben hatte sein Wort gehalten. Kurz nach dieser Unterhaltung hatte er sich als Rucksacktourist auf den Weg nach Europa gemacht. Dort hatte er sein gutes Aussehen und sein Talent als Hochstapler genutzt, um reiche, einsame Frauen zu verführen und ihnen ihren Schmuck zu stehlen, wenn sie schliefen.
Die europäischen Medien hatten ihm den Spitznamen Gentleman-Dieb gegeben, wegen seines Markenzeichens: einer roten Rose, die er immer auf dem Kopfkissen der Frau hinterließ, die er gerade ausgeraubt hatte.
Als McDermott während eines kurzen Besuchs zu Hause von ihm wissen wollte, warum er solche Risiken einging, wenn seine Eltern ihm doch so viel Geld hinterlassen hatten, lautete die Antwort des unerschrockenen Jungen: “Natürlich wegen des Nervenkitzels, Onkel Ian. Weswegen sonst?”
Von einer brenzligen Situation vor ein paar Jahren wegen einer Rubinhalskette abgesehen, die einer saudi-arabischen Prinzessin gehörte, war er nie gefasst worden. Letztes Jahr war er von Europa gelangweilt in die Staaten zurückgekehrt und hatte sich am Santa Barbara College eingeschrieben.
Nachdem er seinen Neffen gründlich inspiziert hatte, nickte McDermott: “Du siehst gut aus.”
“Danke.” Ben warf seine Tasche auf den Boden, nahm in einem Sessel Platz und sah seinen Onkel mit einem gierigen Grinsen an. “Was ist denn so dringend, dass ich eine scharfe Frau allein lassen musste?” Er lehnte sich neugierig nach vorne. “Soll ich was für dich und deine Compadres stehlen? Juwelen? Ein Gemälde?” Die blauen Augen leuchteten. “Inhaberobligationen?”
“Leider nichts so Aufregendes. Ich möchte nur, dass du für mich etwas findest.”
“Was denn?”
“Eine Audiokassette.”
Ben sah ihn enttäuscht an. “Das ist alles?”
“Das ist alles.”
“Klingt langweilig.” Seine Augen verengten sich. “Augenblick mal. Das ist nicht zufällig dieses mysteriöse Band, nach dem die Polizei von Monterey immer noch vergeblich sucht? Das Band, das mit dem Tod von Ratsmitglied Bradshaw zusammenhängen könnte?”
McDermott war angenehm überrascht. Von der Irish Voice abgesehen, die er immer aufmerksam gelesen hatte, war Ben nie sonderlich an Nachrichten interessiert gewesen. “Woher weißt du, dass Bradshaw tot ist?”
Ben lächelte blasiert. “Ich achte immer darauf, von allem etwas zu wissen, Onkel Ian. Hast du mir das nicht selbst beigebracht?”
“Ich wusste nicht, dass du zugehört hattest.”
“Ich höre dir immer zu.” Ben streckte seine langen Beine aus, verschränkte seine Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. Jetzt war er derjenige, der die Situation unter die Lupe nahm. “Warum willst du das Band haben? Hast du den Kerl umgelegt?”
“Nein, das habe ich nicht, aber auf dem Band könnten sich Informationen über meine Partner und mich befinden, von denen ich nicht möchte, dass sie den Falschen in die Hände fallen.”
Ben grinste. “Dann bin ich euer Mann.”
“Nicht so schnell, mein Junge. Wir müssen noch ein paar Dinge klarstellen.”
Als bereite er sich auf eine Predigt vor, verschränkte Ben die Arme vor seinem breiten Brustkasten. “Okay, schieß los.”
“Falls ich dir diesen Job anvertraue, ist das keine Vergnügungsreise ins Boudoir einer deiner Geliebten. Du wirst keine Rosen zurücklassen, auch keine Gedichte, nichts Theatralisches. Ist das klar?”
Ben rollte mit den Augen, als hätte er diese Predigt schon unzählige Male gehört. “Ja, ja.”
“Nicht in diesem Ton, Junge”, herrschte McDermott ihn an. “Wenn du einen Fehler machst, könnten auf mich zweihundert Jahre Gefängnis warten.”
Sofort wurde Ben ernst. “Ich werde keinen Fehler machen, Onkel Ian.”
“Hast du irgendjemandem davon erzählt, dass du mich besuchen würdest?”
“Keiner Menschenseele.”
“Gut. Du musst irgendwo in einem Hotel wohnen, allerdings nicht in Monterey. Such dir etwas Unauffälliges. Und bezahl bar.”
“Das mache ich immer.”
McDermott betrachtete seinen Neffen schweigend für ein paar Sekunden. Auch wenn er immer noch einen großspurigen Eindruck machte, war Ben äußerst bemüht darum, ihm zu gefallen und vor allem zu beweisen, dass er vertrauenswürdig war.
Als plötzlich Eanu in der Tür stand und ein Zeichen gab, stand McDermott auf. “Wir reden beim Mittagessen weiter. Eanu hat das marokkanische Gericht zubereitet, das dir so gut schmeckt.” Mit einem Arm um die breiten Schultern des Jungen gelegt, führte McDermott ihn auf die sonnenüberflutete Terrasse.
Das köstlich duftende Tagine in dem kegelförmigen Tontopf wartete bereits auf ihn in der Mitte des Steintischs. Hohe Gläser mit heißem Pfefferminztee, dem traditionellen marokkanischen Getränk, sowie ein runder, dunkler Brotlaib rundeten das Mahl ab. Neben jedem Teller stand ein kleines Schälchen mit Zitronenwasser für die Finger.
Eanu servierte jedem von ihnen eine großzügige Portion Tagine, dann zog er sich zurück.
Ben, der es so authentisch wie möglich liebte, tauchte seine Finger in den Lammeintopf und aß mit großer Begeisterung. “Mmm, wie ich sehe, hat Eanu es noch immer drauf. Das ist köstlich.”
McDermott, der die konventionellere Art bevorzugte, nahm seine Gabel. “Das Haus, das du durchsuchen sollst, ist genau genommen ein Gasthaus.”
Mit vollem Mund fragte Ben. “Abgelegen?”
“Relativ. Die 'Hacienda' liegt am oberen Teil der Via del Rey, hinter dem Veterans Memorial Park. Ich glaube, du bist mit der Gegend vertraut.”
Ben nickte, während er kaute. “Ruhige Nachbarschaft, überwiegend Wohnhäuser.”
“Mrs. Bradshaw hat zwei direkte Nachbarn – eine ältere Frau, die auf der vom Gasthaus aus nach Osten gelegenen Seite wohnt, und einen Arzt mit seiner Familie in westlicher Richtung. Beide Anwesen sind rund dreißig Meter von der 'Hacienda' entfernt.”
“Ist das Gasthaus belegt?”
“Nicht im Augenblick. Julia Bradshaw, die übrigens auch die Exfrau des Toten ist, hat nur zwei Gäste – ihren Vater und einen Reporter namens Steve Reyes.”
“Reyes, Reyes”, sagte Ben, während er kaute. “Ist das nicht der Reporter, der dir vor Jahren dicht auf den Fersen war und dich fast geschnappt hätte?”
McDermott bemühte sich, seine Verärgerung zu unterdrücken. “Er war nicht mal in meine Nähe gekommen”, zischte er und nahm einen Schluck Pfefferminztee, der genauso heiß und stark war, wie er ihn mochte. “Zurück zu Julia Bradshaw. Sie und ihr kleiner Sohn wohnen im Haus. Ich nehme an, im Parterre.”
“Kein Problem.”
“Aber Reyes könnte eines sein.”
Ben stützte einen Ellbogen auf den Tisch und ließ einen beeindruckenden Bizeps spielen. “Mit Reyes werde ich fertig.”
“Ich möchte nicht, dass es zu einer Auseinandersetzung kommt, Ben”, sagte McDermott scharf. “Ich will nur das Band haben.”
“Wenn es da ist, bekommst du es.” Er tauchte wieder seine Finger in die dickliche Mischung aus Fleisch und Gemüse. “Hat Julia Bradshaw die Kassette selbst versteckt?”
“Nein. Wenn, dann hat er das getan. Ich bezweifle, dass Julia oder irgendwer sonst auf die Idee gekommen ist, dass sich das Band oder eine Kopie davon in ihrem Haus befinden könnte.”
“Muss ich das gesamte Haus durchsuchen?”
“Ich hoffe nicht. Wenn wir Glück haben, befindet es sich irgendwo in Julias Wohnbereich. Wenn nicht, wirst du auch in den oberen Stockwerken suchen müssen.”
“Okay.”
“Du darfst nicht gesehen werden, wenn du deine Aufklärungsarbeit machst. Ist das klar?”
Ben verzog das Gesicht, als habe er Schmerzen. “Bitte, Onkel Ian, ich bin kein Amateur.”
“Das ist eine Kleinstadt. Fremde werden bemerkt, und die Leute erinnern sich an sie.”
“Keine Sorge.” Er grinste. “Wenn es neben dem Stehlen eine Sache gibt, die ich beherrsche, dann ist es die, sich unter die Leute zu mischen. Niemand wird sich nach mir umdrehen.”
Ben schien völlig unbesorgt, was McDermott ein wenig beunruhigte. Er hatte von klein auf gelernt, dass man keinen Job, ganz gleich, wie trivial er auch schien, als selbstverständlich betrachten durfte. Und er erwartete von anderen, dass sie das genauso machten.
“Wie lange wirst du für die Vorbereitungen brauchen?” fragte McDermott.
“Wenn alles gut läuft, ein paar Tage. Höchstens drei Tage.”
“Ich hatte gehofft, dass es schneller gehen würde.”
Ben schüttelte den Kopf. “Unmöglich, Onkel Ian. Wenn das Haus leer wäre, dann wär das kein Problem. Aber bei so vielen Leuten muss ich erst mal deren Gewohnheiten studieren. Ich muss sehen, wer weggeht, wer im Haus bleibt, wer wann schlafen geht, ob es eine Alarmanlage gibt.” Er grinste. “Ob jemand schlafwandelt. Diese Details dauern alle ihre Zeit.”
Nachdem er nachgedacht hatte, nickte McDermott. “Also gut, drei Tage.” Er sah zu, wie Ben sich eine weitere Portion Tagine auf den Teller schaufelte. “Aber nicht eine Minute länger.”
Esther Hathaway war erfreut, dass Steve sie erneut besuchte und ihr den Teller zurückbrachte.
“Mr. Garnier war so freundlich und hat das Stück schätzen lassen, Mrs. Hathaway”, sagte er, während sie den Teller fast ehrfürchtig in das Regal im Esszimmer zurückstellte.
Sie wandte sich überrascht um. “Aber ich habe doch gar nicht darum gebeten …”
“Ich weiß. Aber in Anbetracht des Wertes meinte Mr. Garnier, dass Sie es doch erfahren sollten.”
Sie zwinkerte ein paar Mal. “Wie … Wie viel ist er denn wert?”
Steve dachte an den Schreck, den er erlitten hatte, als der Händler ihm den Schätzpreis nannte, und fragte sich, ob Mrs. Hathaways fünfundsiebzig Jahre altes Herz das überstehen würde.
Er beschloss, das Risiko einzugehen und es ihr zu sagen. Nachdem sie sich so lange Zeit um Eli und dessen Garten gekümmert hatte, hatte sie eine kleine Belohnung verdient. “Der komplette Satz mit vierundzwanzig Tellern hat ursprünglich dem Erzbischof von York gehört”, erklärte er und wiederholte den Namen, den Garnier so voller Stolz ausgesprochen hatte. “Dieser spezielle Teller hat gegenwärtig einen Wert von elftausend Dollar.”
Einen Moment lang dachte er, sie würde ohnmächtig. “O Himmel.” Mrs. Hathaway drückte eine Hand gegen ihre Brust. “Elftausend Dollar.” Sie sah sich um. “Alles, was in diesem Haus steht, ist zusammen nicht so viel wert.”
“Jetzt schon, Mrs. Hathaway.” Er zog eine Karte aus seiner Tasche und gab sie ihr. “Das ist die Adresse des Händlers. Er sagte, sie sollten ihn anrufen, falls Sie mal daran interessiert wären, den Teller zu verkaufen.”
Während sie die Karte unter eine Blumenvase im Esszimmer steckte, fuhr er fort: “Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich jetzt noch einmal gegenüber umsehen.”
“Noch einmal?” Als Steve bereits auf dem Weg zur Tür war, seufzte sie und holte ihren Schlüsselbund, bevor er ihr sagen konnte, dass er ihn nicht benötigte.
“Warum spazieren Sie durch Elis Garten?” fragte sie, als sie sich ihm wenig später dort anschloss.
Er beschloss, die Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. “Sie haben mir doch gesagt, dass er seinen Garten geliebt hat? Dass er viel Zeit hier verbracht hat, richtig?”
“Das hat er gemacht.” Sie ging neben ihm her, während die Schlüssel in ihrer Tasche klimperten. “Er kannte sogar den lateinischen Namen jeder Pflanze und jeder Blume. Und er hat für sein Leben gern gejätet, gepflanzt und neu gepflanzt. Sogar dieses wilde Fleckchen da drüben hat ihm Vergnügen bereitet.” Sie zeigte auf einen überwucherten Bereich hinter dem Schuppen. “Er nannte ihn seinen 'ungezähmten Garten'. Er wollte nicht, dass ich ihn jäte oder irgendetwas verändere, wenn er nicht hier war. Er sagte, der Flecken sollte genauso bleiben, wie er war.”
Steves Herz machte einen Satz. “Hat er das?”
Er ging zu der zugewucherten Stelle, die vielleicht vierzig Quadratmeter groß war. Dichte Ranken und wilde Pflanzen, von denen einige über einen Meter hoch aufragten, bedeckten die gesamte Fläche. Nachdem er über eine niedrige Mauer aus grauen Steinen gestiegen war, hockte sich Steve hin und begann, einige der Ranken zur Seite zu ziehen.
“Was machen Sie denn?” Esther klang beunruhigt. “Das ganze Stück ist voll mit giftigem Efeu.”
Steve sah sich beiläufig um, konnte aber keine Spur von giftigem Efeu entdecken. Indem man eine übervorsichtige Nachbarin glauben machte, die giftige Pflanze wachse in großen Mengen, konnte man sicher sein, dass Neugierige auf Distanz blieben. “Ich passe schon auf.”
Stück für Stück setzte er seine Suche fort. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren in ländlichen Gebieten in Frankreich Juwelen, Kunstwerke und Goldmünzen entdeckt worden, die von ihren Eigentümern vergraben worden waren, damit sie nicht in Feindeshand geraten konnten.
Vielleicht hatte Eli ganz ähnlich gedacht, als er nach einem Versteck suchte.
Nachdem Steve eine Viertelstunde lang gesucht hatte, stieß er plötzlich auf etwas Festes. Er entdeckte einen Stein, der so aussah wie in der Trennmauer. Er konnte zufällig dorthin geraten sein, als die niedrige Mauer gebaut worden war.
Oder Eli hatte ihn als Markierung benutzt.
Während Esther ihm mit missbilligender Miene zusah, hob Steve den Stein zur Seite. Dann begann er mit bloßen Händen in der Erde zu graben. Als er erkannte, dass er nicht schnell genug vorankommen würde, lief er zum Schuppen und holte eine Schaufel.
“Was machen Sie denn jetzt?” wollte Esther wissen. “Jennifer hat nichts davon gesagt, dass Sie den Garten umgraben würden. Ich fürchte, das müssen Sie mir erklären.”
“Ich übernehme die volle Verantwortung, Mrs. Hathaway”, versprach Steve, als er zu graben begann. “Vertrauen Sie mir.”
Nachdem er mehrere Schaufeln voll Erde aus dem Weg geschafft hatte, stieß er auf etwas Hartes. Steve kniete nieder und wischte mit den Händen die restliche Erde zur Seite und griff in das entstandene Loch.
“Bingo”, stieß er atemlos hervor.
“Was haben Sie gefunden?” Esther, die noch immer wegen des giftigen Efeus zurückhaltend war, kam so nahe heran, wie sie sich traute, und reckte den Hals, um mehr sehen zu können.
“Ich weiß es noch nicht.” Steves Finger fanden einen Griff und umschlossen ihn. Er zog eine Metallkiste heraus, die mit einem einfachen Schnappschloss verschlossen war.
Sein Hals war vor Anspannung wie ausgetrocknet, während er den Deckel öffnete. “Verdammt noch mal”, sagte er tonlos.
In dem rostigen Behälter lag ein halbes Dutzend Reisepässe, alle in mehrere Lagen Klarsichtfolie verpackt. Von dem amerikanischen Pass abgesehen, waren alle anderen von verschiedenen Ländern ausgestellt worden.
“Was ist in der Kiste?” fragte Esther mit vor Neugier bebender Stimme. Er konnte es ihr nicht verübeln. Diese heimliche Operation im Garten ihres Nachbarn war wahrscheinlich das Aufregendste, was sie jemals miterlebt hatte.
“Pässe, Mrs. Hathaway.” Steve packte zuerst den amerikanischen Pass aus. Der war 1983 ausgestellt worden und enthielt ein älteres Foto von Eli Seavers. Allerdings stand neben dem Foto nicht der Name Eli Seavers, sondern John C. Spivak.
Steve blätterte in dem Dokument, das wahrscheinlich eine Fälschung war. Er fand Vermerke über Reisen nach Spanien, Italien, Ägypten und in die Türkei.
Ein anderer Pass war von der iranischen Regierung ausgestellt worden und identifizierten den ernst dreinblickenden, bärtigen Mann auf dem Foto als Ahmed Jamoul. Nur ein aufmerksamer Blick auf Augen und Augenbrauen ließen eine Ähnlichkeit zwischen dem Iraner und J.C. Spivak erkennen.
Nach den zahlreichen Stempeln in diesem Pass zu urteilen, war Ahmed zwischen 1985 und 1991 sehr oft nach Libyen eingereist. Ein Datum fiel Steve ganz besonders auf: der 4. August 1987. Ein Tag nach Elis Besuch bei “Malamoud Antiques” in Kairo.
Man musste kein Genie sein, um Elis geschickten Plan zu verstehen. Mit seinem gefälschten, amerikanischen Pass reiste er zunächst nach Europa oder Ägypten, um dann das iranische Dokument oder irgendeinen der vier anderen Pässe zu benutzen und nach Libyen zu fliegen.
Libyen. Das Herkunftsland der Waffenlieferung für Nordirland.
“Ich schätze, ich rufe jetzt besser die Polizei, Mrs. Hathaway. Das …” Er brach mitten im Satz ab, als er noch einmal in das Loch in der Erde sah. Da war noch etwas, eine Tasche, die ebenfalls in Plastik gewickelt und tiefer vergraben worden war.
Steve holte das Bündel heraus, riss die schützende Verpackung auf und zog den Reißverschluss der voll gepackten Tasche auf.
Dann stieß er einen anerkennenden Pfiff aus.
In dem klammen Segeltuch befanden sich etliche Bündel mit 100-Dollar-Noten. Während er die Bündel sichtete, nahm er eine grobe Schätzung vor.
Der Stapel belief sich auf etwa eine halbe Million Dollar.