24. KAPITEL
Fassungslos über das, was sie soeben gehört hatte, trat Julia einen Schritt zurück. “Das ist nicht möglich”, sagte sie nach ein paar Sekunden. “Ich bin nie ins Haus gegangen. Ich bin die ganze Zeit über im Wagen geblieben.”
Eleanor schüttelte starrsinnig den Kopf. “Ich habe an dem Abend zweimal aus dem Fenster gesehen. Beim ersten Mal habe ich dich gesehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was du um diese Zeit da draußen machen solltest. Ich habe zuerst sogar überlegt, ob du es wirklich warst oder jemand, der so aussah wie du. Dann habe ich den Wagen erkannt, und als dann die Fahrertür geöffnet wurde, habe ich dich ganz deutlich erkannt.”
“Aber ich habe die Tür fast gleich wieder zugemacht, ohne auszusteigen. Hast du das nicht gesehen?”
Eleanor schüttelte wieder den Kopf. “Ich bin vom Fenster weggegangen, weil ich nicht neugierig erscheinen wollte. Aber ich muss zugeben, dass es mich doch interessierte. Also habe ich nach einiger Zeit noch mal rausgeguckt.” Sie sah auf das Taschentuch, das sie noch fester zusammenpresste. “Da habe ich dich aus dem Wagen aussteigen und zum Haus gehen sehen.”
“Das war ich nicht!” schrie Julia frustriert. “Du musst jemand anderen gesehen haben.”
“Du warst das, Julia. Als am nächsten Morgen die Polizei bei mir vor der Tür stand und mir sagte, Paul sei tot, da wusste ich nicht, was ich denken sollte. Als ich aber gefragt wurde, ob ich in der Nacht irgendetwas gesehen oder gehört hatte, da konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihnen von dir zu erzählen.”
In ihren Augen standen Tränen, als sie Julia ansah. “Ich bin einundsiebzig Jahre alt, und ich habe noch nie eine Lüge erzählt, Julia. Der einzige Grund, warum ich an dem Morgen nichts gesagt habe, war der, dass ich es nicht hätte mit ansehen können, wie sie dich ins Gefängnis stecken. Nicht nach allem, was du mit diesem Mann durchgemacht hast.”
Voller Wut packte Julia sie an den Schultern. “Eleanor, hör mir zu. Wen auch immer du an dem Abend gesehen hast, das war nicht ich. Hörst du? Du hast selbst gesagt, dass es jemand gewesen sein könnte, der so aussah wie ich. Oder vielleicht hat der Regen …”
“Was ist denn hier los?”
Als sie die vertraute Stimme hörte, ließ Julia Eleanor los und fuhr herum. In der Tür stand Detective Hammond und sah sie beide an. Sein ruhiger Blick ging zwischen Eleanor und Julia hin und her, ehe er ihn auf Eleanor ruhen ließ.
“Was haben Sie gesehen und mir nicht gesagt, Mrs. Bailey?” Er betrat das Foyer und schloss die Tür hinter sich.
Unter dem bohrenden Blick lief das Gesicht der Frau hochrot an. “Nichts … ich … ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.”
“Nicht alles, Mrs. Bailey.” Er sah zu Julia. “Und Sie offenbar auch nicht.”
“Ich war es nicht.” Julia schien nicht in der Lage, mehr als diesen knappen Satz zu sprechen. Nach Hammonds Blick zu urteilen, glaubte er ihr genauso wenig wie Eleanor.
“Mrs. Bailey.” Hammond sprach langsam und geduldig. “Haben Sie Mrs. Bradshaw am Abend des 26. Mai in das Haus von Ratsmitglied Bradshaw gehen sehen?”
Eleanor warf Julia einen verzweifelten Blick zu.
“Sehen Sie nicht Julia an, Mrs. Bailey. Sehen Sie mich an, und beantworten Sie bitte meine Frage.”
“Ich weiß nicht … ich meine … ich bin nicht sicher.”
“Dann werde ich Ihnen helfen. Ihr Haus steht direkt gegenüber dem von Paul Bradshaw, richtig?” Er wartete, bis sie genickt hatte, dann erst fuhr er fort. “Und Sie haben Mrs. Bradshaw deutlich – das war Ihre Formulierung: deutlich – gesehen, wie sie an dem Abend die Fahrertür öffnete. Stimmt das?”
“Ja.” Eleanors Stimme war kaum zu hören.
“Und als Sie nach einiger Zeit noch einmal hingesehen haben, sahen sie, wie Mrs. Bradshaw zum Haus des Ratsmitglieds ging. Das haben Sie gesagt.”
Mrs. Bailey zog an einer Ecke des Taschentuchs. “Ich habe jemanden gesehen, der einen Regenmantel mit Kapuze trug und der aus einem Auto ausstieg.”
“Konnten Sie den Wagen erkennen?”
Ihr Gesicht wurde bleich vor Schreck. “Er war … schwarz.”
“War es ein Volvo?”
“Ich kenne mich mit Autos nicht gut aus.” Ihre Stimme war vor Angst gepresst, und sie tat Julia Leid. Sie versuchte zu helfen, machte aber dadurch alles noch schlimmer.
“Sah der Wagen aus wie der von Mrs. Bradshaw?”
“Ich … ich glaube schon.”
Hammond wandte sich an Julia. “Was haben Sie an dem Abend getragen, Mrs. Bradshaw?”
Julia spürte, wie zwischen ihren Brüsten kalter Schweiß über ihre Haut lief. “Einen Regenmantel.”
“Hat der eine Kapuze?”
“Ja, aber das besagt gar nichts. An dem Abend hat jeder, der aus dem Haus gegangen ist, irgendwelche Regenkleidung getragen.”
Hammond seufzte, als würde er sich auf das, was er gleich machen musste, nicht freuen. “Sie kommen besser mit auf die Wache”, sagte er. “Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Und Ihnen auch, Mrs. Bailey.”
“Wollen Sie mich jetzt etwa festnehmen?” fragte Julia mit bebender Stimme.
Hammonds Augen wurden ein wenig sanfter. “Nein, aber an Ihrer Stelle würde ich einen Anwalt anrufen. Sie könnten ihn gebrauchen, bevor der heutige Tag vorüber ist.”
Voller Nervosität, weil er noch nichts von Ben gehört hatte, ging McDermott durch sein Gewächshaus und wartete auf den Anruf seines Neffen, als die Tür aufging.
Ein Blick auf Bens blau geschlagenes und verquollenes rechtes Auge verriet ihm, dass die Mission nicht nach Plan gelaufen war.
“Was zum Teufel ist denn mit dir passiert?” brüllte er ihn an.
“Ah …” Unübersehbar verlegen trat Ben von einem Fuß auf den anderen. “Es gab Komplikationen.”
McDermott bewegte sich nicht. “Komplikationen welcher Art denn?”
“Julia ist aufgewacht.” Seine Hand wanderte zu seinem Hinterkopf, den er zaghaft berührte. “Dieses Miststück hat mir fast den Schädel zertrümmert. Das muss wahrscheinlich genäht werden.”
McDermott bemühte sich, Ruhe zu bewahren. “Ben, hast du das Band?”
“Nein.”
Er atmete tief ein und hielt die Luft einige Sekunden lang an. Erst als er sicher war, dass er sein Temperament unter Kontrolle hatte, atmete er langsam wieder aus. “Von Anfang an, Ben.”
Ben sprach langsam, schuldbewusst, und er schwor immer wieder, dass es nicht sein Fehler gewesen war. Er war so leise wie eine Maus gewesen. Woher sollte er wissen, dass Julia Bradshaw einen so leichten Schlaf hatte? Und dass Reyes völlig lautlos nach unten kommen und wie ein Berserker auf ihn losstürmen würde?
Nach einer Weile ließ McDermott Bens Ausführungen in den Hintergrund treten, bis er nichts mehr davon wahrnahm. Welchen Unterschied machte es schon, warum oder wie es zu diesem Fiasko gekommen war? Was zählte, war nur, dass das verdammte Band noch immer irgendwo da draußen war. Und dass er den Zorn seiner Mitstreiter über sich ergehen lassen musste, die alle skeptisch waren, was Bens Befähigung anging, diesen Auftrag auszuführen.
“Ich hatte Pech, es ging zu viel schief. Es tut mir Leid, Onkel Ian”, sagte Ben abschließend.
“Das sollte es auch. Ich habe dir vertraut, Ben. Ich habe dich sogar vor meinen Partnern verteidigt, die Vorbehalte gegen dich hatten. Und was machst du? Du hast es verpatzt, du machst mich vor ihnen zum Narren. Das ist etwas, was ich überhaupt nicht mag.”
“Ich erkläre es ihnen, Onkel Ian. Sie werden es verstehen.”
McDermott lächelte ihn gönnerhaft an. Die Naivität der Jugend, dachte er, der Glauben, dass man Fehler mit Worten beheben kann. Das erstaunte ihn immer wieder.
Während seine Enttäuschung vorübergehend seine anderen Probleme in den Hintergrund drängte, zog er eine Schublade heraus, in der er kleinere Gartengeräte aufbewahrte, und betrachtete nachdenklich den Inhalt. “Ich hatte so große Dinge mit dir vor, Ben”, sagte er wehmütig. “Ich hatte gehofft, dich eines Tages zu meinem Stellvertreter zu machen. Es hätte mir Spaß gemacht, mit dir zusammenzuarbeiten und dir alles beizubringen, was ich weiß.”
“Das möchte ich mehr als alles andere, Onkel Ian”, sagte Ben ernst. “Das weißt du, und das wissen auch die anderen.”
“Ja, aber das ist jetzt nicht mehr möglich.”
“Doch, doch, sicher, ich … ich werde das Band finden. Ich durchsuche die ganze Stadt, wenn es sein muss, aber ich werde das Band finden.”
“Ich fürchte, das würde nicht genügen.”
“Wieso nicht?”
Nachdem er gefunden hatte, wonach er suchte, holte McDermott eine Glock 17 aus der Schublade.
Als Ben sah, dass die Waffe auf ihn gerichtet war, begann er wirres Zeug zu reden. Noch so ein enttäuschender Zug, dachte McDermott angewidert. Jeder Mann und jede Frau in der Familie der McDermotts, die dem Tod ins Auge gesehen hatten, hatten das mutig und würdevoll getan. Es schmerzte ihn, dass sein Neffe, mit dem er so große Hoffnungen verbunden hatte, ein so hoffnungsloser Feigling war.
“Onkel Ian … w-was machst du da?” Ben gab einen kläglichen Laut von sich, irgendwas zwischen einem Schluchzer und einem Lacher. “Du kannst mich nicht umbringen … wir sind Familie.”
McDermott hob die Waffe, zielte auf Bens Herz und feuerte kurz hintereinander drei Schüsse auf ihn ab.