Drei
DAMALS
Urplötzlich schlägt das Wetter um und alles ist anders.
Genau wie mein Leben.
Eben war ich noch mit einem Mann verlobt, in den ich vier Jahre lang verliebt war. Jetzt nicht mehr. Ich setze mich in den Wagen, schalte die Scheibenwischer an und starre durch die Windschutzscheibe nach draußen. Ein paar Leute flüchten sich in das Apartmentgebäude, in dem Ethan wohnt. Auch Sasha.
Der Platzregen kam wie aus dem Nichts. Kein Nieseln hat ihn angekündigt. Es ist, als hätte im Himmel jemand einen riesigen Eimer Wasser umgekippt. Dicke Tropfen klatschen aufs Glas.
Was Graham wohl macht? Wohnt er hier in der Nähe oder läuft er jetzt durch den Regen? Ich setze den Blinker, lenke den Wagen zum letzten Mal aus der Parkbucht vor Ethans Haus und fahre in die Richtung, in die Graham eben verschwunden ist. Als ich nach links abbiege, sehe ich, wie er gerade vor dem Regen in einem Restaurant Schutz sucht.
Es ist das Conquistadors. Ein Mexikaner. Ich finde ihn nicht so toll, aber da er gleich um die Ecke von Ethans Apartment liegt, waren wir mindestens einmal im Monat dort essen.
Gerade steigen vor dem Gebäude Leute in einen Wagen. Ich warte, bis sie weggefahren sind, und parke dann schnell ein. Als ich kurz darauf zum Eingang haste, wird mir klar, dass ich keine Ahnung habe, was ich überhaupt zu Graham sagen soll.
»Kann ich dich nach Hause fahren?«
»Brauchst du jemanden, der dir Gesellschaft leistet?«
»Lust auf ein bisschen Rachesex?«
Ach was, das ist Blödsinn. Rachesex ist das Allerletzte, was ich jetzt will. Hoffentlich denkt er nicht, ich wäre ihm deswegen gefolgt. Ich weiß ja selbst nicht, warum ich ihm hinterher bin. Vielleicht will ich einfach nur noch nicht allein sein. Er hatte schon recht damit, dass die Tränen später fließen werden, wenn es um mich herum still geworden ist.
Die Tür klappt hinter mir zu, und es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an das Dämmerlicht im Restaurant gewöhnt haben. Graham steht an der Theke. Er hängt gerade seine nasse Jacke über einen Barhocker. Als er mich sieht, wirkt er kein bisschen erstaunt, sondern zieht einen zweiten Hocker hervor, als wäre es selbstverständlich, dass ich mich zu ihm setze.
Und genau das tue ich. Ich setze mich neben ihn und wir sitzen wortlos in geteiltem Leid nebeneinander.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragt der Barmann.
»Zwei Shots«, sagt Graham. »Egal, was. Hauptsache, es hilft uns, die letzte Stunde unseres Lebens zu vergessen.«
Der Mann lacht, aber als wir keine Miene verziehen, begreift er den Ernst der Lage. »Moment.« Er hebt den Zeigefinger. »Da hab ich genau das Richtige.« Er geht zum anderen Ende der Theke.
Ich spüre Grahams Blick, schaue aber nicht auf, weil ich seine traurigen Augen jetzt lieber nicht sehen will. Irgendwie tut es mir für ihn fast mehr leid als für mich. Ich ziehe die Schale mit dem Knabberzeug zu mir und lege aus den kurzen Salzstangen ein Gitter aus drei mal drei Kästchen auf die Theke. Dann suche ich die kleinen Cracker heraus, lege sie als Häufchen vor mich und schiebe die Schüssel, in der jetzt nur noch Minibrezeln sind, Graham hin.
Einen Cracker lege ich in die Mitte des Rasters und sehe Graham abwartend an. Er betrachtet die Schale und um seine Mundwinkel spielt ein leises Lächeln. Er nimmt eine Brezel und legt sie in das Feld direkt über meinem Cracker. Ich lege einen zweiten Cracker in das Kästchen links von der Mitte.
Der Barmann stellt zwei Shotgläser vor uns hin. Wir greifen gleichzeitig danach und drehen uns auf unseren Hockern so, dass wir uns ansehen.
Stumm warten wir darauf, dass einer von uns beiden irgendeinen Trinkspruch sagt. Graham räuspert sich. »Mir fällt absolut nichts ein, worauf ich heute gern anstoßen würde. Scheiß auf diesen Tag.«
»Scheiß auf diesen Tag«, stimme ich ihm zu. Wir stoßen an, legen den Kopf in den Nacken. Graham leert sein Glas auf Ex. Er knallt es auf die Theke, nimmt eine weitere Brezel aus der Schale und legt sie neben meine Cracker ins Gitter.
Während ich über meinen nächsten Zug nachdenke, vibriert in der Jackentasche mein Handy. Ich ziehe es heraus. Auf dem Display leuchtet Ethans Name.
Graham holt im gleichen Moment sein Handy raus und zeigt mir das Display, auf dem Sashas Name blinkt. Wäre alles nicht so furchtbar traurig, wäre es fast zum Lachen.
Ich muss an die Szene vorhin denken, bevor die beiden aus dem Apartment kamen und Graham und ich im Hausflur auf dem Boden saßen und ihr Essen in uns reinstopften. Total absurd.
Graham legt sein Handy auf die Theke. Er betrachtet es einen Moment und schnippt dann mit dem Zeigefinger dagegen, sodass es über die Theke schlittert und mit einem splitternden Geräusch auf den Steinboden fällt. Er zuckt nicht mal mit der Wimper.
»Du hast dein Handy geschrottet.«
Er greift nach einer Brezel und wirft sie sich in den Mund. »Sind sowieso zu viele Fotos und Nachrichten von Sasha drauf. Morgen hole ich mir ein neues.«
Ich lege mein Handy vor mich auf die Theke. Einen Moment liegt es still da, dann fängt es wieder an zu vibrieren. Noch mal Ethan. Als sein Name auf dem Display aufleuchtet, überkommt mich das Bedürfnis, dasselbe zu machen wie Graham. Ich brauche sowieso mal wieder ein neues. Als der Summton verstummt und kurz darauf eine Nachricht von Ethan eingeht, versetze ich dem Handy einen Schubs, und wir sehen zu, wie es über die Theke segelt und zu Boden knallt.
Danach spielen wir weiter Tic-Tac-Toe. Die erste Runde gewinne ich. Die zweite Graham. Die dritte geht unentschieden aus.
Graham nimmt sich eine Salzstange aus dem Raster, schiebt sie sich zwischen die Lippen und sieht mich an. Ich weiß nicht, ob es der Alkohol ist oder die Tatsache, dass mich die Ereignisse dieses Tages einfach komplett überfordern, aber jedes Mal, wenn er mich anschaut, spüre ich seinen Blick als Prickeln auf der Haut. Und zwar überall. Ich bin verwirrt. Liegt das an ihm oder an dem, was heute passiert ist? Ich weiß es nicht, aber eigentlich ist es mir auch egal. Diese nervöse Verwirrung ist auf jeden Fall besser als die totale Traurigkeit, die mich überkommen würde, wenn ich jetzt alleine zu Hause säße.
Ich ersetze die Salzstange, die Graham gerade aufgegessen hat. »Ich muss dir übrigens was beichten.«
»Nach dem, was heute passiert ist, kann mich nichts mehr erschüttern. Beichte ruhig.«
Einen Ellbogen auf die Theke gestützt, lege ich den Kopf in meine Hand und sehe ihn von der Seite an. »Nachdem du vorhin weggegangen bist, ist Sasha aus dem Haus gekommen und hat mich angesprochen«, sage ich zögernd. »Na ja, und ich …«
Graham zieht eine Braue hoch. »Was hast du getan, Quinn?«
»Sie wollte wissen, in welche Richtung du gegangen bist, aber ich habe es ihr nicht verraten.« Jetzt setze ich mich auf und drehe mich ihm zu. »Ich habe mich in meinen Wagen gesetzt, aber vorher hab ich gesagt: ›Achthundert Dollar für Online-Scrabble? Echt jetzt, Sasha?‹«
Graham sieht mich an. Sein Blick ist durchdringend, aber undurchschaubar. Findet er, dass ich zu weit gegangen bin? Klar, ich hätte das nicht sagen sollen, aber verdammt … ich war wahnsinnig sauer. Und es tut mir nicht leid.
»Was hat sie gesagt?«
Ich schüttle den Kopf. »Nichts. Sie hat mich bloß mit offenem Mund angestarrt. Und dann hat es angefangen zu regnen und sie ist in Ethans Haus zurückgerannt.«
Graham sieht mich weiter unverwandt an und zeigt keinerlei Regung. Ich fühle mich unbehaglich, weil ich nicht weiß, was er denkt. Es wäre mir lieber, er würde lachen oder wäre sauer, weil ich mich in seine Angelegenheiten eingemischt habe. Irgendwas.
Aber er sieht mich einfach nur an.
Irgendwann senkt er den Blick. Wir sitzen uns gegenüber, ohne dass sich unsere Beine berühren. Graham schiebt die Hand, die auf seinem Knie liegt, ein winziges Stück vor, sodass seine Fingerspitzen sanft gegen mein Knie stoßen.
Die Berührung ist so subtil, dass man meinen könnte, sie wäre unabsichtlich, aber das ist sie nicht. Ich halte die Luft an. Nicht weil mir die Berührung unangenehm wäre, sondern weil ich mich nicht erinnern kann, wann eine Berührung von Ethan in mir so eine Hitze erzeugt hätte.
Graham zeichnet mit dem Finger einen Kreis auf mein Knie.
Als er mich wieder ansieht, weiß ich genau, was er denkt. Es ist offensichtlich.
»Sollen wir gehen?« Sein Flüstern ist fast ein Flehen.
Ich nicke.
Er steht auf, legt ein paar Scheine auf die Theke und zieht seine Jacke an. Dann greift er nach meiner Hand und führt mich durchs Lokal zur Tür hinaus. Ich kann nur hoffen, dass er mich irgendwohin bringt, wo der Tag so zu Ende geht, dass ich es nicht bereue, heute aufgewacht zu sein.