17

Holly hockte auf der Matratze, ein Knie ans Kinn angezogen, das verletzte Bein ausgestreckt. Reacher saß nach vorn gebeugt neben ihr, besorgt mit einer Hand gegen das Rütteln und Stoßen des Lieferwagens ankämpfend, mit der anderen sein Haar zerwühlend.

»Und Ihre Mutter?«, fragte er.

»War Ihr Vater berühmt?«, fragte Holly zurück.

Reacher schüttelte den Kopf.

»Wohl kaum«, sagte er. »Die Männer in seiner Einheit wussten wahrscheinlich, wer er war.«

»Dann wissen Sie nicht, wie das ist«, sagte sie. »Ich konnte tun, was ich wollte, es hing immer mit meinem Vater zusammen. Auf der Schule hatte ich lauter Einsen, ich war in Yale und in Harvard und habe dann in der Wall Street gearbeitet, aber das war nicht ich, das war immer diese seltsame andere Person, die das schaffte, die Tochter von General Johnson. Und beim FBI war’s genauso. Alle glauben, ich hätte das wegen meines Vaters erreicht, und seit ich dort angekommen bin, behandelt mich die Hälfte der Leute immer noch besonders nett, und die anderen, die andere Hälfte, packt mich besonders hart an, bloß um zu beweisen, dass mein Name sie überhaupt nicht beeindruckt.«

Reacher nickte. Dachte darüber nach. Er war jemand, der es weiter gebracht hatte als sein Vater, jemand, der auf die traditionelle Art vorangekommen war, den alten Herrn hinter sich zurückgelassen hatte. Aber er hatte genug Leute mit berühmten Eltern gekannt. Die Söhne großer Soldaten. Sogar die Enkel. So hell ihr Licht auch leuchtete, es wurde immer vom Glanz ihres großen Namens überstrahlt.

»Okay, dann ist es eben hart«, sagte er. »Und Sie können sich ja bis an Ihr Lebensende bemühen, das einfach zu ignorieren, aber im Augenblick müssen wir uns damit auseinandersetzen. Das bringt uns nämlich eine ganze Menge neuer Probleme.«

Sie nickte. Seufzte übertrieben. Reacher sah sie im Halbdunkel an.

»Seit wann sind Sie sich darüber im Klaren?«, fragte er.

Sie zuckte die Schultern.

»Von Anfang an, denke ich«, meinte sie. »Ich sagte Ihnen ja schon, das ist reine Gewohnheit. Alle sind der Ansicht, dass alles wegen meines Vaters passiert. Und ich auch.«

»Nun, dann danke ich Ihnen jedenfalls dafür, dass Sie es mir wenigstens jetzt sagen«, meinte Reacher.

Darauf gab sie keine Antwort. Beide versanken in Schweigen. Es war drückend heiß, und irgendwie vermengte sich die Hitze und das gnadenlose Dröhnen von der Straße. Die Dunkelheit, die Hitze und der Lärm füllten den Laderaum des Lieferwagens wie dicke Suppe. Reacher fühlte sich, als würde er darin ertrinken. Aber in Wirklichkeit kam das von der Unsicherheit. Er war schon oft dreißig Stunden an einem Stück in Transportmaschinen gereist und das unter wesentlich unangenehmeren Bedingungen als diesen hier. Was ihn aus dem Gleichgewicht brachte, war die gewaltige neue Dimension der Unsicherheit.

»Also, was ist mit Ihrer Mutter?«, fragte er erneut.

Holly schüttelte den Kopf.

»Sie ist gestorben«, sagte sie. »Ich war damals zwanzig, auf der Schule. Irgendeine Krebsgeschichte.«

»Tut mir Leid«, sagte er. Zögerte nervös. »Brüder, Schwestern?«

Sie schüttelte wieder den Kopf.

»Bloß ich«, sagte sie.

Er nickte.

»Das hatte ich befürchtet«, sagte er. »Ich hatte irgendwie gehofft, dass diese Geschichte etwas anderes betreffen könnte, Sie wissen schon, vielleicht weil Ihre Mutter Richterin ist oder Sie einen Bruder oder eine Schwester haben, die Kongressabgeordnete sind, oder so etwas.«

»Das können Sie vergessen«, sagte sie. »Es gibt nur mich. Mich und Dad. Und das hier betrifft Dad.«

»Aber was ist mit ihm?«, fragte er. »Was zum Teufel soll das bewirken? Lösegeld? Das können Sie vergessen. Ihr alter Herr ist eine große Nummer, aber er ist bloß Soldat und hat sich sein ganzes Leben lang bei der Army hochgearbeitet. Schneller als die meisten anderen, das gebe ich ja zu, aber ich weiß, was die Army bezahlt. Ich war schließlich auch dreizehn Jahre dabei. Mich hat das nicht reich gemacht, und ihn bestimmt auch nicht. Nicht reich genug, dass jemand auf die Idee von Lösegeld kommen könnte. Wenn irgendwelche Kerle sich damit ein Lösegeld verdienen möchten, dass sie die Tochter von jemandem entführen, dann gibt es allein in Chicago eine Million Leute, die sich dafür besser eignen als Sie.«

Holly nickte.

»Es geht um Einfluss«, sagte sie. »Er ist für zwei Millionen Leute und zweihundert Milliarden Dollar im Jahr verantwortlich. ’ne Menge Einfluss, oder?«

Reacher schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Und genau hier liegt das Problem. Ich kann einfach nicht erkennen, was das Ganze bewirken soll.«

Er ließ sich auf die Knie nieder und kroch auf der Matratze nach vorn.

»Was zum Teufel haben Sie jetzt vor?«, fragte ihn Holly.

»Wir müssen mit denen reden«, sagte er. »Ehe wir unser Ziel erreichen.«

Er hob seine mächtige Pranke und fing an, damit gegen die Trennwand zu schlagen. So kräftig er konnte. Unmittelbar hinter der Stelle, wo der Kopf des Fahrers sein musste. Er fuhr fort, gegen die Blechwand zu schlagen, bis er das bekam, was er wollte. Es dauerte eine Weile. Einige Minuten. Seine Faust fing zu schmerzen an. Aber dann begann der Lieferwagen zu schwanken und wurde langsamer. Er spürte, wie die Vorderräder im Kies mahlten. Die Bremsen griffen. Reacher wurde gegen die Wand gedrückt. Holly rollte ein Stück auf der Matratze nach vorn. Stöhnte auf, als sich ihr Knie dabei verdrehte.

»Sie sind an den Straßenrand gefahren«, sagte Reacher. »Mitten im Niemandsland.«

»Das war jetzt ein großer Fehler, Reacher«, sagte Holly.

Er zuckte die Schultern, griff nach ihrer Hand und war ihr dabei behilflich, sich wieder aufzusetzen und an die Wand zu lehnen. Dann rutschte er ein Stück vor und postierte sich zwischen ihr und den Türen an der Hinterseite. Er hörte, wie die drei Männer ausstiegen. Türen knallten zu. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies. Zwei auf der rechten Seite, einer auf der linken. Er hörte, wie der Schlüssel ins Schloss geschoben wurde.

Die linke Tür öffnete sich einen Spalt breit. Das Erste, was er zu sehen bekam, war der Lauf der Schrotflinte. Dahinter sah Reacher einen Streifen Himmel. Hellblau, kleine weiße Wolken. Es hätte überall sein können. Das Zweite, was er zu sehen bekam, war eine Glock 17. Dann ein Handgelenk. Die Manschette eines Baumwollhemds. Die Glock bewegte sich keinen Millimeter. Das war Loder.

»Ich kann nur hoffen, dass du dafür einen guten Grund hast, Schlampe!«, rief er.

Feindselig, angespannt.

»Wir müssen miteinander reden!«, rief Reacher zurück.

Die zweite Glock tauchte in dem schmalen Spalt auf. Zitterte leicht.

»Worüber reden, Arschloch?«, rief Loder.

Reacher hörte die Anspannung in der Stimme des Mannes und beobachtete die zweite Glock auf ihrem zitternden Zickzackkurs.

»So läuft das nicht, Leute«, sagte er. »Wer auch immer euer Auftraggeber ist, er hat sich das nicht gründlich überlegt. Ihm kam das vielleicht recht schlau vor, aber es taugt nichts. Es wird nichts dabei herauskommen. Bloß eine Menge Ärger für euch, Leute.«

Außen am Lieferwagen herrschte Schweigen. Bloß einen Augenblick lang. Aber lang genug, um Reacher erkennen zu lassen, dass Holly recht hatte. Lang genug, um zu wissen, dass er einen schlimmen Fehler begangen hatte. Die stabile Glock verschwand. Die Schrotflinte machte einen Ruck, so als ob sie gerade den Besitzer gewechselt hätte. Reacher warf sich zurück und riss Holly auf die Matratze herunter. Der Lauf der Schrotflinte kippte ein Stück nach oben. Reacher hörte das leise Klicken des Abzugs den Bruchteil einer Sekunde vor einer gewaltigen Explosion. Die Schrotflinte feuerte in das Wagendach. Eine gewaltige Explosion. Hundert winzige Löcher erschienen in dem Blech. Hundert winzige blaue Lichtpünktchen. Schrotkugeln prasselten herunter und prallten wie Hagelschloßen von den Wänden ab. Dann verhallte der Schuss im Dröhnen zeitweiliger Taubheit.

Reacher spürte, wie die Tür zugeknallt wurde. Der Streifen Tageslicht verschwand. Er spürte das Schwanken des Fahrzeugs, als die drei Männer wieder einstiegen. Er spürte das Zittern, als der Dieselmotor ansprang. Dann ein Ruck nach vorn und ein leichtes Abkippen nach links, als der Lieferwagen wieder auf die Fahrspur rollte.

 

Das erste, was Reacher hörte, als seine Ohren wieder funktionierten, war das leise Pfeifen der durch die hundert Löcher im Dach strömenden Luft. Es wurde im Laufe der vielen Meilen immer lauter. Hundert schrille Pfeifen, jeweils ein paar Halbtöne voneinander entfernt, wie schrilles Vogelgezwitscher.

»Verrückt, stimmt’s?«, sagte Holly.

»Ich oder die?«, fragte er, nickte aber, wie um sich zu entschuldigen. Sie nickte ebenfalls und setzte sich dann mühsam auf. Benutzte beide Hände dazu, ihr Knie gerade zu schieben. Durch die Löcher im Dach fiel Licht herein. Genug Licht, dass Reacher ihr Gesicht deutlich sehen, ihren Ausdruck interpretieren konnte. Er sah das Flackern von Schmerz. Als würde sich ein Vorhang über ihre Augen schieben und dann wieder in die Höhe gleiten. Er kniete nieder und fegte die Schrotkugeln von der Matratze. Sie klapperten auf dem geriffelten Boden.

»Jetzt müssen Sie weg«, sagte sie. »Sonst bringen die Sie um.«

Die grellen, unregelmäßig durch die Löcher im Dach hereinfallenden Lichtstrahlen tanzten über ihr Haar.

»Ich meine das ernst«, sagte sie. »Ob qualifiziert oder nicht, ich kann nicht zulassen, dass Sie bleiben.«

»Ich weiß, dass Sie das nicht können«, sagte er.

Er benutzte sein Hemd dazu, die Schrotkörner zu einem kleinen Häufchen bei der Tür zusammenzufegen. Dann schob er die Matratze zurecht und legte sich wieder hin. Schaukelte mit der Fahrtbewegung. Starrte die Löcher im Blech über ihm an. Sie wirkten wie die Karte irgendeiner fernen Galaxie.

»Mein Vater wird das Notwendige unternehmen, um mich zurückzubekommen«, sagte Holly.

Es war jetzt schwerer miteinander zu reden als vorher. Zu dem Dröhnen des Motors und dem Poltern der Straße kam das schrille Pfeifen im Dach hinzu. Ein volles Geräuschspektrum. Holly legte sich neben Reacher. Legte den Kopf neben den seinen. Ihr Haar fiel auseinander, streifte seine Wange und fiel auf seinen Hals. Sie wand sich in den Hüften und legte ihr Bein zurecht. Zwischen ihnen beiden war immer noch ein Zwischenraum, bestand immer noch die sittsame V-Anordnung, aber der Winkel war jetzt etwas kleiner als vorher.

»Aber was kann er unternehmen?«, fragte Reacher. »Das müssen Sie mir erklären.«

»Sie werden irgendeine Forderung stellen«, sagte sie. »Sie wissen schon, tun Sie dies oder tun Sie jenes, sonst tun wir Ihrem Mädchen weh.«

Sie sprach langsam, und Reacher hörte das Zittern in ihrer Stimme. Er ließ seine Hand in den Zwischenraum zwischen ihnen beiden fallen und fand die ihre. Griff danach und drückte sie sanft.

»Das macht keinen Sinn«, sagte er. »Überlegen Sie doch. Was tut Ihr Vater denn? Er führt die Langzeitpolitik der Regierung aus und ist für kurzfristige Bereitschaft verantwortlich. Der Kongress und der Präsident und der Verteidigungsminister bestimmen die langfristige Politik, stimmt’s? Wenn der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs sich ihnen in den Weg stellen würde, dann würden sie ihn einfach ersetzen. Ganz besonders wenn sie wissen, dass er unter dieser Art von Druck steht, habe ich recht?«

»Was ist mit kurzfristiger Bereitschaft?«, meinte sie.

»Da gilt das Gleiche«, sagte Reacher. »Er ist lediglich Vorsitzender eines Ausschusses. In diesem Ausschuss sitzen die einzelnen Stabschefs. Heer, Marine, Luftwaffe und die Marines. Wenn sie alle ein anderes Lied singen als das Ihres Vaters, wird das nicht lange geheim bleiben, oder? Sie würden ihn einfach eliminieren. Ihn völlig aus der Gleichung herausnehmen.«

Holly drehte den Kopf zur Seite, sah ihm gerade in die Augen.

»Sind Sie sicher?«, fragte sie. »Angenommen, diese Leute arbeiten für den Irak oder so etwas. Angenommen, Saddam will Kuwait wieder haben. Aber er will nicht noch einmal einen Wüstensturm. Also lässt er mich entführen, und mein Vater sagt, tut mir leid, militärisches Eingreifen geht nicht, aus allen möglichen erfundenen Gründen.«

Reacher zuckte die Schultern. »Das, was Sie gerade gesagt haben, ist bereits die Antwort«, erklärte er. »Die Gründe würden erfunden sein. Tatsache ist, dass wir jederzeit einen neuen Wüstensturm durchziehen könnten, wenn wir das müssten. Kein Problem. Jeder weiß das. Wenn Ihr Vater also anfangen würde, das in Abrede zu stellen, dann würde jeder wissen, dass das Quatsch ist, und jeder würde wissen, warum. Die würden ihn einfach vom Platz stellen. Beim Militär sind die Regeln hart, Holly, für Gefühle gibt’s da keinen Raum. Wenn das die Strategie von diesen Leuten ist, vergeuden sie ihre Zeit. Das kann nicht funktionieren.«

Sie blieb eine Weile stumm.

»Dann geht es vielleicht um Rache«, sagte sie langsam. »Vielleicht will ihn jemand für etwas bestrafen, was in der Vergangenheit geschah. Vielleicht soll ich in den Irak gebracht werden. Vielleicht wollen sie ihn dazu zwingen, sich für Wüstensturm zu entschuldigen. Oder für Panama, oder Grenada, oder alles mögliche andere.«

Reacher lag auf dem Rücken und ließ sich von dem dahinrollenden Wagen schaukeln. Er konnte einen leichten Luftzug spüren, das kam von den Löchern im Dach. In dem Laderaum war es jetzt wesentlich kühler, wegen der Ventilation. Oder wegen seines veränderten Gemütszustandes.

»Zu kompliziert«, sagte er. »Man müsste ein ziemlich scharfsinniger Analytiker sein, um dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs die Schuld für all das zu geben. Da existieren eine ganze Menge naheliegenderer Ziele. Prominentere, sichtbarere Leute, ja? Der Präsident, der Verteidigungsminister, Personen im Auswärtigen Dienst, Generale im unmittelbaren Fronteinsatz. Wenn Bagdad daran interessiert wäre, jemanden öffentlich zu demütigen, würden sie sich jemanden aussuchen, den man im Irak identifizieren kann, nicht einen Schreibtischkrieger aus dem Pentagon.«

»Und was soll das Ganze dann?«, fragte Holly.

Reacher zuckte erneut die Schultern.

»In letzter Konsequenz gar nichts«, sagte er. »Die haben sich das nicht gründlich genug überlegt. Und genau das macht sie so gefährlich. Sie sind Profis, aber sie sind dumm.«

 

Der Lieferwagen dröhnte weitere sechs Stunden dahin. Weitere dreihundertfünfzig Meilen, wie Reacher schätzte. Die Temperatur im Laderaum war zurückgegangen, aber Reacher hatte aufgehört, die Richtung, in der sie fuhren, nach der Temperatur einzuschätzen. Die Durchschüsse im Dach hatten diese Kalkulation durcheinander gebracht. Er rechnete jetzt nur noch mit der zurückgelegten Distanz. Insgesamt achthundert Meilen von Chicago entfernt, kalkulierte er, und nicht in östlicher Richtung. Das ließ eine große Zahl von Möglichkeiten zu. Er schlug im Kopf einen Kreisbogen im umgekehrten Uhrzeigersinn. Sie könnten in Georgia, Alabama, Mississippi oder Louisiana sein. Oder in Texas, in Oklahoma, der südwestlichen Ecke von Kansas. Wahrscheinlich nicht weiter westlich. Reachers Landkarte, die er vor seinem inneren Auge sah, war braun schattiert und zeigte die Osthänge der Berge; der Lieferwagen mühte sich aber ganz offensichtlich nicht auf irgendwelchen Steigungsstrecken. Sie könnten in Nebraska sein oder in South Dakota. Vielleicht würde er zum zweiten Mal in seinem Leben dicht an Mount Rushmore vorbeifahren. Aber ebensogut konnten sie auch an Minneapolis vorbei nach North Dakota gefahren sein. Achthundert Meilen von Chicago, irgendwo auf einem riesigen Kreisbogen, der sich über den ganzen Kontinent erstreckte.

 

Durch die Schusslöcher im Dach kam schon seit Stunden kein Licht mehr herein, als der Lieferwagen schließlich langsamer wurde und nach rechts steuerte. Eine Auffahrt hinauf. Holly regte sich und drehte den Kopf. Sah Reacher an. In ihren Augen standen Fragen. Reacher zuckte die Schultern und wartete. Der Lieferwagen bog nach rechts. Rollte eine gerade Straße hinunter, bog nach links, dann nach rechts und fuhr wieder auf geradem Kurs weiter, aber jetzt noch langsamer. Reacher setzte sich auf und holte sich sein Hemd. Schlüpfte hinein. Holly setzte sich ebenfalls auf.

»Wieder ein Versteck«, sagte sie. »Das ist eine gut geplante Operation, Reacher.«

Diesmal war es eine Pferdefarm. Der Lieferwagen polterte über eine längere Zufahrt und bog dann ab. Fuhr rückwärts. Reacher hörte, wie einer der Männer ausstieg. Seine Tür knallte zu. Der Lieferwagen ruckelte langsam noch weiter zurück, offenbar wieder in irgendein Gebäude. Reacher hörte, wie das Auspuffgeräusch von den Wänden widerhallte. Holly stieg Pferdegeruch in die Nase. Der Motor verstummte. Die beiden anderen Männer stiegen aus. Reacher hörte, wie sie sich alle drei hinten an dem Lieferwagen versammelten. Der Schlüssel glitt ins Schloss. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Die Schrotflinte schob sich durch den Spalt herein, diesmal war sie nicht nach oben gerichtet. Sie zielte waagrecht auf sie.

»Raus!«, rief Loder. »Die Schlampe zuerst. Allein.«

Holly fuhr zusammen. Dann hob sie zu Reacher gewandt die Schultern und rutschte über die Matratzen. Die Tür öffnete sich weit, und zwei Paar Hände packten sie und zerrten sie hinaus. Jetzt wurde der Fahrer sichtbar, zielte mit seiner Schrotflinte auf Reacher. Sein Finger lag am Abzug.

»Tu etwas, Arschloch«, sagte er. »Bitte, gib mir einen verdammten Vorwand.«

Reacher starrte ihn an. Wartete fünf lange Minuten. Dann machte die Schrotflinte eine ruckartige Bewegung. Eine Glock erschien dicht daneben. Loder gestikulierte, und Reacher bewegte sich langsam nach vorn auf die beiden Mündungen zu. Loder beugte sich hinein und ließ Handschellen um seine Handgelenke zuschnappen. Benutzte die Kette dazu, ihn aus dem Lieferwagen zu zerren. Sie befanden sich in einer Pferdescheune. Es war ein Holzbau. Viel kleiner als der Kuhstall an ihrem letzten Haltepunkt. Viel älter. Die Scheune stammte aus einer noch früheren Generation der Landwirtschaft. Es gab zwei Reihen von Boxen, die beiderseits eines Mittelgangs angeordnet waren. Der Boden bestand aus einer Art Kopfsteinpflaster. Mit grünem Moos in den Fugen.

Der Mittelgang war breit genug für Pferde, aber nicht breit genug für den Lieferwagen. Der stand dicht hinter der Tür. Reacher sah ein Stück Himmel, das konnte überall sein. Er wurde wie ein Pferd über das Kopfsteinpflaster geführt. Loder hielt die Kette. Stevie ging seitwärts von ihm, dicht neben Reacher. Seine Glock presste sich gegen Reachers Schläfe. Dahinter kam der Fahrer und drückte die Schrotflinte in Reachers Nieren. An der letzten Box, der, die am weitesten von der Tür entfernt war, blieben sie stehen. Holly war in der Box gegenüber angekettet. Sie trug eine Handschelle am rechten Handgelenk mit einer Kette, die durch die andere Hälfte der Handschelle geführt war und an einem in der Hinterwand der Box in die Wand eingelassenen eisernen Ring befestigt wurde.

Die beiden Männer mit den Pistolen traten ein paar Schritte zurück, und Loder stieß Reacher in seine Box. Schloss die Handschelle mit dem Schlüssel auf. Zog die Kette durch den mit dem Balken an der Hinterwand verschraubten Eisenring, zog sie noch einmal durch und schloss sie dann an die Handschelle an. Er zog daran und schüttelte sie, um sich zu vergewissern, dass die Kette hielt.

»Matratzen«, sagte Reacher. »Bringen Sie uns die Matratzen aus dem Lieferwagen!«

Loder schüttelte den Kopf, aber der Fahrer lächelte und nickte.

»Okay«, sagte er. »Gute Idee, Arschloch.«

Er kletterte in den Wagen und zerrte die kleinere der beiden Matratzen heraus. Mühte sich mit ihr durch den ganzen Stall und warf sie ins Hollys Box. Trat sie mit den Füßen zurecht.

»Die Schlampe kriegt eine«, sagte er. »Du nicht.«

Er fing zu lachen an, und die beiden anderen lachten mit. Dann gingen sie zusammen den Mittelgang hinunter. Der Fahrer steuerte den Lieferwagen aus der Scheune nach draußen; die schweren Tore schlossen sich ächzend hinter ihnen. Reacher hörte, wie draußen ein schwerer Querbalken heruntergelassen wurde, dann das Klirren einer weiteren Kette und eines Vorhängeschlosses. Er sah zu Holly hinüber und blickte dann auf den feuchten Steinboden hinab.

 

Reacher kauerte eingezwängt in der hinteren Ecke der Box und wartete darauf, dass die drei Männer mit dem Abendessen zurückkamen. Sie trafen nach einer Stunde ein. Mit einer Glock und der Schrotflinte. Und einem blechernen Essensträger. Stevie kam damit herein. Der Fahrer nahm ihn ihm ab und reichte ihn Holly. Dann stand er einen Augenblick lang da und musterte sie feixend, ehe er sich zu Reacher herumdrehte und mit der Schrotflinte auf ihn deutete.

»Die Schlampe kriegt zu essen«, sagte er. »Du nicht.«

Reacher stand nicht auf. Er zuckte bloß im Halbdunkel die Schultern.

»Das werde ich wohl überleben«, sagte er.

Niemand antwortete darauf. Sie trotteten bloß wieder hinaus. Schoben die schweren Türflügel zu. Ließen den Querbalken herunterfallen und ketteten ihn fest. Reacher hörte zu, wie ihre Schritte verhallten, und drehte sich dann zu Holly herum.

»Was ist es denn?«, fragte er.

»Irgend so ein dünner Eintopf«, sagte sie. »Oder eine dünne Suppe, denke ich. Das eine oder das andere. Wollen Sie was abhaben?«

»Haben die Ihnen eine Gabel gegeben?«, fragte er.

»Nein, einen Löffel.«

»Scheiße«, sagte er. »Mit einem Löffel kann ich nichts anfangen.«

»Wollen Sie was abhaben?«, fragte sie noch einmal.

»Können Sie es mir rüberreichen?«, fragte er.

Sie aß eine Weile und streckte sich dann. Zog mit dem einen Arm die Kette so weit es ging und schob mit dem anderen das Essgeschirr über den Boden. Dann drehte sie sich halb herum und benutzte ihren unverletzten Fuß, um das Blechgeschirr weiterzuschieben. Reacher machte sich lang, so weit seine Kette das zuließ. Aber es war hoffnungslos. Er war einen Meter dreiundneunzig groß, und seine Arme waren so ziemlich die längsten, die die Schneider der Army je zu sehen bekommen hatten, trotzdem fehlte ein reichlicher Meter. Er und Holly hatten sich beide so weit ausgestreckt, wie ihre Ketten das zuließen, aber das Essgeschirr war trotzdem noch außerhalb seiner Reichweite.

»Vergessen Sie es«, sagte er. »Holen Sie es sich zurück, solange es noch geht.«

Sie hakte ihren Fuß um das Geschirr und zog es wieder zu sich her.

»Tut mir Leid«, sagte sie. »Sie werden hungrig bleiben.«

»Ich werd’s überleben«, meinte er. »Schmeckt wahrscheinlich ohnehin scheußlich.«

»Stimmt.« Sie nickte. »Scheußlich. Wie Hundefutter.«

Reacher starrte durch die Finsternis zu ihr hinüber. Plötzlich war er beunruhigt.

 

Holly legte sich kleinlaut auf ihre Matratze und schlief nach einer Weile ein, aber Reacher blieb wach. Nicht wegen des Steinbodens. Er war kalt und feucht und hart. Und das Kopfsteinpflaster war scheußlich uneben. Aber das war nicht der Grund. Er wartete auf etwas. Es war, als würden die Minuten in seinem Kopf dahinticken, und er wartete. Er vermutete, dass es vielleicht drei Stunden dauern würde, möglicherweise auch vier. Bis zu den frühen Morgenstunden.

Ein langes Warten. Die dreizehntausendsiebenhundertundeinundsechzigste Nacht seines Lebens, ganz im unteren Drittel der Skala, wach daliegend und darauf wartend, dass etwas passierte. Etwas Schlimmes, und er würde möglicherweise keine Chance haben, es zu verhindern. Es würde kommen. Er war sich dessen ganz sicher. Er hatte die Anzeichen gesehen. Er lag da und wartete darauf, und die Minuten tickten dahin. Drei Stunden, vielleicht vier.

 

Es geschah nach drei Stunden und vierundfünfzig Minuten. Der namenlose Fahrer kam in die Scheune zurück. Hellwach und allein. Reacher hörte seine leisen Schritte draußen auf dem Weg. Er hörte das Klappern des Vorhängeschlosses und der Kette. Er hörte, wie er den schweren Querbalken aus seiner Halterung hob. Die Scheunentür ging auf. Ein Streifen helles Mondlicht fiel herein. Der Fahrer trat durch das Mondlicht. Reacher sah sein rosafarbenes Schweinchengesicht aufleuchten. Der Mann hastete den Mittelgang hinunter. Keine Waffe in der Hand.

»Ich beobachte Sie«, sagte Reacher leise. »Zurück, oder Sie sind ein toter Mann.«

Der Mann blieb stehen. Er war kein völliger Schwachkopf. Er blieb außer Reichweite. Seine wachen Augen wanderten von der Handschelle an Reachers Handgelenk an der Kette entlang und verharrten schließlich an dem Eisenring in der Wand. Dann lächelte er.

»Kannst ja zusehen, wenn du Lust hast«, sagte er. »Ich habe nichts gegen Zuschauer. Und am Ende lernst du noch was.«

Holly regte sich im Schlaf und wachte auf. Hob den Kopf und sah sich um, riss in der Dunkelheit die Augen auf.

»Was geht hier vor?«, fragte sie.

Der Fahrer drehte sich zu ihr herum. Reacher konnte sein Gesicht nicht sehen. Es war von ihm abgewandt. Aber das Hollys konnte er sehen.

»Wir werden unseren kleinen Spaß haben, Schlampe«, sagte der Fahrer. »Bloß du und ich. Und dein Freund hier, das Arschloch, wird zusehen und was lernen.«

Er griff an seinen Gürtel und schnallte ihn auf. Holly starrte ihn an. Schickte sich an, sich aufzusetzen.

»Das muss wohl ein Witz sein«, sagte sie. »Wenn Sie in meine Nähe kommen, bringe ich Sie um.«

»Das würdest du doch nicht tun«, sagte der Fahrer. »Nicht wahr, das würdest du doch nicht? Wo ich dir doch eine Matratze gebracht habe und so? Damit wir es bequem haben, wenn wir es tun.«

Reacher stand in seiner Box auf. Seine Kette klirrte laut durch die nächtliche Stille.

»Ich bringe Sie um«, sagte er. »Wenn Sie sie anrühren, sind Sie ein toter Mann.«

Er sagte es einmal, und dann sagte er es noch einmal. Aber es war, als ob der andere ihn nicht hören würde. Als ob er taub wäre. Reacher verspürte eine eisige Aufwallung von Angst. Wenn der Mann nicht auf ihn hörte, würde er nichts unternehmen können. Er schüttelte seine Kette. Sie klirrte laut durch die Stille der Nacht. Doch das hatte keine Wirkung. Der Mann ignorierte ihn einfach.

»Wenn Sie in meine Nähe kommen, bringe ich Sie um«, sagte Holly erneut.

Ihr Bein behinderte sie. Sie stand mühsam auf. Der Fahrer sprang mit einem Satz in ihre Box. Hob den Fuß und trat ihr gegen das Knie. Sie schrie auf, sackte zusammen und rollte sich ein wie ein Ball.

»Du wirst jetzt tun, was ich dir sage, Schlampe«, sagte der Fahrer. »Genau was ich dir sage, sonst wirst du nie wieder gehen können.«

Hollys Schrei verhallte und ging in ein leises Schluchzen über. Der Fahrer holte mit dem Fuß aus und zielte sorgfältig auf ihr Knie, so als wollte er ein Tor schießen. Sie schrie erneut.

»Sie sind ein toter Mann!«, brüllte Reacher.

Der Fahrer drehte sich herum und sah ihn an. Grinste breit.

»Du hältst jetzt dein Maul«, sagte er. »Noch ein Ton und die Schlampe büßt das, okay?«

Seine Gürtelenden hingen herunter. Er ballte beide Fäuste und stemmte sie in die Hüften. Sein großes, gerötetes Gesicht glühte förmlich. Die Haare standen ihm zu Berge, als ob er sie gerade gewaschen und zurückgekämmt hätte. Er drehte den Kopf herum und sprach über die Schulter zu Holly.

»Hast du unter diesem Kostüm was an?«, fragte er sie.

Holly gab keine Antwort. In der Scheune herrschte Stille. Jetzt drehte der Fahrer sich zu ihr herum. Reacher sah, wie sie jede seiner Bewegungen verfolgte.

»Ich hab dich was gefragt, du Schlampe«, sagte er. »Willst du noch einen Tritt?«

Sie gab keine Antwort. Ihr Atem ging schwer. Sie kämpfte gegen ihre Schmerzen an. Der Fahrer zog den Reißverschluss an seiner Hose auf. Es war ein lautes Geräusch. Es übertönte den schweren Atem der drei Leute in der Scheune.

»Siehst du das?«, fragte er. »Weißt du, was das ist?«

»Na ja«, murmelte Holly. »Es erinnert ein wenig an einen Penis, bloß kleiner.«

Er starrte sie mit großen Augen an. Dann stieß er einen wütenden Schrei aus, sprang mit einem Satz in ihre Box und holte mit dem Fuß aus. Holly duckte sich weg. Sein Fußtritt traf etwas. Er taumelte, verlor das Gleichgewicht. Hollys Augen verengten sich und funkelten triumphierend. Sie sprang vor und rammte ihm den Ellbogen in den Leib. Sie machte es genau richtig. Nutzte seinen eigenen Schwung gegen ihn und setzte ihr eigenes Gewicht ein, als ob sie ihm seine Wirbelsäule durch den Rücken treiben wollte. Der Schlag traf ihn mit aller Wucht und der Mann stöhnte auf und wurde zurückgeschleudert.

Reacher stieß einen bewundernden Laut aus. Bewundernd und zugleich erleichtert. Ich hätte das selbst nicht besser machen können, Kleines, dachte er. Der Mann keuchte. Reacher sah sein vor Schmerz verzerrtes Gesicht. Holly bleckte triumphierend die Zähne. Sie krabbelte auf einem Knie hinter ihm her. Wollte ihm einen Tritt in den Unterleib verpassen, warf sich erneut auf ihn. Der Mann drehte sich zur Seite, und der Tritt traf ihn am Schenkel. Holly hatte das so geplant. Jetzt war seine Kehle ungedeckt, lud ihren Ellbogen förmlich ein. Reacher sah es und Holly sah es. Sie zielte. Der tödliche Schlag. Er würde ihm den Kopf abreißen. Sie holte Schwung – und dann spannte sich ihre Kette und ließ sie zurückfahren, klirrte gegen den eisernen Ring und riss sie zurück.

Reachers Grinsen erstarrte. Der Mann taumelte außer Reichweite. Ließ sich zusammensacken, keuchte und holte Atem. Dann richtete er sich auf und zog seine Hose höher. Holly stand ihm gegenüber, die eine Hand zum Schlag erhoben. Ihre Kette war gespannt, vibrierte förmlich von der Spannung, die sie ausübte.

»Ich mag es, wenn die Weiber sich wehren«, keuchte der Mann. »Das macht es interessant. Aber pass nur auf, dass du noch ein wenig Energie für später übrig hast. Ich will nicht, dass du einfach bloß daliegst.«

Holly funkelte ihn an, ihr Atem ging schwer, heiser vor Angriffslust. Aber sie hatte nur eine Hand zur Verfügung. Der Mann rückte wieder näher, und sie schlug zu. Sehr schnell. Er wich nach links aus und blockte den Schlag ab. Sie konnte nicht nachsetzen. Ihr anderer Arm hing in der Handschelle. Er hob den Fuß und versuchte ihr in den Bauch zu treten, doch sie duckte sich weg. Er trat erneut zu und taumelte gegen ihren Ellbogen, der ihm hart gegen das Ohr krachte. Es war der falsche Ellbogen, wegen ihrer unmöglichen Position ohne Kraft dahinter. Ein armseliger Schlag, der ihr noch dazu das Gleichgewicht nahm. Der Fahrer rückte näher und trat ihr in den Leib. Sie ging zu Boden. Er trat erneut zu und erwischte ihr Knie. Reacher hörte es krachen. Sie schrie auf. Brach auf der Matratze zusammen. Der Fahrer atmete schnell und stand über ihr.

»Ich hab dich was gefragt«, sagte er.

Holly war totenbleich und zitterte. Sie wand sich auf der Matratze, den einen Arm hinter ihr gefangen und keuchte vor Schmerz. Reacher sah ihr Gesicht in dem schmalen Streifen Mondlicht aufblitzen.

»Ich warte, Schlampe«, sagte der Mann.

Reacher sah ihr Gesicht wieder. Sah, dass sie erledigt war. Ihr Kampfgeist war dahin.

»Willst du noch einen Tritt?«, fragte der Fahrer.

In der Scheune herrschte wieder Stille.

»Ich warte auf eine Antwort«, sagte der Mann.

Reacher starrte hinüber, wartete. Immer noch herrschte Stille. Bloß der keuchende Atem von drei Menschen war zu hören. Und dann Hollys Stimme.

»Was willst du wissen?«, sagte sie leise.

Der Fahrer grinste.

»Hast du unter diesem Kostüm etwas an?«

Holly nickte. Sie sagte nichts.

»Okay, was?«

»Unterwäsche.« Sehr leise.

Der Mann hielt sich die Hand ans Ohr.

»Ich kann dich nicht hören, Schlampe«, sagte er.

»Ich trage Unterwäsche, du Mistkerl«, sagte sie lauter.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Du beschimpfst mich ja«, sagte er. »Dafür wirst du dich entschuldigen müssen.«

»Du kannst mich mal«, sagte Holly.

»Ich werde dir noch einen Tritt verpassen«, erwiderte der Mann. »Gegen dein Knie. Wenn ich das tue, wirst du nie mehr ohne Stock gehen können, solang du lebst, du Schlampe.«

Holly sah weg.

»Kannst es dir aussuchen, Schlampe«, sagte der Mann.

Er hob den Fuß. Holly starrte auf die Matratze hinunter.

»Okay, ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie. »Es tut mir Leid.«

Der Mann nickte zufrieden.

»Beschreib mir deine Unterwäsche«, sagte er. »Aber mit allen Einzelheiten.«

Sie zuckte die Schultern. Wandte ihr Gesicht ab und sprach zu der Bretterwand gewandt.

»BH und Höschen«, sagte sie. »Victoria Secret. Apricotfarben.«

»Knapp?«, fragte der Fahrer.

Sie zuckte erneut die Schultern, bedrückt, als wisse sie ganz genau, wie die nächste Frage lauten würde.

»Ich denke schon«, sagte sie.

»Willst du sie mir zeigen?«, fragte der Mann.

»Nein«, sagte sie.

Er trat einen Schritt näher.

»Dann willst du wohl wieder einen Tritt?«, sagte er.

Sie blieb stumm. Der Mann hielt sich wieder die Hand ans Ohr.

»Ich kann dich nicht hören, Schlampe«, sagte er.

»Wie war die Frage?«, murmelte Holly.

»Ob du noch einen Tritt willst?«

Holly schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Okay«, sagte er. »Dann zeig mir deine Wäsche, dann kriegst du keinen.«

Er hob den Fuß. Holly hob die Hand. Sie griff an den obersten Knopf ihres Kostüms. Reacher beobachtete sie. Ihre Jacke hatte fünf Knöpfe. Reacher versuchte ihr zu suggerieren, jeden einzelnen Knopf langsam und rhythmisch zu öffnen. Das war wichtig, lebenswichtig. Langsam und rhythmisch, Holly, konzentrierte er sich stumm. Er packte seine Kette mit beiden Händen. Anderthalb Meter von der Stelle, wo sie durch den eisernen Ring an der hinteren Wand geführt war. Er spannte beide Hände um die Kettenglieder.

Sie öffnete den obersten Knopf. Reacher zählte: Eins. Der Fahrer sah lüstern auf sie hinunter. Ihre Hand schob sich an den nächsten Knopf. Wieder spannte Reacher beide Hände um die Kette. Sie öffnete den zweiten Knopf. Reacher zählte: Zwei. Ihre Hand schob sich zum dritten Knopf. Reacher drehte sich zur Hinterwand seiner Box und atmete tief. Wandte dabei den Kopf herum und beobachtete das Geschehen über die Schulter. Holly knöpfte den dritten Knopf auf. Jetzt war die Rundung ihrer Brüste zu sehen. Apricotfarbener BH, spitzenbesetzt und knapp. Der Fahrer tänzelte von einem Fuß auf den anderen. Reacher zählte: Drei. Er atmete aus den Tiefen seiner Lunge aus. Hollys Hand glitt zum vierten Knopf. Reacher atmete tief durch, den tiefsten Atemzug, den er in seinem ganzen Leben getan hatte. Seine Hände spannten sich um die Kette, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Holly öffnete den vierten Knopf. Reacher zählte: Vier. Ihre Hand glitt nach unten. Hielt kurz inne. Wartete. Öffnete den fünften Knopf. Jetzt war ihre Kostümjacke ganz geöffnet. Der Fahrer starrte sie lüstern an und begann zu keuchen. Reacher zuckte zurück und schmetterte seinen Fuß gegen die Wand. Unmittelbar unter den eisernen Ring. Er warf sein ganzes Gewicht rückwärts gegen die Kette, hundert Kilo geballter Wut explodierten. Feuchte Holzsplitter barsten aus der Wand. Die Bohlen zersplitterten. Die Schrauben fetzten aus dem Holz. Reacher wurde nach rückwärts geschleudert. Er rappelte sich hoch und seine Kette peitschte zornig hinter ihm.

»Fünf!«, brüllte er und machte einen Satz.

Er packte den Fahrer am Arm und schleuderte ihn in seine Box. Warf ihn gegen die hintere Wand. Der Mann wurde dagegen geschmettert und hing dort wie eine zerbrochene Puppe. Er taumelte nach vorn, und Reacher versetzte ihm einen Tritt in den Leib. Der Mann knickte zusammen wie ein Taschenmesser, flog einen halben Meter durch die Luft und krachte flach aufs Gesicht. Reacher griff sich das Ende der Kette, so dass sie jetzt doppelt stark war, und schwang sie durch die Luft. Zielte wie mit einer riesigen Metallpeitsche mit ihrer ganzen todbringenden Länge auf den Kopf des Mannes. Der eiserne Ring wurde von der Zentrifugalkraft nach außen getragen wie bei einer mittelalterlichen Waffe. Doch Reacher überlegte es sich im letzten Augenblick anders. Riss die Kette aus ihrer Bahn und ließ sie krachend und Funken sprühend auf den Steinboden schmettern. Er packte den Fahrer mit der einen Hand am Kragen und der anderen im Haar. Hob ihn hoch wie eine Puppe und warf ihn auf der anderen Seite des Mittelgangs auf Hollys Matratze. Presste sein hässliches Gesicht in den weichen Stoff und drückte es hinunter, bis er erstickte. Der Mann bäumte sich auf, schlug mit Händen und Füßen um sich, aber Reacher drückte nur seine mächtige Pranke hinten auf seinen Schädel und wartete geduldig, bis er starb.

 

Holly starrte mit glasigen Augen auf die Leiche, und Reacher saß keuchend neben ihr. Die Explosion von Kraft, die er in sich ausgelöst hatte, um damit den Eisenring aus der Wand zu reißen, hatte ihn ausgepumpt, und er war jetzt schlaff. Es war ein Gefühl, als ob sich ein ganzes Leben körperlicher Anstrengung im Bruchteil einer Sekunde entladen hätte. Die Uhr in seinem Kopf war explodiert und zum Stillstand gekommen. Er hatte keine Ahnung, wie lang sie schon dagesessen hatten, schüttelte sich schließlich und stand taumelnd auf. Zerrte die Leiche weg und ließ sie im Mittelgang nahe bei der offenen Tür liegen. Dann ging er zurück und kauerte sich neben Holly nieder. Seine Finger waren von dem verzweifelten Griff, mit dem er sie in die Kette gekrallt hatte, angeschwollen und wund, aber er zwang sie, feinfühlig zu sein. Langsam knöpfte er all ihre Knöpfe wieder zu, einen nach dem anderen, bis ganz nach oben. Ihr Atem ging kurz und schnell. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich. Ihr Atem sog an seinem Hemd und blies dagegen.

Sie hielten einander einen endlosen Augenblick lang fest. Er spürte, wie die Wut langsam aus ihr herausfloß. Dann ließen sie einander los und saßen nebeneinander auf der Matratze, starrten ins Halbdunkel. Bis sie sich zu ihm rumdrehte und ihre kleine Hand auf seine legte.

»Jetzt stehe ich wohl in Ihrer Schuld«, sagte sie.

»War mir ein Vergnügen«, sagte Reacher. »He, das können Sie mir glauben.«

»Ich habe Hilfe gebraucht«, sagte sie leise, »Ich habe mir etwas vorgemacht.«

Er schloss seine Hand um die ihre.

»Blödsinn, Holly«, sagte er mit sanfter Stimme. »Von Zeit zu Zeit brauchen wir alle Hilfe. Denken Sie sich nichts dabei. Wenn Sie fit wären, hätten Sie ihn erledigt. Das konnte ich erkennen. Ein Arm und ein Bein, Sie hatten es beinahe geschafft. Es ist bloß Ihr Knie. Bei solchen Schmerzen haben Sie keine Chance. Glauben Sie mir, ich weiß, wie das ist. Nach der Sache in Beirut hätte ich beinahe ein Jahr lang nicht einmal einem Baby ein Stück Schokolade wegnehmen können.«

Sie lächelte und drückte seine Hand. Die Uhr in seinem Kopf sprang wieder an. Bald würde der Morgen dämmern.