9
Rauh hatte sich auf den Stuhl neben Jan gesetzt.
Jan hatte die Augen geschlossen und befand sich in tiefer Trance.
Entspannt saß er im Sessel, und seine Hände umfassten locker die
Armlehnen.
»Welchen Tag haben wir, Jan?«
Wie so oft bei Klienten, die in ihre Kindheit
versetzt wurden, klang Forstners Stimme höher als üblich. »Es ist
Freitag.«
»Welches Datum haben wir?«
»Den 11. Januar 1985.«
»Wo sind Sie?«
Die Augen noch immer geschlossen, hob Jan
verwundert die Brauen. »He, warum sagst du Sie zu mir? So sagt doch
sonst keiner.«
»Soll ich lieber du sagen?«
»Klar doch.«
»Also gut, Jan, wo bist du gerade?«
»Na hier. In meinem Zimmer.«
»Und wo genau?«
»An meinem Schreibtisch vor dem Fenster.«
»Ist jemand bei dir?«
»Ja. Sven ist da.«
»Sven ist dein Bruder?«
Jan grinste schelmisch. »Nee, er ist ein
Zwerg.«
»Was macht er?«
»Sitzt auf meinem Bett und spielt mit seiner
He-Man-Figur.«
»Und was machst du?«
»Ich sitze am Tisch und lese in einem Buch.«
Urplötzlich zuckte Jan zusammen. Seine Finger
packten die Lehnen, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Rauh war dicht bei ihm, um ihn notfalls sofort
zurückzuholen, wenn Jans Erregung eskalieren sollte. Anscheinend
war Jan in seiner Erinnerung auf etwas gestoßen, das ihm Angst
machte.
»Jan, was ist los mit dir?«
Jan warf den Kopf hin und her.
»O nein«, stöhnte er. »Dieses Buch … dieses
Buch!«
»Was ist das für ein Buch, Jan?«
Jan begann zu schluchzen, seine Brust bebte. Rauh
konnte erkennen, dass sich Jan gegen diese Erinnerung zur Wehr
setzte. Doch die Trance war tief genug, dies zu verhindern. Es
dauerte eine Weile, ehe Jan wieder zu Worten fand.
»Das dämliche Buch ist schuld!« Sein Gesicht
verzerrte sich zu einer Grimasse aus Angst und Abscheu, dann brach
er in Tränen aus.
Rauh sprach besänftigend auf ihn ein. Alles sei in
Ordnung. Was immer er jetzt auch sehen werde, es sei bereits
geschehen. Nichts davon könne ihm noch etwas anhaben.
Allmählich wurde Jan wieder ruhiger. Sein
verkrampfter Griff löste sich. Rauh gab ihm Zeit, bis sich seine
Atmung wieder normalisiert hatte, dann fragte er: »Bist du bereit,
weiterzumachen?«
»Ja.«
»Du hast ein Buch erwähnt. Warum denkst du, es sei
an allem schuld?«
»Weil es mich dazu gebracht hat, wieder in den Park
zu gehen.« Jans Stimme war ein Flüstern. Ein Schauer durchlief
seinen Körper, dann schrie er: »Hätte ich dieses scheiß Buch nicht
gelesen, wäre ich nicht noch einmal in den Park gegangen!«
»Was ist damals im Park geschehen, Jan?«
Wieder brach Jan in Schluchzen aus. »Ich … ich …
ich kann nicht.«
»Doch, du kannst. Dir wird nichts passieren, glaub
mir.«
Einen Moment zögerte Jan, dann meldete sich die
schüchterne Jungenstimme zurück. »Wirklich nicht?«
»Ganz bestimmt nicht. Erzähl mir, was du
siehst.«
Jan biss sich auf die Unterlippe und schien zu
überlegen. »Also gut.«
Es war das letzte Wochenende der Weihnachtsferien.
Am Montag würde die Schule wieder beginnen und der Alltag seinen
Lauf nehmen, auch wenn sich Jan an diesem Freitagabend nicht
vorstellen konnte, dass es jemals wieder so etwas wie Alltag für
ihn geben würde.
Wäre alles wie sonst gewesen, hätte er beim
Gedanken an die Schule ein ungutes Gefühl gehabt. Genauer gesagt
ein schlechtes Gewissen, denn eigentlich hätte er während der
Ferien Latein büffeln sollen. In allen Fächern kam er gut zurecht,
aber Latein war eine einzige Qual. Warum lernte man eine tote
Sprache, die zu nichts zu gebrauchen war, es sei denn, man wollte
Priester werden
- und nichts lag ihm ferner. Also hatte Jan das Lernen immer
wieder verschoben - so lange, bis die Ferien schließlich vorbei
waren und das Lateinbuch noch immer unangerührt in der Schultasche
lauerte.
Doch an diesem Freitag waren ihm die Schule und der
Lateinunterricht völlig gleichgültig. Was für eine Bedeutung hatte
das schon, wenn man am Tag zuvor den Tod eines Menschen miterlebt
hatte.
Noch stundenlang hatte Jan am ganzen Leib
gezittert, und sein Vater hatte ihm erklärt, dass dieses Zittern
von dem Schock herrühre.
Die Auswirkungen des Schocks ließen erst nach, als
sich Jan im Laufe des Vormittags mit einem Polizisten über
Alexandras Tod unterhalten hatte. Anfangs war Jans Mutter dagegen
gewesen, weil sie der Meinung war, Jan brauche zunächst vor allem
Ruhe - und außerdem war Jans Vater wieder in der Klinik, als die
Polizei bei den Forstners geklingelt hatte. Aber dann war sie bei
Jan geblieben, hatte sich neben ihn gesetzt und ihn in den Arm
genommen, als Jan von seiner nächtlichen Begegnung im Park
berichtete.
Der Polizist war ein netter Mann mit freundlichen
Augen gewesen, der Jan erzählte, dass er einen Sohn in seinem Alter
habe. Geduldig hörte er sich Jans Schilderungen an, stellte nur hin
und wieder eine kurze Frage und ließ Jan so viel Zeit, wie er
brauchte, um sich an alles zu erinnern. Danach sagte der Polizist,
Jan könne mächtig stolz auf sich sein - immerhin habe er in dieser,
wie er es nannte, »prekären Situation« den Kopf behalten und unter
Einsatz seines eigenen Lebens versucht, Alexandra zu retten. Damit
habe er großen Mut bewiesen.
Jan hatte zwar nicht gewusst, was »prekär«
bedeutete, aber von einem Polizisten für seinen Mut gelobt zu
werden, hatte ihm sehr gefallen. Danach hatte er sich wieder
besser gefühlt und nicht mehr gezittert, auch wenn ihm sehr wohl
klar war, dass all sein Mut nichts an der Tatsache änderte, dass
Alexandra im eisigen Wasser des Fahlenberger Weihers ertrunken
war.
»Was er jetzt wohl macht?«, wollte Sven
wissen.
Jan sah zu seinem kleinen Bruder, der im
Schneidersitz auf Jans Bett hockte und die Gelenke seiner
He-Man-Figur so verbogen hatte, dass es aussah, als wolle der
muskelbepackte Held einen Luftsprung machen.
Sven war eine Frühgeburt gewesen, und noch immer
war er kleiner als seine Altersgenossen. Wollte man ihn auf die
Palme bringen, musste man ihn nur »Zwerg« nennen, was Jan weidlich
ausnutzte. Doch jetzt, unter dem riesigen Nik-Kershaw-Poster, das
hinter ihm an der Wand hing - gleich neben Darth Vader, Madonna und
Adam Ant -, sah der Sechsjährige mit dem blonden Struwwelkopf
tatsächlich wie ein Zwerg aus. Er war bleich und zusammengesunken
und sichtlich erschüttert von den Ereignissen.
»Wen meinst du?«
Sven deutete mit dem Kopf zum Fenster. »Na,
Kermit.«
Jan folgte dem Blick seines Bruders und sah zu
Marenburgs Haus hinüber. Nur in dem Fenster, das Jans Zimmer
gegenüberlag, brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen, doch
wenn man genau hinsah, konnte man schwach die Silhouette eines
Menschen erkennen.
»Er sitzt an ihrem Tisch.«
»Glaubst du, er weint?«
Jan zuckte die Schultern. Er war sich nicht sicher,
ob ein Mann wie Marenburg weinte, konnte es sich aber durchaus
vorstellen.
»Vielleicht.«
»Warum hat sie das getan?«
Dasselbe hatte Jan seinen Vater gefragt, und so
wiederholte er, was dieser ihm geantwortet hatte. »Sie war geistig
verwirrt. Da hat sie nicht mehr gewusst, was sie getan hat.«
Jan hoffte, dass es überzeugend klang, auch wenn er
selbst nicht mit dieser Erklärung zufrieden war. Aber im Moment war
ihm einfach nicht danach, die Fragen seines kleinen Bruders zu
beantworten. Am liebsten hätte er jetzt überhaupt nicht gesprochen.
Er wollte Sven aber auch nicht aus seinem Zimmer schicken, da es
guttat, jemanden in der Nähe zu haben.
»Und warum wird jemand so?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Jan seufzend. Er
hätte jetzt gern in seinem Buch weitergelesen. »So etwas musst du
Papa fragen, der ist der Experte.«
»Ach der.« Sven verbog seine Figur erneut, und nun
sah He-Man aus, als müsse er mal dringend für kleine Helden. »Der
ist doch immer am Arbeiten und hat keine Zeit. Oder er sagt, ich
sei noch zu klein, um das zu verstehen.«
Jan lag die Bemerkung auf der Zunge, dass ihr Vater
damit womöglich Recht hatte. Doch bevor er etwas entgegnen konnte,
kam Angelika Forstner ins Zimmer.
»Na, ihr beiden? Wie geht es euch? Hast du deinen
Tee getrunken, Jan?«
Seufzend sah Jan zu der Thermoskanne auf seinem
Schreibtisch. Sie musste noch ungefähr halbvoll sein und enthielt
Jans dritte Portion Tee an diesem Tag. Drei Liter Tee - Himmel, ihm
kam das Zeug schon zu den Ohren heraus. Wenn sie wenigstens dulden
würde, dass er etwas Zucker in die Kanne gab. Nur einen oder zwei
Löffel.
Aber nein, das war ja schlecht für die Zähne. Und wir wollen
doch kein Gebiss bekommen, das aussieht wie ein Trümmerfeld,
Schätzchen.
Missmutig betrachtete er die Kanne und seine Tasse
mit dem Alf-Motiv, in der sich noch ein kalter Rest Tee
befand.
»Na komm schon, Schätzchen, trink das aus, und ich
mache dir noch eine Kanne.«
Sven prustete in die vorgehaltene Hand, und Jan
streckte ihm die Zunge heraus.
»Du brauchst viel Flüssigkeit nach dem Schock«,
sagte Angelika Forstner, schnappte sich die Kanne und goss den
restlichen Inhalt in Jans Tasse. Fast wäre die Tasse übergelaufen,
hätte Jan seine Mutter nicht im letzten Moment darauf aufmerksam
gemacht und sein Buch in Sicherheit gebracht.
Jan stellte fest, dass auch sie zu Alexandras
Fenster hinübergesehen hatte. Wahrscheinlich hatte seine Mutter
ebenfalls Marenburgs Umrisse hinter dem Vorhang erkannt. Nun ging
sie um den Tisch herum und zog das Rollo herunter.
»Mama?«, sagte Sven. »Weißt du, warum Alexandra
geistig verwirrt gewesen ist?«
»Nein, Schatz, das weiß ich nicht.« Angelika
Forstner nahm die Metallkanne vom Tisch und betrachtete sie
nachdenklich, als sei dort irgendwo eine überaus wichtige Botschaft
eingraviert. »Ihr solltet auch nicht euren Vater mit Fragen
bedrängen. Auch ihn hat das alles sehr mitgenommen. Denkt jetzt an
etwas anderes. Ich weiß, das ist nicht einfach, aber das Leben muss
weitergehen. Was geschehen ist, können wir nicht ändern.«
Als seine Mutter daraufhin zur Tür ging, sah Jan
den richtigen Augenblick gekommen, ihr die Frage zu stellen,
die ihm seit seiner Unterhaltung mit dem Vater nicht mehr aus dem
Kopf gehen wollte.
»Gibt sich Papa die Schuld an Alexandras
Tod?«
Angelika Forstner erstarrte in der Tür. Dann wandte
sie sich zu den Jungen um, und Jan glaubte, eine Träne auf ihrer
Wange zu erkennen. Sie musste schlucken, ehe sie antworten
konnte.
»Er glaubt, er hätte es vorhersehen müssen. Niemand
gerät einfach so in Panik, hat er gesagt. Als ihr Arzt fühlt er
sich verantwortlich. Er ist deswegen sehr …«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen sah
sie zu Jan und lächelte gequält. Nun war die Träne deutlich zu
sehen. »Wir müssen ihm Zeit geben. Es ist für uns alle nicht
leicht. Besonders für dich nicht, mein Schatz. Wenn du möchtest,
kannst du nächste Woche noch zu Hause bleiben, bis du dich besser
fühlst.«
»Das ist ungerecht!«, protestierte Sven. Er sei
auch traurig wegen der Sache, also wolle er auch zu Hause bleiben,
forderte er. Doch seine Mutter ging nicht darauf ein, sondern
schickte ihn ins Bett.
Als Jan wenig später allein in seinem Zimmer war,
zog er das Rollo wieder hoch. Noch immer brannte Licht in
Alexandras Zimmer. Im Geiste sah Jan seinen Nachbarn, wie er
zusammengesunken am Tisch seiner toten Tochter saß und
weinte.
Wie es sich wohl anhörte, wenn er weinte? Bestimmt
nicht wie Kermit der Frosch. Nun schämte er sich, ihn jemals so
genannt zu haben. Für Jan war es schlimm gewesen, Alexandra
ertrinken zu sehen, aber wie schlimm musste es erst für einen Vater
sein, der sein einziges Kind verlor - noch dazu auf solch
schreckliche Weise.
Die Suchmannschaften hatten Stunden gebraucht, um
Alexandras Körper zu bergen. Der Weiher hatte zwar
keinen großen Durchmesser, aber er war an manchen Stellen sehr
tief. Jan war selbst schon darin getaucht, und er konnte sehr lange
die Luft anhalten, aber bis zum Grund hatte er es nie
geschafft.
Vor ihm erschien Alexandras Gesicht. Im eisigen
Wasser war es fast weiß. Sie sah ihn aus großen Augen an, und ihr
Mund war weit aufgerissen wie zu einem endlosen Schrei. Das lange
Haar trieb wie schwarze Schlangen um ihren Kopf, und hin und wieder
stieg eine silberne Luftblase daraus zur Oberfläche auf …
Jan schüttelte sich. Nie wieder würde er im Weiher
schwimmen, geschweige denn darin tauchen. Dort unten hing für immer
der tiefgefrorene Schrei einer Toten fest, davon war er
überzeugt.
Er blätterte in seinem Buch und versuchte, sich
abzulenken, was ihm auch bald darauf gelang.
Dieses Buch war sein liebstes Weihnachtsgeschenk
gewesen. Lange genug hatte er darum betteln müssen. Seine Mutter
hatte sich vehement dagegen ausgesprochen, aber Jans Vater musste
sie irgendwann davon überzeugt haben, dass ein Lexikon der
paranormalen Phänomene keine bleibenden Schäden bei ihrem Sohn
hinterlassen würde. Obwohl sie schließlich klein beigegeben hatte,
war seine Mutter nach wie vor der Ansicht, dass das ganze Thema
reiner Unsinn sei.
Jan sah das anders. Sicher, es wurden Dinge in dem
Buch beschrieben, die einfach unglaublich waren - etwa das Phänomen
der Levitation, bei der Menschen ohne jegliche Hilfsmittel
schwebten oder über weite Strecken fliegen konnten. Das wollte Jan
nicht so recht glauben. Nein, an manchen Dingen musste man
zweifeln, aber nicht an allen.
So konnte er sich durchaus vorstellen, dass es
Leben
auf anderen Planeten gab und dass diese anderen Wesen vielleicht
schon einmal auf der Erde zu Besuch gewesen waren. Oder dass etwas
aus grauer Vorzeit in den Tiefen des Loch Ness überlebt haben
könnte.
Aber am meisten faszinierte ihn das Kapitel, das er
gerade las - über die atemberaubende Entdeckung eines Schweden
namens Friedrich Jürgenson. Dieses Kapitel brachte Jan auf eine
Idee, auf die nur ein Zwölfjähriger mit blühender Fantasie kommen
konnte. Und als einige Stunden später Jans Vater nach Hause kam,
war die Idee bereits zu einem fertigen Plan gereift.
»Was tust du jetzt?«, fragte Rauh.
Jan hatte eine Weile geschwiegen. Er kauerte im
Sessel und hatte die Beine an die Brust gezogen. Er hielt sie
umklammert, als sei ihm kalt.
»Ich warte.«
»Worauf wartest du?«
»Auf meinen Vater. Dass er endlich aus seinem
Arbeitszimmer kommt. Ich muss da rein, weißt du.«
»Und warum musst du in das Arbeitszimmer?«
Jan wandte Rauh das Gesicht zu. Er hatte jetzt die
Augen geöffnet, schien aber durch Rauh hindurchzusehen. Nun
lächelte er verschwörerisch und senkte die Stimme.
»Weil sonst mein Plan nicht klappt.«
»Was ist das für ein Plan, Jan? Erzähl mir
davon.«
»Aber du darfst ihn keinem verraten.«
»Versprochen.«
»Wirklich?«
»Großes Ehrenwort.«
Es war kurz nach Mitternacht, als sein Vater
endlich aus dem Arbeitszimmer kam. Mit angewinkelten Beinen
hockte Jan auf seinem Bett und lauschte in die nächtliche Stille
des Hauses hinein. Sven und seine Mutter schliefen längst.
Es hatte eine gereizte Stimmung geherrscht. Nachdem
Bernhard Forstner nach Hause gekommen war, hatte seine Frau ihm
zugeredet, er solle sich die Sache nicht so zu Herzen nehmen. Wenn
er sich weiter derart in den Fall hineinsteigere, werde er sich
noch ein Magengeschwür holen. Er solle jetzt erst einmal essen.
Doch Bernhard Forstner hatte keinen Appetit und zog sich
stattdessen mürrisch in sein Arbeitszimmer zurück. Irgendwann hatte
Angelika Forstner an seine Tür geklopft, um ihm mitzuteilen, dass
sie jetzt zu Bett gehe.
Seither wartete Jan im Dunkeln. Er hatte nicht
gewagt, das Licht anzulassen, da man sonst den hellen Türspalt
gesehen hätte. Auf keinen Fall wollte er, dass seine Mutter oder
sein Vater noch einmal nach ihm sahen. Denn dann hätten sie
bemerkt, dass er noch immer seine Straßenkleider trug.
Jan konnte jetzt hören, wie sein Vater die Tür zum
Arbeitszimmer zuzog. Angespannt wartete er auf das Drehen des
Schlüssels. In dem Fall hätte er seinen Plan begraben können. Doch
statt des Schlosses hörte er die Schritte seines Vaters auf den
Steinfliesen im Erdgeschoss. Gleich darauf vernahm Jan das Klappern
der Flaschen in der Kühlschranktür.
Jan seufzte. Wenn sein Vater nun doch noch Lust auf
die Reste des Abendessens bekommen hatte, würde er sich noch eine
Zeit lang gedulden müssen. Er konnte hören, wie sein Vater sich
etwas in ein Glas eingoss, nach einer kurzen Pause noch einmal, und
dann wurde das Glas im Spülbecken ausgewaschen. Kurz drauf stapfte
Bernhard Forstner die Treppe hoch. Jan schlüpfte vorsorglich
unter die Decke und wartete, ob sein Vater noch einen Blick zu ihm
ins Zimmer werfen würde. Doch dann hörte er die Tür des
Elternschlafzimmers, die vorsichtig geschlossen wurde.
Also gut, dachte Jan. Es kann
losgehen.
Er stieg aus dem Bett, zählte im Geiste bis fünfzig
und trat dann aus dem Zimmer. Der Spalt unter der Schlafzimmertür
war dunkel.
Vorsichtig und jedes Geräusch vermeidend, schlich
Jan die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Er war schon fast unten
angekommen, als er von oben ein leises Knarren hörte. Eine Tür ging
auf. Jan wandte sich erschrocken um. Oben blieb es dunkel.
Dann war ein Tapsen zu hören, und Rufus erschien am
Treppenabsatz. Erleichtert atmete Jan auf und machte dem Vierbeiner
Zeichen, wieder dahin zurückzugehen, wo er hergekommen war. Rufus
schaute ihn nur verständnislos an, gähnte und ließ sich auf den
Hinterläufen nieder.
Jan setzte seinen Weg fort, wobei er darauf
achtete, dass Rufus ihm nicht folgte. Für Rufus war das
Arbeitszimmer tabu, was auch für Jan und Sven galt. Aber wie auch
für die Jungen hatten Tabus für Rufus eine unwiderstehliche
Anziehungskraft - und wenn man sich nicht vorsah, war er, schwups,
schon dort, wo er nicht hindurfte.
Diesmal blieb Rufus jedoch, wo er war, und Jan
schlich in das Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch herrschte ein
heilloses Durcheinander aus Papieren, Ordnern und Fachbüchern,
ebenso auf den beiden Stühlen, die neben dem Tisch standen.
Und ich soll immer mein Zimmer aufräumen,
dachte Jan und besah sich das Chaos. Die Schreibtischlade
klemmte, doch Jan brauchte sie nicht weit herauszuziehen. Was er
suchte, lag ganz vorn, das wusste er sicher.
Fahles Mondlicht fiel durch das Fenster in seinem
Rücken und erhellte das gesuchte Objekt. Es war ein Diktiergerät
der Marke Grundig - eine Stenorette 2000, wie der Aufdruck
an der Unterseite verriet. Jan nahm es aus der Schublade und ließ
die Klappe für die Mikrokassette aufschnappen. Sie war leer.
Mist!
Ungeduldig durchsuchte Jan die Schublade. Er durfte
dabei nichts durcheinanderbringen, denn im Gegensatz zum Drunter
und Drüber auf dem Schreibtisch herrschte hier eine penible
Ordnung. Schließlich fand Jan ein Päckchen mit Leerkassetten, das -
wie sollte es auch anders sein - im hintersten Winkel lag.
Er legte eine Kassette ein und verstaute das
Diktiergerät in seiner Hosentasche. Das Päckchen legte er an seinen
Platz zurück, schob die schwere Lade zu und schlich sich aus dem
Zimmer. Nun hoffte er nur, dass sein Vater das Gerät nicht
ausgerechnet morgen früh brauchen würde.
Zurück auf dem Gang sah Jan die Treppe hoch. Rufus
war nicht mehr da. Wahrscheinlich hatte er sich wieder zu Sven ins
Zimmer gelegt, nachdem er festgestellt hatte, dass sich bei Jan
nichts Spektakuläres zutrug.
Gut so!
Jan schnappte sich Anorak und Handschuhe von der
Garderobe, schlüpfte eilig in seine Moonboots - die er zwar nicht
leiden konnte, weil sie so klobig waren, aber wenigstens waren sie
warm - und huschte dann aus dem Haus.
Eisige Kälte schlug ihm entgegen. Jan zog den
Reißverschluss seines Anoraks hoch, bis der Kragen Mund
und Nase bedeckte. Dann marschierte er los. Irgendwo bellte ein
Hund, und Jan hörte einen herannahenden Dieselmotor. Doch noch
bevor der Lichtkegel des Wagens um die Kurve gekrochen war, befand
sich Jan bereits auf dem Weg, der in den Park führte.
Es war ein seltsames Gefühl, bei dieser Dunkelheit
ohne Rufus unterwegs zu sein. Nicht, dass Rufus je einen besonders
guten Wachhund abgegeben hätte, aber er hätte ihm wenigstens das
Gefühl gegeben, nicht allein zu sein. Besonders jetzt, wo Jan zu
einem Ort unterwegs war, an dem vor noch nicht einmal
vierundzwanzig Stunden ein Mensch gestorben war.
Wenn Jan ehrlich war, dann hatte er die Hosen
gestrichen voll. Aber Rufus hätte ihn bei seinem Vorhaben nur
gestört. Er brauchte absolute Stille, wenn es funktionieren sollte.
Die »Geräuschemissionen« - so hieß das in dem Buch -, die Rufus
zweifellos gemacht hätte, hätten Jans Versuch womöglich scheitern
lassen.
Trotzdem war ihm nicht wohl in seiner Haut. Er
fühlte sich einerseits allein und andererseits auch wieder nicht.
Irgendwie … ja, irgendwie war ihm, als würde er verfolgt.
Abrupt blieb Jan stehen und sah sich um. Der Weg
zum Park lag einsam und verlassen im Licht der Straßenlampen.
Da war niemand. Natürlich war da niemand. Wer außer
ihm sollte schon auf die hirnverbrannte Idee kommen, mitten in der
Nacht und bei dieser Eiseskälte einen Spaziergang in den Park zu
machen? Noch dazu, wo der Wetterdienst für diese Nacht starke
Schneefälle vorhergesagt hatte. Nein, heute Nacht würde der Park
ihm allein gehören. Ihm und …
Da! Ein Geräusch! Schritte auf gefrorenem Schnee.
Jan war sich hundertprozentig sicher. Sie kamen auf ihn zu. Jeder
Irrtum ausgeschlossen.
Jan hatte schon fast den Park erreicht. Nun lief er
los, doch schon nach wenigen Metern verlangsamte er seinen Schritt
wieder.
Was mache ich da eigentlich? Vor wem laufe ich
davon?
Eine gute Frage. Niemand konnte ahnen, dass er hier
war. Wer sollte ihn verfolgen? War es nicht viel wahrscheinlicher,
dass es eben doch Leute gab, die nachts auf dieselbe hirnverbrannte
Idee kamen wie er? Vielleicht war es ein Jogger, der eine etwas
ungewöhnliche Tageszeit für sein Training gewählt hatte.
Wenn er jetzt vor diesem Jemand davonlief, würde er
nur auffallen. Und da sich in dieser Gegend Hinz und Kunz kannten,
würden Jans Eltern spätestens am nächsten Morgen von den
unerlaubten nächtlichen Streifzügen ihres Sprösslings erfahren.
Dann würde es Ärger geben. Besser, er versteckte sich und wartete
ab, bis der andere an ihm vorbei war.
Jan zog sich hinter eine Eiche zurück. Er
versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen, damit ihn seine Atemwolke
nicht verriet, doch nach dem kurzen Spurt fiel ihm das nicht so
leicht. Trotzdem konnte Jan nicht anders, als hinter dem Stamm
hervorzulugen und nachzusehen, wer der andere war.
Im schwachen Licht der Parkleuchten war die Gestalt
nicht auszumachen. Die Person musste noch ein Stück von der
Wegbiegung entfernt sein. Sie hatte ihre Schritte verlangsamt. Jan
konnte das Knirschen im Schnee hören.
Jan fuhr zusammen. Rauh sah ihn aufmerksam
an.
»Was siehst du, Jan?«
Jan wand sich in seinem Sessel, als würde ihn ein
schlimmer Alptraum heimsuchen.
»Einen Schatten«, stieß er hervor. »Er wird immer
länger und länger.«
»Kannst du sehen, zu wem dieser Schatten
gehört?«
Jan stöhnte und verzog das Gesicht. Seine Hände
waren zu Fäusten geballt.
»Ich hab das nicht gewollt«, keuchte er. »Wirklich,
ich hab das nicht gewollt!«
»Wer ist da mit dir im Park, Jan?«
Mehrmals warf Jan den Kopf hin und her, als müsse
er sich gegen irgendetwas wehren.
»Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten, Jan.
Alles, was du jetzt durchlebst, ist bereits vorbei. Sag mir, wer
bei dir ist. Kennst du diese Person?«
Jan nickte. »Ja, ich kenne ihn.«