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Jan mühte sich gerade damit ab, den
Kaffeeautomaten in seinem Büro in Betrieb zu nehmen, als es
klopfte. Ralf Steffens streckte den Kopf zur Tür herein.
»Dr. Forstner, kann ich Sie kurz sprechen?«
»Natürlich, kommen Sie rein«, sagte Jan, während er
vergeblich versuchte, mit den auf Italienisch beschrifteten
Schaltern des Geräts zurechtzukommen. Der Automat war ein
Abschiedsgeschenk seines Vorgängers gewesen, wie Jan erfahren
hatte, und sicherlich hatte das gute Stück eine ordentliche Stange
Geld gekostet. Nur leider hatte ihm dieser Dr. Behrendt keine
Bedienungsanleitung hinterlassen.
Dabei hätte Jan jetzt dringend einen starken Kaffee
vertragen können. Nach dem Treffen mit Liebwerk hatte er in der
vergangenen Nacht kaum Schlaf gefunden. Stundenlang hatte er sich
im Bett hin und her gewälzt. Jedes Mal, wenn er die Augen
geschlossen hatte, waren ihm die Gesichter von Alexandra Marenburg
und Nathalie Köppler erschienen. Das eine starrte ihn durch eine
Eisdecke an, das andere hingegen war so grausam entstellt, dass man
es kaum noch als Gesicht erkennen konnte.
Ständig war ihm die Frage durch den Kopf gegangen,
in welchem Zusammenhang der Tod der beiden jungen Frauen stand - ob
es überhaupt einen Zusammenhang gab -, und selbst jetzt, wo er sich
auf seine Arbeit hätte konzentrieren müssen, ließen ihm diese
Gedanken keine Ruhe.
»Ich will Sie nicht lange stören«, sagte Ralf und
schloss die Tür hinter sich. »Es ist nur …«
Jan gab den Versuch auf, das Gerät in Gang zu
setzen. Er sah zu Ralf, und erst jetzt fiel ihm auf, wie schlecht
der
junge Mann aussah. Sein Gesicht war verschwollen, und unter den
Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.
»Wegen der Sache von vorgestern, Sie wissen schon …
Vielen Dank.«
»Oh, keine Ursache.« Jan lächelte. »Solange Sie es
nicht zur Gewohnheit werden lassen. Hatten Sie gestern frei?«
Der Blondschopf nickte.
»So wirklich fit sehen Sie allerdings noch nicht
aus. Was ist los mit Ihnen?«
»Es ist nicht, wie Sie denken. Ich trinke
normalerweise nicht so viel«, entgegnete Ralf und sah auf seine
Schuhspitzen.
»Schon gut. Sie brauchen sich nicht zu
rechtfertigen. Weshalb wollten Sie mich sprechen?«
Ralf sah auf. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie heute
Abend nach Dienstschluss Zeit hätten. Ich würde mich gern mit Ihnen
unterhalten - ich und noch jemand.«
Jan sah ihn verwundert an. »Worum geht es?«
»Es ist … nun ja … es ist etwas
Persönliches.«
»Brauchen Sie einen ärztlichen Rat? Den kann ich
Ihnen auch hier geben.«
»Nein, nein.« Ralf steckte die Hände in die Taschen
seines Kittels und trat nervös von einem Bein aufs andere. »Es ist
wegen … wegen Nathalie Köppler. Sie waren doch bei Ihrem Unfall
dabei.«
Jan sah ihn erstaunt an. »Sie haben sie
gekannt?«
Ralf presste die Lippen aufeinander und nickte
dann. In seinen Augen schimmerten Tränen.
»Sie … war meine Freundin.«
Jan fiel das Foto in Ralfs Geldbeutel wieder ein -
Ralf, der eine junge Frau küsste, von der nur der Hinterkopf zu
sehen war. Langes dunkles Haar.
In der Blutlache hat es wie schwarzer Seetang in
tiefrotem Wasser ausgesehen.
Jan versuchte sein Schaudern zu verbergen. Ralf war
sicherlich lange genug in seinem Beruf tätig, um sich ausmalen zu
können, wie seine Freundin nach dem Sprung von der Brücke
ausgesehen haben musste, aber er wollte ihm diese Vorstellung nicht
noch durch seine Reaktion bestätigen.
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel dazu sagen,
Ralf. Aber vielleicht ist es Ihnen ein Trost, dass sie nicht lange
hat leiden müssen.«
Mit einem unterdrückten Schluchzen wandte Ralf den
Kopf ab und atmete tief durch. Dann wischte er sich die Tränen aus
dem Gesicht und sah Jan mit fast schon flehendem Blick an.
»Darum geht es nicht. Bitte, ich kann hier nicht
darüber sprechen. Können wir uns heute Abend sehen?«
Für einen kurzen Moment überlegte Jan, dann nickte
er. »Also gut. Warum kommen Sie nicht bei mir vorbei, sagen wir so
um acht?«
Der Pfleger war einverstanden, und Jan notierte ihm
die Adresse. Bevor Ralf Steffens wieder aus dem Büro ging, sah er
sich noch einmal um.
»Bitte sprechen Sie mit niemandem in der Klinik
darüber, ja?«
Jan versprach es. Als er wieder allein im Büro war,
ließ er sich in seinen Drehstuhl sinken und schaute nachdenklich
aus dem Fenster.
Wo bin ich da nur hineingeraten?
Ihm blieb nicht viel Zeit, sich darüber Gedanken
zu machen, da schon nach wenigen Minuten sein erster Patient
klopfte. Die Arbeitsroutine lenkte Jan ab. Die Patienten
gaben sich die Klinke in die Hand, und erst als einer von Jans
ambulanten Patienten anrief und seinen Termin an diesem Vormittag
absagte, meldete sich der Gedanke an Nathalie Köppler zurück. Jan
beschloss, dem Archiv noch einmal einen Besuch abzustatten.
»Keine gute Idee, hier schon wieder
aufzutauchen.«
Der Archivar wirkte alles andere als erfreut, Jan
zu sehen. Er zog nervös an einer Zigarette, ehe er merkte, dass er
sie noch nicht angesteckt hatte. Jan nahm das Feuerzeug vom
Arbeitstisch und reichte es Liebwerk.
»Ich würde gern einen Blick in Nathalie Köpplers
Akte werfen, dann verschwinde ich wieder.«
Liebwerk schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe
bei dieser ganzen Geschichte kein gutes Gefühl, Doktor. Mein Bauch
sagt mir, dass es nicht vorteilhaft ist, wenn wir hier zusammen
gesehen werden.«
»Hört sich so an, als seien Sie sich sicher, dass
der Einbrecher jemand aus der Klinik gewesen ist.«
»Das hört sich nicht nur so an.« Liebwerk schnaubte
Rauch durch die Nase und sah dabei aus wie der magerste Stier aller
Zeiten. »Hier war jemand, der sich ausgekannt hat, kein Zweifel. Er
wusste, wo ich meinen Zweitschlüssel aufbewahre, wann ich
Feierabend mache und wo er suchen muss.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Jan und deutete auf den
Aktenstapel, der sich auf dem Tisch türmte, »warum hat der
Einbrecher die Akte von Nathalie Köppler zurück in den Stapel
gelegt, aber den Karton mit den alten Akten mitgenommen? Ich meine,
warum hat er nicht auch diese eine Akte mitgehen lassen?«
»Das wäre aufgefallen. Spätestens wenn ich den
Polizeibericht hätte einsortieren wollen.«
Jan legte den Kopf schief. »Schon möglich, aber die
Waldklinik ist ja nicht gerade ein kleines Krankenhaus. Da kann es
doch auch mal vorkommen, dass eine Akte abhandenkommt, oder?«
»Früher vielleicht«, sagte Liebwerk und setzte sich
an seinen Tisch. Er zeigte auf den Monitor. »Heutzutage werden die
Akten elektronisch erfasst, und zwar bevor sie hier bei mir
ankommen. Es würde also gar keinen Sinn haben, eine Akte neueren
Datums zu stehlen, man müsste sie einfach nur neu
ausdrucken.«
Jan nickte. Aber warum hatte sich dann trotzdem
jemand an der Akte zu schaffen gemacht? Es gab eigentlich nur eine
Erklärung.
Liebwerk sprach aus, was Jan dachte. »Genau
genommen braucht man nur eins der Passwörter, mit denen sich die
Ärzte in die Patientendatenbank einloggen, um Eintragungen
vorzunehmen oder zu verändern. Aber wenn man nicht will, dass das
auffällt, muss man auch die Akte in der Ablage ändern. Und ich
schätze mal, dass das der Grund für den Einbruch war.«
Der Archivar hatte zuletzt nur noch geflüstert, als
befürchte er, belauscht zu werden.
»Ich würde die Akte gern einmal sehen«, bat
Jan.
Liebwerk verzog das Gesicht zu einer ängstlichen
Grimasse. »Mir wäre es lieber, Sie würden jetzt gehen.«
»Erst wenn ich die Akte gesehen habe«, sagte Jan,
und als Liebwerk keinerlei Anstalten machte, ihm die Akte zu geben,
fügte er hinzu: »Als Arzt habe ich das Recht zur Einsicht,
vergessen Sie das nicht.«
Mit einem resignierten Seufzer erhob sich der
Archivar.
»Sie werden schon wissen, was Sie tun«, murrte er,
kramte eine braune Mappe hervor und reichte sie Jan.
Der setzte sich damit an den Arbeitstisch, rief an Liebwerks
Computer die Patientendatei auf und begann, Nathalie Köpplers Akte
mit der Datei zu vergleichen. Liebwerk steckte sich eine neue
Zigarette an und blieb neben Jan stehen.
Der Akte zufolge war Nathalie Köppler wegen einer
»Angsterkrankung infolge eines traumatischen Kindheitserlebnisses«
behandelt worden. Sie war freiwillig in die Klinik gekommen und von
Dr. Norbert Rauh auf Station 12 aufgenommen worden. Bei ihm hatte
Nathalie an insgesamt fünfzehn Hypnotherapiesitzungen
teilgenommen.
Die Akte endete mit Rauhs Vermerk, Nathalie habe
gute Fortschritte gemacht und die Therapie sei in jeder Hinsicht
erfolgreich gewesen. Bereits nach wenigen Sitzungen sei die
Angstsymptomatik kaum noch in Erscheinung getreten, und Nathalie
habe sich zunehmend stabilisiert.
Zum Zeitpunkt der Entlassung bezeichnete Rauh seine
Patientin als symptomfrei. Er empfahl in seiner Schlussbemerkung
eine ambulante psychotherapeutische Anschlussbehandlung nach dem
Klinikaufenthalt.
Jan runzelte die Stirn. So hörte sich doch nicht
der Bericht einer Patientin an, die drei Wochen später von einer
Brücke springt. Wollte man Rauhs Worten glauben, hatte man es hier
mit einer Patientin zu tun, die mit sehr gutem Erfolg therapiert
worden war - was auch immer ihre durch ein Trauma verursachten
Ängste gewesen waren, denn darüber schwieg sich die Akte aus. Das
war jedoch nichts Ungewöhnliches. Die meisten von Jans Kollegen
fassten sich in ihren Akten derart knapp. Der Zeitdruck, unter dem
die meisten Klinikärzte standen, war einfach zu groß.
Jan verglich die Computerdatei Wort für Wort mit
dem ausgedruckten Exemplar. Er konnte keinerlei Abweichungen
erkennen. Wenn jemand die Datei manipuliert hatte, dann hatte er
wohl tatsächlich einen neuen Ausdruck gemacht und die alte und die
neue Akte ausgetauscht.
»Das bringt mich leider auch nicht weiter«, sagte
er und erhob sich.
»Also gut, Doktor.« Liebwerk trat dicht an ihn
heran. Jan konnte seinen säuerlichen Raucheratem riechen. »Dann
dürfte ich Sie wohl bitten zu gehen.« Der Archivar schien nervöser
denn je zu sein.
Jan sah ihn fragend an. »Wovor haben Sie
Angst?«
Liebwerk bleckte seine nikotingelben Zähne zu einem
hässlichen Grinsen. »Ich habe keine Angst«, raunte er Jan zu. »Ich
bereue nur, dass ich Ihnen überhaupt so viel erzählt habe. In genau
siebzehn Monaten und zwei Wochen gehe ich in meinen wohlverdienten
Ruhestand, und den will ich genießen können. Ich ahne aber, dass
ich einen Haufen Schwierigkeiten bekomme, wenn ich mich nicht ab
sofort aus dieser Sache heraushalte. Ich habe die ganze Nacht kein
Auge zubekommen deswegen. Haben Sie das verstanden, Doktor?«
Jan wandte sich zum Gehen. »Na schön, ich werde Sie
nicht weiter behelligen. Trotzdem danke für Ihre Hilfe.«
»Nicht durch den Haupteingang!«, hörte er Liebwerk
rufen. »Nehmen Sie die Seitentür durch die Verwaltung.«
Kopfschüttelnd wandte Jan sich um. »Übertreiben Sie
jetzt nicht ein wenig?«
»Ist mir gleich, was Sie denken«, stieß Liebwerk
hervor. »Ich will nicht, dass Sie hier gesehen werden.
Basta.«
Für einen Moment fragte sich Jan, ob Liebwerks
Angst vielleicht doch berechtigt war. Was, wenn sie wirklich in
etwas hineingeraten waren, dessen Umfang und Gefährlichkeit sie
noch gar nicht abschätzen konnten?
Vielleicht ist das aber auch alles nur ein
Riesenhaufen Paranoia, und du hast dich damit angesteckt.
Als Jan durch die Seitentür trat und in dem
schmalen Treppenhaus stand, hörte er, wie hinter ihm die Tür
abgesperrt wurde.
Das alte Verwaltungsgebäude erinnerte Jan an das
Schlosshotel aus einem Abenteuerroman, den er in seiner Jugend
gelesen hatte. Auch hier gab es zahlreiche Gänge, Treppen und
Nebentrakte, in denen man sich hätte verirren können. Doch im
Gegensatz zum Schauplatz des Romans gab es hier nichts
Aufregenderes zu entdecken als zahlreiche Büros, einen Kopierraum
und mehrere Besprechungszimmer und die Personaltoiletten.
Durch den Seitenaufgang gelangte Jan in die
Haupthalle, wo sich beim Ausgang eine Gruppe von Ärzten versammelt
hatte. Ein Blick auf die Uhr über der zweiflügligen Tür verriet
Jan, dass die tägliche Oberarztkonferenz vor wenigen Minuten
geendet hatte.
Schlechtes Timing.
Norbert Rauh löste sich aus der Gruppe und kam auf
ihn zu. »Hallo, Jan, haben Sie heute keinen Dienst?«
»Doch, doch«, entgegnete Jan und suchte krampfhaft
nach einer Notlüge, um zu erklären, was er hier verloren hatte.
»Ich wollte nur kurz wegen einer Unterschrift in die
Personalabteilung. Muss mich irgendwie verlaufen haben.«
»Ist ja auch ein ziemliches Labyrinth, der alte
Kasten«, sagte Rauh und lächelte.
Er erklärte Jan den Weg, und Jan wollte sich schon
verabschieden, als Rauh ihn noch einmal zurückhielt.
»Bleibt es bei unserem Termin morgen, 17 Uhr? Wir
haben in der ersten Sitzung bereits viel erreicht, Jan. Je länger
wir mit der nächsten warten, umso schwerer fällt es Ihnen, dort
wieder anzuknüpfen, wo wir aufgehört haben.«
Jan bemerkte, dass auch Fleischer unter den Ärzten
war. Der Professor schaute zu ihm herüber und nickte ihm grüßend
zu.
Du kannst Rauh auf keinen Fall absagen,
dachte Jan. Diese Therapie ist Fleischers Bedingung gewesen, dir
den Job zu geben. Und vielleicht ist dir dieser Blick in die
Vergangenheit wirklich eine Hilfe, auch wenn er dir nicht
leichtfällt.
»Ja, natürlich«, sagte Jan. »Morgen um 17
Uhr.«
Rauh wollte noch etwas sagen, doch sie wurden von
Jans Piepser unterbrochen, der ihn zurück auf seine Station
rief.