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Jan saß in Marenburgs Fernsehsessel und starrte
auf den Bildschirm. Es war bereits nach ein Uhr morgens, aber nicht
einmal eine Diskussionsrunde über den Werteverfall der Gesellschaft
vermochte es, ihn zu ermüden. Er war noch immer in Gedanken bei
dem, was Carla und Ralf ihm über Nathalie Köppler berichtet
hatten.
Er konnte gut nachvollziehen, dass die beiden
verstehen
wollten, warum Nathalie sich auf so tragische Weise das Leben
genommen hatte. So etwas war, wenn überhaupt, nur schwer zu
begreifen.
Ralf und Carla suchten nach Antworten, genau wie
er. Sie hofften, dadurch leichter mit ihrer Trauer umgehen zu
können. Aber das Leben würde vermutlich auch ihnen die Antwort
schuldig bleiben.
Ein Lichtkegel fiel durchs Fenster, und gleich
darauf hielt ein Wagen vor dem Haus.
Rudi, der Spätheimkehrer, dachte Jan. Wo
mochte der sich so lange herumgetrieben haben? Im nächsten Moment
klingelte es an der Tür. Wahrscheinlich hatte Marenburg den
Schlüssel vergessen. Jan stemmte sich aus dem Sessel und beendete
die Wertediskussion mit einem Knopfdruck auf die
Fernbedienung.
Als er in den Flur hinausging, läutete es wieder.
Diesmal ein hektisches Klingelkonzert.
»Lass gut sein, Rudi! Ich bin noch wach.«
Jan öffnete die Tür. Verdutzt starrte er eine
vertraute hagere Gestalt an.
»Herr Liebwerk?«
Mit wütender Miene zeigte der Archivar auf sein
Auto. »Helfen Sie mir mal, Ihren Kumpel aus meinem Wagen zu
bekommen.«
Erschrocken sah Jan zu dem klapprigen Mercedes, auf
den Liebwerk wies. Marenburg saß vornübergebeugt auf dem
Beifahrersitz, den Kopf gegen das Armaturenbrett gelehnt.
»Ist etwas passiert?«
»Passiert?« Liebwerk stieß ein verärgertes
Schnauben aus. »Sturzbesoffen ist er. Kommt mitten in der Nacht ins
›Spinnrad‹ und will mir unbedingt etwas spendieren. Wenn ich
gewusst hätte, dass er sich dann volllaufen
lässt, bis er die eigene Mutter nicht mehr erkennt, hätte ich ihn
rechtzeitig zum Teufel gejagt.«
Der Archivar stapfte zurück zum Auto und öffnete
die Beifahrertür. »Also, was ist? Helfen Sie mir jetzt, oder soll
ich hier festfrieren?«
Jan schlüpfte in seine Schuhe und lief zu Liebwerk.
Gemeinsam zerrten sie den Betrunkenen aus dem Wagen. Marenburg
konnte kaum noch auf eigenen Beinen stehen. Er stützte sich mit dem
ganzen Gewicht auf Jan, der Mühe hatte, nicht zu Boden zu
gehen.
Liebwerk knallte die Beifahrertür zu, ging um den
Wagen herum und setzte sich ans Steuer.
»Wenn Ihr Freund wieder ansprechbar ist, richten
Sie ihm von mir aus, dass ich mich nicht unter Druck setzen lasse.
Ich werde nicht zu dieser Akte aussagen, und damit basta. Ist das
klar?«
Noch ehe Jan etwas entgegnen konnte, hatte Liebwerk
die Fahrertür geschlossen und den Motor gestartet. Mit dem
torkelnden Marenburg im Arm, sah er, wie der Mercedes mit röhrendem
Auspuff davonfuhr.
»Mensch, Rudi«, seufzte Jan, »da hast du wohl
jemanden ziemlich auf die Palme gebracht.«
Er bugsierte seinen Freund ins Haus und wollte
schon die Tür schließen, als ihm die Lichter eines Autos auffielen,
das in dieselbe Richtung wie Liebwerk davonfuhr. Ungewöhnlich, dass
um diese Zeit noch jemand in dieser abgelegenen Wohngegend
unterwegs war.
Doch bevor er sich noch weitere Gedanken darüber
machen konnte, lallte Marenburg ihm ins Ohr: »Jan, mein Junge, isch
glaub, isch muss mal reihern.«