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Es war kurz nach 17 Uhr. Jan stand im
Schwesternzimmer, trank eine Tasse Kaffee, die ihm eine
Lehrschwester angeboten hatte, und wartete auf Dr. Norbert
Rauh.
Auf dem Flur der Station 12 waren die Schwestern
mit der Essensausgabe beschäftigt. Sie holten zwei schwere
Metallwagen aus dem Aufzug, in denen das Abendessen durch die
Versorgungstunnels der Klinik angeliefert worden war. Gleich darauf
konnte Jan das helle Klappern von Besteck hören, das auf
Plastiktabletts verteilt wurde.
Weiter entfernt vernahm er die Stimme einer
Patientin, die sich darüber erboste, dass es schon wieder Wurst und
Käse gab.
»Dafür müssen Tiere leiden«, hörte er sie
schimpfen. »Das habe ich euch doch schon tausendmal gesagt. Doch
siehe, spricht der Herr, es werden sich die Sklaven von ihrem Joch
befreien und über uns herfallen. Dann werden sie uns
fressen, so wie wir sie jetzt fressen! Sie werden sich an unseren
Leibern gütlich …«
»Alles klar, Sibylle«, unterbrach sie die Stimme
einer Schwester, »du willst also lieber Gemüsesuppe,
richtig?«
»Ja. Ja, lieber Gemüsesuppe.«
Jan ging im Schwesternzimmer auf und ab und trank
von seinem Kaffee. Er überlegte, ob er wieder gehen sollte. Er
könnte Rauhs Verspätung zum Anlass nehmen, den Termin für ihre
zweite Sitzung zu verschieben. Doch dann entschied er sich, zu
bleiben.
Carlas spöttische Bemerkung im Gewächshaus hatte
ihn getroffen. Doch wenn er ehrlich war, dann hatte sie Recht. Er
hatte ihnen vorgeworfen, sie würden den Tatsachen
nicht ins Auge blicken. Aber blickte er ihnen denn selbst ins
Auge? Er wusste es nicht. Alles, was er wollte, war endlich
Gewissheit zu haben und seine Ruhe zu finden. Nicht mehr als
das.
Oder doch?
Ich weiß es nicht.
Wenn es wirklich einen Weg gab, sich über seine
Gefühle klarzuwerden, dann war es durch Rauhs Therapie. Auch wenn
es ihm immer wieder schwerfiel, sich mit diesem Gedanken
anzufreunden.
Jan betrachtete die große Pinnwand, die über dem
Schreibtisch thronte. Sie war mit Notizzetteln, dem Dienstplan,
Postkarten und Fotos derart übersät, dass man den Korkuntergrund
allenfalls noch erahnen konnte.
Die meisten der Fotos waren Schnappschüsse von
Feiern und dergleichen. Eines zeigte die Schwestern und
Patientinnen beim Grillen im Atrium der Station. Ein anderes war
bei einer Faschingsfeier im Aufenthaltsraum aufgenommen worden. Auf
dem dritten Bild hielt eine Frau - wahrscheinlich eine Patientin -
freudestrahlend ein junges Kätzchen in Richtung der Kamera.
Etwas weiter unterhalb entdeckte Jan ein
Gruppenfoto. Es zeigte einen lachenden Norbert Rauh, der vor der
Glasfront der Personalkantine stand und einen Blumenstrauß im Arm
hielt. Um ihn herum standen mehrere Frauen, die scherzhaft mit dem
Finger auf den sichtlich stolzen Arzt zeigten. Jan erkannte unter
den Frauen zwei der Schwestern wieder, die er hier auf Station 12
kennengelernt hatte.
Eine Frau fiel ihm besonders ins Auge, und das
nicht nur, weil sie eine ausgesprochene Schönheit war. Sie war die
Einzige auf dem Bild, die keinen weißen Kittel trug.
Auch stand sie sehr dicht bei Rauh, und obwohl sie ein wenig von
einer stämmigen älteren Schwester verdeckt war, glaubte Jan, dass
diese Frau ihren Arm um Rauhs Hüfte gelegt hatte.
Sie musste deutlich jünger als Rauh sein, so dass
Jan vermutete, die schlanke Person mit den dunklen langen Haaren
könnte vielleicht seine Tochter sein. Keinesfalls war sie nur eine
junge Kollegin, dafür war die Art, mit der sie Rauh ansah, etwas zu
kess.
»Das war zu seinem Dienstantritt«, sagte jemand
neben ihm.
Jan fuhr erschrocken herum. Es war die stämmige
Schwester von dem Foto, die so plötzlich neben ihm stand, als sei
sie gerade eben aus dem Boden gewachsen.
»Oh, ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören«,
stammelte Jan.
»Noch Kaffee?«
»Nein danke.«
Sie zupfte sich ihr graues Haar zurecht, dass sie
zu einem altmodischen Dutt zusammengesteckt trug. »Tut mir leid,
dass Sie warten müssen, Dr. Forstner. Ich weiß nicht, wo der Herr
Doktor wieder steckt. Vorhin hat er gesagt, er sei gleich zurück.
Das ist jetzt schon eine gute halbe Stunde her.«
»Das macht nichts, ich habe Zeit«, sagte Jan und
deutete auf das Foto. »Ist das seine Tochter?«
»Wer? Die? Nein.« Die Schwester grinste schelmisch.
»Seine Frau. Genauer gesagt seine Exfrau. Hat sich von ihm
getrennt, kurz nachdem der Doktor bei uns angefangen hat. Sie
sollten ihn aber besser nicht darauf ansprechen.«
»Ich werd’s mir merken.«
Die Schwester schob die Hände in ihre Kitteltaschen
und stieß einen versonnenen Seufzer aus. »Sie war so ein hübsches
junges Ding. Er war ganz vernarrt in sie.«
»Wissen Sie, warum sich die beiden getrennt
haben?«
»Nein, keine Ahnung. Geht mich ja auch nichts an.
Ich schätze mal, dass ihr der Altersunterschied irgendwann doch zu
groß gewesen ist. Ich habe sie zwar nur einmal gesehen - bei dieser
Feier, als das Foto gemacht wurde -, aber ich hielt sie für
ziemlich lebenshungrig, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Die Schwester zwinkerte ihm verschwörerisch zu, und
Jan zwinkerte zurück.
»Der Doktor ist immer noch ein sehr attraktiver
Mann«, sagte sie, und Jan glaubte so etwas wie Bewunderung in ihrer
Stimme zu hören. »Ganz unter uns, er hat eine Schwäche für die
jungen Dinger.«
»Ach ja?«
»Na, und ob. Und was man so mitbekommt, nicht ganz
ohne Erfolg. Aber ihr war er wohl auf die Dauer doch nicht
gewachsen.«
»Waren die beiden lange verheiratet?«
Sie hob die Schultern. »Da fragen Sie mich zu viel.
Wie gesagt, der Doktor redet nicht darüber, und das ist sein gutes
Recht, wie ich finde.«
»Ja, natürlich.« Jan nickte beipflichtend.
»Ich habe das von Alfred Wagner gehört«, wechselte
die Schwester das Thema. »Schlimme Sache.«
»Ja, wirklich schlimm.«
»Wissen Sie, Dr. Forstner, seit ich davon erfahren
habe, plagt mich ein schlechtes Gewissen.«
Jan stellte seine leere Tasse neben der
Kaffeemaschine ab und sah sie fragend an. »Warum das?«
»Nun ja, ich weiß, es hört sich dumm an, aber man
kann schließlich nicht aus seiner Haut heraus.« Sie
schaute verlegen zu Boden. »Ich habe den armen Kerl ziemlich
angeschrien. Neulich, als wir ihn hier beim Einbruch erwischt
haben. Na ja, und ich habe auch seinen Stationsarzt informiert, der
ihn dann auf Station 9 hat verlegen lassen.«
»Trotzdem trifft Sie keine Schuld an dem, was dort
passiert ist.«
Sie nickte. »Sicher, das weiß ich. So etwas kommt
ja immer wieder mal vor. Ich wage gar nicht darüber nachzudenken,
wie viele Patienten sich das Leben genommen haben, seit ich hier
arbeite. Aber trotzdem mache ich mir jetzt Vorwürfe. Verstehen Sie
das?«
Noch bevor Jan etwas entgegnen konnte, platzte
Norbert Rauh ins Zimmer. Er hatte hektische rote Flecken im
Gesicht, offensichtlich war er gelaufen.
»Vorwürfe?«, fragte er keuchend. »Wer macht sich
Vorwürfe? Der Einzige, der sich hier Vorwürfe machen muss, bin ich,
dass ich Sie so lange habe warten lassen.«
Er begrüßte Jan mit einem kräftigen Händedruck.
Seine Hände waren verschwitzt, obwohl er gerade aus der Kälte
kommen musste.
»Kommen Sie, Jan, gehen wir nach unten in mein
Büro. Ich mache uns einen schönen heißen Tee.«
»Klingt gut.«
Jan folgte ihm über den Flur zum Treppenhaus. Als
sie am Aufenthaltsraum vorbeikamen, wo die Patienten noch beim
Essen saßen, sah er Sibylle. Die Patientin schaute zu ihnen heraus.
Ihr entstelltes Gesicht war zu einem hässlichen Grinsen verzogen.
Sie nickte Jan zu und fuhr sich dann mit dem Zeigefinger über die
Kehle.
Jetzt geht es dir an den Kragen.