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Das Wohnhaus des Klinikleiters befand sich am
südlichen Rand der Waldklinik. Wie die meisten Gebäude auf dem
Krankenhausgelände war es bereits in den Gründungsjahren errichtet
worden - zu einer Zeit, in der die Leiter solcher Institutionen
noch wie Fürsten behandelt wurden und ebenso gelebt hatten.
Als Jan das hohe Vestibül mit den riesigen Fenstern
und dem blankpolierten Parkettboden betrat, hatte er den Eindruck,
er sei zu einer Schlossbesichtigung eingeladen
worden und nicht nur zu einem Abendessen mit der Familie seines
Chefs.
»Unter uns gesagt, haben wir uns hier noch nie
sonderlich wohlgefühlt«, bekannte Fleischer später beim Essen, von
Jan auf die pompöse Ausstattung angesprochen. »Ich trage mich immer
noch mit dem Gedanken, hier eine Station für Kinder- und
Jugendpsychiatrie zu eröffnen und mit Hannah in ein kleineres Haus
zu ziehen. Jetzt, wo uns die Mädchen nur noch selten
besuchen.«
»Papa, du bist ungerecht«, empörte sich Annabelle.
Fleischers jüngere Tochter war eine bildschöne Blondine, ein
Ebenbild ihrer Mutter. »Wir besuchen euch doch ständig.« Sie fuhr
zärtlich über die Rundung ihres Bauchs. »Und vielleicht werdet ihr
in drei Monaten über jede ruhige Minute froh sein. Der kleine
Derwisch strampelt schon wieder wie ein Wilder.«
»Ihr werdet uns sicherlich nie zu viel«,
versicherte Frau Fleischer. »Auch wenn wir einmal in einem
kleineren Haus leben sollten, wird sich daran nichts ändern.«
»Während des Studiums habe ich in einer Bude
gehaust, die kleiner war als unser jetziges Badezimmer«, sagte
Fleischer und reichte Jan eine Schüssel mit Kartoffeln. Jan lehnte
dankend ab.
»Die Wohnung danach war auch kaum größer.« Hannah
Fleischer zwinkerte ihrem Mann zu. »Aber sie hatte etwas
Kuscheliges, nicht wahr, Raimund?«
Fleischer lächelte versonnen seine Frau an. »Vor
allem mussten wir uns noch keine Putzfrau leisten.«
»Ach, du alter Chauvinist«, lachte Frau Fleischer
und schenkte Jan Wein nach.
»Liebste Hannah, das alt nimmst du sofort
zurück.«
»Ich bin mir hier immer vorgekommen wie dieses
Mädchen in Plötzlich Prinzessin«, sagte Annabelle. »Kennen
Sie den Film?«
»Ich glaube nicht«, meinte Jan.
»Ein Mädchen, das von heute auf morgen in ein
Schloss zieht«, sagte sie und betupfte mit der Serviette einen
Preiselbeerfleck auf ihrem Pullover. »Nur dass sich vor dem Schloss
nicht lauter Geisteskranke getummelt haben.«
»Annabelle, bitte«, sagte Hannah Fleischer mit
vornehmer Entrüstung. »Sie müssen ihr das nachsehen, Doktor
Forstner, Annabelle hatte noch nie viel für den Beruf ihres Vaters
übrig.«
»Deshalb habe ich auch einen Biologen geheiratet«,
sagte Annabelle und erhob sich. Sie ging um den Tisch und umarmte
ihren Vater. »Aber das ändert natürlich nichts an der Tatsache,
dass mein Paps der beste von allen ist, versteht sich.«
Sie drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange
und ging dann in die Küche.
»Da sehen Sie es, Jan«, sagte Fleischer und sah
voller Stolz seiner schwangeren Tochter nach. »Ich bin immer noch
ein umschwärmter Mann.« Er rückte seine große schwarze Brille
zurecht, und wieder musste Jan denken, dass Dr. Raimund Fleischer
entschieden etwas von Gregory Peck hatte.
»Haben Sie Familie, Jan?«, fragte Frau
Fleischer.
»Nein, ich bin«, Jan hüstelte, »geschieden.«
»Oh, das tut mir leid. Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
Hannah Fleischer nickte und schien zu verstehen.
Dann zeigte sie auf die Platte mit dem Fleisch. »Möchten Sie noch
etwas von dem Rehrücken, Jan?«
»Nein danke, ich bin pappsatt.«
Jan spürte die Röte auf seinen Wangen. Ihm gefielen
diese Gespräche nicht, die sich um Ehe und Kinder drehten. Er kam
sich dabei stets so vor, als stünde ihm seine Verlustangst auf die
Stirn geschrieben - der Grund für seine Kinderlosigkeit. Immerhin
hatte es nie an seinen Partnerinnen gelegen.
»Ein dickes Kompliment an die Köchin«, sagte er
rasch und schenkte der Gastgeberin ein Lächeln. »Es war
köstlich.«
»Das freut mich. Raimund hat guten Kontakt zu einem
Jäger aus der Gegend. Herrn … Wie heißt er doch gleich?«
»Hesse«, sagte Fleischer. »Hermann Hesse, genau wie
der Schriftsteller. Sein Sohn ist ein Kollege hier am Ort.
Allgemeinmediziner. Netter Kerl, sehr fähig.«
»Ja«, stimmte Jan zu. »Ich hatte bereits mit ihm zu
tun.«
Fleischer war erstaunt. »Ach ja? Na, die Welt ist
klein. Aber wegen dem Reh - eigentlich haben wir es Norbert Rauh zu
verdanken. Er hat den sehr viel engeren Kontakt zum alten Hesse.
Die kennen sich schon aus Zeiten, als Norbert noch ein Dreikäsehoch
war. Tja, und seit Norbert wieder hier ist, haben wir immer ein
gutes Stück Kössinger Wild in der Kühltruhe.«
»Kössingen«, wiederholte Jan. Das Wort versetzte
ihm einen Stich. Er sah die einsame Waldstraße vor sich. Schnee.
Einen gelben VW Passat an einem Baum …
Er bemerkte den Blick seiner Gastgeber und lächelte
verlegen.
»Tja«, Hannah Fleischer erhob sich und stellte die
Teller zusammen, »dann werde ich mal zu Annabelle in die Küche
schauen. Wollen die Herren einen Kaffee oder etwas Süßes?«
»Kaffee wäre großartig«, sagte Jan, und Fleischer
fügte hinzu: »Den trinken wir in meinem Arbeitszimmer. Das müssen
Sie gesehen haben, Junge. Dagegen ist mein Büro in der Verwaltung
die reinste Telefonzelle.«
»Beeindruckend«, entfuhr es Jan, als sie Raimund
Fleischers Arbeitszimmer betraten. Es war kein Zimmer, sondern ein
Saal, in dem man leicht einen Ball hätte veranstalten können.
»Noch beeindruckender sind unsere Heizkosten«,
lachte Fleischer. »Wenn wir dieses Haus tatsächlich eines Tages in
eine Station umbauen, werden wir einen schönen Batzen Geld in die
Wärmedämmung investieren müssen.«
Als Hannah Fleischer ihnen den Kaffee gebracht
hatte, nahmen die beiden Männer in einer kleinen Sitzecke neben
einem voluminösen Bücherschrank Platz.
»Sie haben vorhin an Ihren Vater gedacht, als ich
Kössingen erwähnt habe, nicht wahr?« Fleischer schaufelte zwei
Löffel Zucker in seine Tasse, nahm sie hoch und begann bedächtig
umzurühren.
Jan nickte. »Was glauben Sie, wohin er damals
unterwegs gewesen sein könnte?«
»Ich weiß es beim besten Willen nicht.« Der
Professor nippte an seinem Kaffee und stellte die Tasse auf dem
kleinen Beistelltisch ab. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück,
und das Leder knarrte leise unter seinem Gewicht. »Hören Sie, Jan,
ich will ehrlich sein. Ich mache mir Sorgen um Sie.«
»Sorgen?« Jan sah ihn überrascht an. »Um
mich?«
»Ja. Ich habe gestern mit Norbert Rauh gesprochen.
Keine Angst, er hat nicht aus dem Nähkästchen geplaudert, ich
wollte nur ganz allgemein wissen, wie sich Ihre Therapie
anlässt.«
Jan stellte ebenfalls seine Tasse ab. Er spürte,
wie seine Handflächen feucht wurden. »Wie war seine Meinung?«
»Er hat gesagt, Sie seien schon ein gutes Stück
vorangekommen, aber er denkt, dass Sie sich noch immer
versperren.«
»Rauh hat mich erst zweimal gesehen. Wie kann er
sich da schon ein Urteil bilden?«
Fleischer schlug die Beine übereinander und formte
mit seinen Fingern ein Dreieck vor der Brust. »Diese Klinik hat
viele Augen und Ohren, Jan. Ich höre, Sie stellen Nachforschungen
an. Sie beschäftigen sich mit alten Fällen. Es heißt, Sie waren
mehrere Male bei Liebwerk im Archiv. Stimmt das?«
Jan zuckte mit den Schultern. »Ja, das
stimmt.«
»Freut mich, dass wir offen miteinander reden.«
Fleischer nickte zufrieden. »Nichts anderes habe ich von Ihnen
erwartet, Jan.«
»Ich habe niemandem mit meinen Fragen geschadet«,
verteidigte sich Jan.
»Sie schaden sich selbst damit«, sagte Fleischer
ruhig. »Ich gebe Ihnen hier eine zweite Chance, weil ich Ihnen
helfen will, endlich mit Ihrer Vergangenheit abzuschließen. Aber
das geht nur, wenn Sie den Blick nach vorn richten. Ich weiß, das
fällt Ihnen nicht leicht. Dies ist immerhin der Ort, an dem alles
begonnen hat. Aber Sie sollten sich immer vor Augen halten, dass
dies Ihre einzige Möglichkeit ist, beruflich wieder Fuß zu fassen.
Erst recht nach dem Tod von Laszinski.«
Jan setzte sich kerzengerade auf. »Laszinski ist
tot?«
»Ja, er wurde von zwei Mitgefangenen vergewaltigt
und erschlagen.«
Jan sackte in sich zusammen. »Wenn das bekannt
wird, werden auch die ganzen alten Geschichten wieder
hochkommen.«
»Das steht zu befürchten«, sagte Fleischer. »Noch
ist die Nachricht inoffiziell, und solange die Ermittlungen laufen,
wird man sich bedeckt halten. Aber wenn die Presse erst einmal Wind
davon bekommt, wird viel Staub aufgewirbelt werden.«
Jan sah die Schlagzeilen wieder vor sich:
PSYCHOPATHEN IM WEISSEN KITTEL und WENN TÄTER ZU OPFERN WERDEN
waren noch die harmloseren gewesen.
Zwar war der Vorfall mit Laszinski nur für wenige
Tage durch die Medien gegeistert, aber wenn der Mann jetzt in der
Haft umgebracht worden war, bot dies eine willkommene Gelegenheit
für neue Spekulationen über die Wertigkeit dieser Tätergruppe im
Maßregelvollzug. Der Fall des Dr. Jan Forstner, der seinen
Patienten krankenhausreif geprügelt hatte, während sich die
Aufseher mit ihrem Einschreiten Zeit gelassen hatten, würde nun
noch mehr Gewicht bekommen.
»Deshalb«, fuhr Fleischer fort, »ist es wichtig,
dass Sie mein Angebot hier nutzen. Wie gesagt, Ihrem unbefristeten
Vertrag steht so gut wie nichts mehr im Weg. Jetzt ist es an Ihnen,
denen da draußen zu zeigen, was für ein großartiger Arzt Sie
sind.«
Geistesabwesend sah Jan aus dem großen
Doppelfenster. Die Bäume des Parks waren im schwachen Licht der
Wegbeleuchtung nur zu erahnen.
Ein goldener Käfig, dachte Jan. Fleischer
bietet mir Schutz in einem goldenen Kä fig. Aber ein Gefangener bin
ich trotzdem.
»Wollen Sie die Chance noch nutzen?«, fragte
Fleischer.
»Ja. Ja, ich denke, das werde ich.«
»Gut so«, bestätigte ihn der Professor. »Und da ist
noch etwas, das Sie wissen sollten. Sie hatten Norbert nach
Alexandra Marenburg gefragt.«
»Ja, das habe ich.« Jan machte eine entschuldigende
Geste. »Ich weiß, die alten Geschichten sollte man endlich ruhen
lassen, aber …«
»Hören Sie, Jan«, unterbrach ihn Fleischer. »Die
junge Frau litt unter einer schizophreniformen Störung. Sie war
nicht nur depressiv, wie Herr Marenburg das gerne betont. Sie hatte
Wahnvorstellungen. Wenn sie die bekam, wurde sie unberechenbar.
Jan, Ihr Vater hatte sich sehr um sie bemüht, aber ihre Medikamente
wirkten nur bedingt zuverlässig. Deshalb die häufigen
Klinikaufenthalte. Es ging nicht anders.« Er machte eine kurze
Pause, ehe er weitersprach. »In der Nacht ihres Suizids ging es ihr
wieder schlecht. Wir hatten einen personellen Engpass. Ein
einzelner Pfleger musste sich um beide Stationen kümmern. Als er
auf seinem Rundgang war, passierte es. Die junge Frau lief
schreiend auf den Gang. Dann …«, er seufzte, »dann stürzte sie
durch eines der Fenster ins Freie und lief davon. Der Pfleger
alarmierte sofort die Polizei. Den Rest der Geschichte kennen Sie
ja.«
»O ja«, sagte Jan und dachte an das Diktiergerät in
seiner Jackentasche. Auf einmal erschien ihm seine jugendliche
Dummheit, die Stimme eines Geistes darauf bannen zu wollen, derart
befremdlich, dass er am liebsten laut darüber gelacht hätte.
»Ich will mich nicht in Ihre Privatangelegenheiten
mischen«, sagte Fleischer und beugte sich zu Jan vor, »aber ich
möchten Ihnen einen Rat geben: Nehmen Sie sich vor Rudolf Marenburg
in Acht. Er ist von dem Gedanken
besessen, dass wir seine Tochter auf dem Gewissen haben. Es ist
eine schon fast krankhafte Obsession. Wenn Sie wüssten, wie oft er
bei mir oder bei Norbert Rauh angerufen hat. Mitten in der Nacht
und sturzbetrunken. Er gibt uns die Schuld. Dabei war Norbert nicht
einmal ihr behandelnder Arzt. Hypnose kommt bei schizophren
Erkrankten ohnehin nicht infrage.«
Es ärgerte Jan, dass Fleischer schlecht über seinen
Freund sprach, aber Jan wusste doch, dass der Professor Recht
hatte: Rudi war ein schlechter Ratgeber in dieser Angelegenheit.
Das hatte Jan ja auch Carla begreiflich zu machen versucht.
Eine andere Sache brannte ihm auf den Nägeln, und
er beschloss, Fleischer danach zu fragen. »Als Herr Liebwerk vor
einigen Tagen das Archiv nach Alexandra Marenburgs Akte
durchsuchte, konnte er sie nicht finden. Wie erklären Sie sich das?
Ein Zufall?«
Fleischer griff nach seinem Kaffee, trank einen
Schluck und sah Jan über den Tassenrand hinweg an. »Nun, das ist
wohl kein Zufall, Jan. Und wenn Sie etwas nachdenken, werden Sie
selbst darauf kommen, was mit der Akte geschehen ist.«
Jan sah den Klinikleiter konsterniert an. »Ich? Wie
das?«
»Ihr Vater hatte die Akte«, sagte Fleischer.
»Alexandra war seine Patientin, und Bernhard nahm regelmäßig Akten
mit nach Hause, um dort seine Berichte zu schreiben. Wenn die Akte
nicht im Archiv war, wie Sie sagen, dann vermute ich, dass sie Ihr
Vater hatte. Wäre durchaus denkbar, dass sie im Zuge der tragischen
Ereignisse verlorengegangen ist. Wie Sie sich vorstellen können,
ging es hier nach den beiden Unglücksfällen drunter und
drüber.«
Jan umklammerte die Lehnen seines Sessels.
Fleischer hatte Recht. Jan hätte es wissen müssen. Vielleicht hatte
er es insgeheim auch gewusst und nur verdrängt.
Habe ich die ganze Zeit an der falschen Stelle
nach Antworten gesucht?
»Noch Kaffee?«, fragte Fleischer und deutete auf
die beiden leeren Tassen.
»Nein danke«, murmelte Jan.
Für heute hatte er genug.