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Als ihre Kollegin in das Stationszimmer kam, sah
Rebecca Steinfurt von ihren Unterlagen auf und rieb sich die
Schläfen.
»Na, was machen unsere Schützlinge?«
Schwester Edwina Sezcinsky war noch neu auf der
Intensivstation. Die Fünfundzwanzigjährige, von der Rebecca noch
nicht viel mehr wusste, als dass sie ihrer Arbeit mit äußerster
Gewissenhaftigkeit nachkam und nach Dienstschluss für ihren ersten
Marathon trainierte, nahm eine Flasche Mineralwasser vom Tisch und
nickte zufrieden.
»Alles in Ordnung. Nur Frau Weller ist etwas
unruhig. Ihre Pulsfrequenz ist erhöht.«
»Hast du mit ihr gesprochen?«
»Nein, sie schläft. Ich glaube, sie träumt.«
»Wird wohl an den Schmerzmitteln liegen«, sagte
Rebecca und sah ihrer Kollegin zu, die sich ein Halbliterglas
mit Mineralwasser einfüllte. »Sag mal, wie viel Wasser trinkst du
eigentlich am Tag?«
Edwina zuckte mit den Schultern. »So zwei bis drei
Liter.«
Rebecca schüttelte den Kopf. »Der reinste
Durchlauferhitzer …«
Ein schrilles Alarmsignal ließ sie zusammenfahren.
Sofort sahen die beiden auf die Anzeigetafel.
»Das ist bei Frau Weller!« Rebecca schnellte von
ihrem Platz auf.
»Ich rufe den Doktor«, sagte Edwina, stellte ihr
Glas ab und riss den Telefonhörer von der Gabel.
Rebecca eilte zu Carla Wellers Zimmer. Dem Alarm
nach hatten sämtliche Vitalfunktionen der Patientin ausgesetzt, und
die Schwester stellte sich innerlich schon auf eine Reanimation
ein. Doch als sie die Tür zum Patientenzimmer aufriss, sah die
Schwester etwas, das ihr in ihrer Berufslaufbahn noch nicht
untergekommen war.
Zwar hatte sie schon häufig erlebt, dass sich
Patienten die Verbindungen zu den Kontrollgeräten vom Leib rissen,
aber dass sie auch die Seitenwand des Bettes herunterklappten,
aufstanden und aufgebracht im Raum auf und ab liefen, das
überraschte Rebecca nun doch.
»Um Himmels willen«, stieß sie hervor. »Was tun Sie
denn da?«
Carla Weller schien sie gar nicht zu hören. Sie
bebte am ganzen Leib. Schwester Rebecca nahm sie in die Arme und
führte sie vorsichtig zurück zum Bett. »Was haben Sie sich nur
dabei gedacht?«
Carla Weller murmelte etwas Unverständliches. Das
starke Schmerzmittel ließ sie lallen wie eine Betrunkene.
Sie wiederholte einen einzelnen Satz immer wieder. Schließlich
verstand die Schwester.
»Ich weiß jetzt, wer er ist.«
Rebecca setzte sie vorsichtig aufs Bett. »Ganz
ruhig, Frau Weller. Sie haben nur geträumt.«
»Ja.« Carla nickte wie in Zeitlupe. »Und dabei hab
ich ihn erkannt.«
»Wen haben Sie erkannt?«
»Nathalies Stimme. Seine Stimme.«
»Na, das ist aber schön.« Rebecca griff sich den
Arm der Patientin und versuchte, den Infusionsschlauch wieder auf
die Kanüle zu stecken. »Dann können Sie sich jetzt ja wieder
hinle…«
»Nein!«, fuhr Carla sie an. Sie zog ihren Arm mit
einem plötzlich Ruck zurück und sah die Schwester aus weit
aufgerissenen Augen an. Ihr Gesicht war schweißglänzend. »Sie …
verstehen nicht! Jan ist in Gefahr!«
»Was ist denn los?«, fragte eine Stimme hinter
Rebecca.
Begleitet von Schwester Edwina eilte Dr. Mehra in
den Raum, sah verwundert zu der Patientin und dann zu Schwester
Rebecca.
»Sie ist einfach aufgestanden und …«, versuchte
Rebecca zu erklären, als sich Carla mit einer einzigen schnellen
Bewegung aus ihrem Griff befreite und ihr die Hand auf den Mund
legte.
»Polizei holen«, keuchte sie. »Gefahr!«