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Als Eva wieder halbwegs einen klaren Gedanken fassen konnte, öffnete sich abermals das Gitter, und ein zweiter Edelmann betrat das Verlies. Er war einiges älter als Junker Moritz, die Ähnlichkeit war aber unverkennbar.
«Das also ist der Störenfried, mit dem drei Zigeuner nicht fertiggeworden sind.» Der Ältere begann schallend zu lachen. «Einen rechten Herkules hab ich mir vorgestellt, und jetzt find ich dieses Häufchen Elend. Was meinst du, Bruderherz – hat da unser Rotbart nicht wieder mächtig übertrieben?»
Moritz von Ährenfels, der Eva bislang schweigend angestarrt hatte, entgegnete: «Vor allem hat er den Jungen übel zugerichtet. Eine Schweinerei ist das. Wie heißt du?»
Sein prüfender Blick ließ sie nicht los. Es war, als suche er etwas in ihrem Gesicht. Oder in seiner Erinnerung, dachte Eva. Sie durfte sich keinesfalls verraten, sonst war alles aus.
«Adam Portner, Ihr gnädigen Herren, und ich bin weder Bettler noch Landstreicher, sondern ein Schneiderknecht.» Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte.
«Ein Schneiderknecht, so, so», sagte der Ältere. «Dann bin ich der Herzog von Baiern.»
Eva sah zu Boden – weniger aus Demut, als um zu vermeiden, dass der Schein der Lampe ihr Gesicht traf.
«Wenn Ihr erlaubt, möchte ich das erklären», murmelte sie.
«Nur zu, aber fass dich kurz.» Der Bruder des Junkers verschränkte die Arme. «Unser Nachtessen wartet.»
«Ich verdien mein Brot auf der Stör, mit Schneiderarbeiten. Hier bei Euch wollte ich meine Arbeit anbieten, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Landsknecht nämlich hatte mich niedergeschlagen und ausgeraubt. Es waren also nicht Eure Leute, das mit meinem Gesicht, meine ich.»
«Und das sollen wir glauben?»
«Warum nicht, Kilian?», mischte sich Junker Moritz ein. Sein Blick war jetzt voller Sorge. «Statt den Jungen hier im Verlies schmoren zu lassen, hätte man ihn lieber verarzten sollen. Du hast sicher Hunger und Durst, oder?»
Eva nickte.
«O mein kleiner Bruder! Spielt wie immer den barmherzigen Samariter.» Kilian schüttelte den Kopf. «Vielleicht noch ein Federbett auf die Nacht? Und zuvor zur Stärkung ein Krüglein Tokaier und ein Scheibchen Entenbrust an Honigpastinaken?»
«Warum nicht?» Moritz blieb ungerührt. «Wenn er doch unschuldig ist?»
«Du hast wirklich einen Sparren zu viel. Der Kerl bleibt hier, bis Vater zurück ist. Gehen wir.»
«Nein!» Moritz stellte sich seinem Bruder in den Weg. «Wenn er Schneider ist, wird er das auch beweisen können. Wo hast du dein Werkzeug?»
Diese Frage traf Eva bis ins Mark. In dem ganzen Tumult hatte sie überhaupt nicht mehr auf ihre Sachen geachtet. Wo war ihr Reisebeutel? Ihr Messer? Ihre Hand tastete unter das Wams: Das Messer war weg!
«Verzeiht, Herr», wandte der Knecht ein, «aber er hatte tatsächlich einen Sack bei sich. Der Rotbart hat alles in Verwahrung genommen.»
Eva fiel ein Stein vom Herzen. «Und – und mein Messer?»
«Da war kein Messer.»
«Nun gut, wir werden ja sehen, was in dem Beutel war.» Kilian stieß seinen jüngeren Bruder in die Seite. «Besprechen wir alles Weitere beim Essen. Der Knecht kann unserem Schneiderlein ja einstweilen etwas Brot und Wasser kredenzen.»
Fast erleichtert hörte Eva, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, dann ließen die Männer sie allein in der Dunkelheit zurück. Jetzt erst wagte sie wieder den Kopf zu heben. Dem Himmel sei Dank, Junker Moritz hatte sie nicht wiedererkannt. Und wenn das Messer verschwunden blieb – umso besser. Wie hätte sie schließlich erklären sollen, woher sie es hatte?
Eva beruhigte sich damit, dass das Schlimmste überstanden war. Dennoch hörte ihr Herz nicht auf, fast schmerzhaft gegen die Brust zu hämmern.
Es verging keine halbe Stunde, als der Knecht mit einer Fackel zurückkehrte. Er brachte weder Becher noch Brot, stattdessen öffnete er das Gitter und ließ sie hinaus.
«Wohin gehen wir?»
«Ins Gesindehaus. Befehl der Herren Landjunker.»
Als Eva auf den menschenleeren Hof trat, glitzerten die Sterne über ihr. Der Abend war warm und windstill.
«Darf ich mich waschen?», fragte sie, als sie an einem Brunnen vorbeikamen, auf dessen Rand ein voller Eimer stand.
«Meinetwegen. Aber mach hin!»
Das kühle Wasser an Händen und Armen tat gut. Vorsichtig benetzte sie auch ihr verschwollenes Gesicht. Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick geradewegs auf ein erleuchtetes Fenster im Erker des nahen Herrenhauses. Moritz von Ährenfels stand dort und beobachtete sie.
«Ich bin fertig», sagte sie und beeilte sich, aus dem Blickfeld des Junkers zu kommen.
Der Knecht führte sie zu einer langgestreckten Hütte aus Lehm und Holz und mit Stroh gedecktem Dach, wo offenbar das Gesinde wohnte. Einige Weiber lehnten an den offenen Fensterluken und glotzten ihr nach.
«Da aufi!»
Über eine Stiege gelangten sie in eine winzige Dachkammer, in der gerade so eben ein Bettgestell mit Strohsack und ein Schemel unter der Schräge Platz fanden. Auf dem Schemel hatte jemand einen Krug Wasser nebst einem Kanten Brot abgestellt, darunter lag, wohlbehalten und unbeschädigt, ihr Reisesack.
Wortlos machte der Knecht auf der Schwelle kehrt, ließ die Tür hinter ihr zufallen und schob von außen den Riegel vor. Eva streckte sich in Kleidern auf dem Bett aus. Sie war also noch immer eine Gefangene. Aber das war ihr für den Augenblick herzlich egal. Mit einem Mal taten ihr alle Knochen weh, und sie spürte die Müdigkeit wie eine schwere, warme Decke auf sich niedersinken. Das Letzte, was sie hinter ihren geschlossenen Lidern wahrnahm, waren leuchtend grüne Augen und ein warmherziges Lächeln, das ihr zu sagen schien: Hab keine Angst.
«Guten Morgen.»
Eva fuhr in die Höhe. Wie gleißende Lichtspeere schoben sich die Sonnenstrahlen durch die Dachluke gegen die Tür, in deren Rahmen Moritz von Ährenfels lehnte. Er blinzelte gegen die Sonne. Sein dunkles, welliges Haar sah frisch gewaschen aus, das schmale Bärtchen hatte er wegrasiert, was seine Lippen noch voller und weicher wirken ließ, die Augen lächelten freundlich. Lediglich die Narbe auf der linken Wange verhinderte, dass sein Gesicht makellos schön war.
Dies alles dachte Eva, während sie sich aufrappelte, und im nächsten Augenblick: Bin ich von Sinnen? Was soll das, was schert mich dieser Mann? Laut sagte sie:
«Euch auch einen guten Morgen, gnädiger Herr.»
Der Junker wies hinter sich durch die offene Tür. «Du kannst gehen, wohin du möchtest. Oder auch bleiben. Wir könnten für die nächsten ein, zwei Wochen nämlich ganz gut einen Schneider brauchen. Kost und Unterkunft wären frei, dazu noch gutes Geld je nach Qualität deiner Arbeit.»
Eva verneigte sich tief. «Das ist kein schlechtes Angebot, habt vielen Dank. Aber …»
Sie stockte. Noch nie hatte ein Mann sie solchermaßen aus der Fassung gebracht. Noch dazu einer von edlem Stand – und sie selbst stand da in diesem lächerlichen Mummenschanz! Am besten, sie suchte schleunigst das Weite.
«Was ist? Hast du es dir anders überlegt? Oder soll sich der Rotbart bei dir entschuldigen? Warte, ich lass ihn gleich herholen. Zu seinem Glück sieht dein Auge heut schon wesentlich besser aus!»
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. «Nein, nein, das braucht Ihr nicht. Gebt mir einfach eine Stunde Bedenkzeit, ich bitte Euch.»
Der Junker lachte. «Gut. Aber auf leeren Magen denkt es sich schlecht. Ich hab schon unten in der Küche Bescheid gegeben. Da wartet ein warmer Milchbrei auf dich.»
«Danke!»
«Eine Frage hab ich doch noch. Schon gestern hab ich die ganze Zeit darüber nachgedacht: Sind wir uns schon einmal begegnet?»
Eva erstarrte vor Schreck. Schließlich strich sie sich das kurze Haar in die Stirn, räusperte sich tief und erwiderte: «Nicht dass ich wüsste.»
«Seltsam – ich hätte es beschwören können. Nun denn» – er schien nicht wirklich überzeugt –, «wir sehen uns dann in einer Stunde.»
Nachdem sich Eva in der Küche satt gegessen hatte, nicht ohne eine Flut neugieriger Fragen seitens des Gesindes über sich ergehen zu lassen, fühlte sie sich wieder sicherer. Auch hier zweifelte keiner ihre Identität als Schneiderknecht an. Im Gegenteil: Wie gewohnt stand sie bald im Mittelpunkt der Gespräche, zumal sie jedem, der eintrat, aufs Neue erklären musste, wer ihr so hart ins Gesicht gefahren war. Das tat sie in der ihr eigenen mitreißenden Art, die Männer wie Weiber voller Mitleid auf ihre Seite schlug.
«Wie ich sehe, fühlst du dich schon ganz daheim.» Junker Moritz war eingetreten und lächelte. «Dann können wir also mit deinen Handwerkskünsten rechnen?»
Sie holte tief Luft.
«Sehr gern, gnädiger Herr. Wo soll ich arbeiten?»