6.
Doch es kam alles ganz anders. Als Beatrice ihre Augen wieder aufschlug, befand sie sich mitten in einem wunderschön angelegten Innenhof mit blühenden Beeten und Brunnen, die leise vor sich hin plätscherten. Hunderte von brennenden Fackeln und Talglichtern sorgten anstelle von elektrischem Licht für Helligkeit. Diener liefen mit Krügen und dampfenden Schüsseln umher, aus denen ein so köstlicher Duft aufstieg, dass Beatrice augenblicklich das Wasser im Mund zusammenlief. Das Trockenobst, das die vier Brüder ihr gegeben hatten, war eben doch nicht ausreichend, um den Magen nachhaltig zu füllen. Eine kleine, schmale Frau, gekleidet in ein knöchellanges Gewand aus dunkelblauem Stoff, kam mit eiligen Schritten auf sie zu.
»Ist das unsere liebe Cousine?«, fragte sie den Diener.
Der Mann nickte. Beatrice hielt den Atem an, als sich die Frau ihr zuwandte. Jetzt war es so weit. Gleich würde sie sagen, dass sie Beatrice nicht kenne, dass dies nie im Leben eine Cousine sei, dass sie eine Schwindlerin sei, eine Hochstaplerin, deren Hände man abhacken sollte, deren Zunge man herausschneiden ...
»Sei willkommen, Sekireh«, sagte sie rasch und atemlos, so als hätte sie eigentlich überhaupt keine Zeit, hier zu stehen und Gäste zu empfangen. Ein nervöses Lächeln glitt hektisch über ihr Gesicht. »Es freut mich, dass du uns besuchst. Vor allern freut es mich, dass du die Gefahren deiner weiten Reise wohlbehalten hinter dich gebracht hast und rechtzeitig zum Abendmahl bei uns eingetroffen bist.«
Beatrice wusste vor Verblüffung nicht, was sie erwidern sollte. Sie glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Hatte man sie etwa erwartet?
»Vielen Dank ... Aber woher ... Ich weiß, ich ...«, stammelte sie hilflos.
Doch die kleine Frau winkte ab. »Du brauchst mir nicht zu danken, mein Kind«, sagte sie und gab Beatrice einen flüchtigen, hastigen Kuss auf jede Wange. »Assim, einer der Brüder des Bräutigams, hat mir bereits alles erzählt. Komm mit. Nima trägt dich zu deinem Zimmer, damit du dich frisch machen und umkleiden kannst. Und dann wird man dich zum Festsaal bringen, wo wir in Kürze unser Abendmahl einnehmen werden. Ich bin sicher, Yasmina wird sich ebenso freuen, dich zu sehen, wie ich.«
Während der Diener Beatrice durch das große, luxuriös ausgestattete Haus trug, konnte sie es immer noch nicht fassen. War es Zufall? Hatte sie einfach nur Glück, noch mehr Glück, als man brauchte, um dreimal hintereinander den Jackpot im Lotto zu knacken? Oder hatte der Stein für sie gesorgt? Hatte er ihr Aussehen so verändert, dass man sie für eine andere Frau hielt? Sie sah sich aufmerksam um, um etwas mehr über ihre Gastgeber in Erfahrung zu bringen. Überall in den Gängen standen mit Messing- und Elfenbeineinlegearbeiten verzierte Truhen aus edlen Hölzern, kostbare Teppiche und farbenfrohe Mosaike schmückten die Wände. Welchem Handwerk oder Geschäft Yasminas Eltern auch immer nachgingen, sie waren offensichtlich sehr wohlhabend dabei geworden.
Schließlich blieben sie vor einer Tür stehen.
»Da sind wir!«, sagte die Frau in geschäftigem Ton und öffnete die Tür. »Ich schicke gleich eines der Mädchen vorbei, damit sie dir beim Umkleiden behilflich ist. Assim erzählte, dass diese verfluchten Diebe dir sogar deine Kleider gestohlen haben?« Beatrice nickte, und die Frau runzelte zornig die Stirn. »Die Hilflosigkeit einer Frau in der Wüste auf so schmähliche Weise auszunutzen. Man sollte diesen frechen Kerlen auf der Stelle beide Hände abhacken. Aber Allah wird sie schon richten. Ich hoffe, dass sie jämmerlich in der Wüste verenden.« Sie schüttelte angewidert den Kopf. Dann fuhr sie in ruhigerem Ton fort: »Ich werde dir frische Kleidung bringen lassen. Jetzt ruhe dich aus, Sekireh. Wir werden dir einen Diener schicken, der dich zum Festsaal geleiten wird, sobald das Mahl bereit und es Zeit zum Essen ist.«
Und noch ehe Beatrice sich bedanken konnte, war die Frau auch schon wieder verschwunden. Sie war allein.
Das Zimmer war sehr bequem ausgestattet, mit mehreren Lagen weicher, farbenfroher Teppiche auf dem Boden, Sitzpolstern, niedrigen Tischen und einem breiten, sehr bequem wirkenden Bett in der Mitte des Raums. Beatrice humpelte langsam und mühsam zu dem Bett und ließ sich ächzend darauf fallen. Ihr tat jedes einzelne Glied weh, am ganzen Körper hatte sie blaue Flecken. Die Vorstellung, nicht mehr auf dem harten, mit spitzen Steinen übersäten Wüstenboden, sondern endlich wieder in einem richtigen weichen Bett, mit warmer Decke und möglicherweise sogar einem nach Jasmin, Orangenblüten und Melisse duftenden Kräutersäckchen unter dem Kopfkissen schlafen zu können, war so verlockend, dass sie sich nur mühsam bezwingen konnte. Am liebsten hätte sie trotz Hunger auf das Festmahl verzichtet, sich stattdessen auf dem Bett ausgestreckt, die Augen geschlossen und der Müdigkeit einfach nachgegeben. Doch dazu durfte sie sich unter gar keinen Umständen hinreißen lassen. Zu viel gab es, worüber sie noch nachdenken musste, bevor man sie zum Essen abholte.
Beatrice zwang sich, sich wieder aufzusetzen. Bald würde jemand kommen - eine Dienerin, ein Diener, vielleicht sogar diese kleine Frau selbst. Sie musste überlegen, wie sie sich dann verhalten sollte.
Wer war diese kleine Frau? War sie die Hausherrin? Und wenn ja, wie sollte sie sie ansprechen? Beatrice versuchte sich aus ihrer Zeit in Buchara in Erinnerung zu rufen, wie sich die Frauen gegenseitig genannt hatten. Sollte sie einfach »Tante« sagen? Wäre sie wirklich eine Cousine der Braut gewesen, hätte sie vermutlich den Namen dieser Frau gewusst und sie bei ihrem Namen genannt. Aber so?
Es klopfte, und die Tür ging auf. Ein kleines mageres Mädchen erschien im Türrahmen, beladen mit weißen Tüchern, frischer Wäsche, Schüsseln und einem Krug, aus dem Dampfwolken aufstiegen.
»Komm herein«, sagte Beatrice freundlich. Aus ihrer Zeit im Harem des Emirs von Buchara wusste sie, dass die jungen Dienerinnen, meistens völlig verängstigte, schüchterne Wesen, für ein nettes Wort und ein Lächeln mehr als dankbar waren. Für ein bisschen Freundlichkeit taten sie beinahe alles.
»Herrin«, sagte das Mädchen und verneigte sich. »Die Herrin befahl mir, Euch bei der Reinigung und beim Umkleiden zu helfen.«
»Ich danke dir«, erwiderte Beatrice und begann bereits damit, ihre staubige, verschwitzte Reisekleidung auszuziehen. »Vor allem brauche ich jedoch warmes Wasser, ein Fläschchen Myrrhe und saubere Tücher für meine Füße.«
»Ich habe schon alles dabei, Herrin«, sagte das Mädchen. »Außerdem habe ich noch einen Tiegel mit Salbe aus Ziegenfett mitgebracht. Damit könnt Ihr Eure wunden Füße behandeln.«
Und dann kniete sich das Mädchen auf den Boden vor Beatrice nieder und begann ihr vorsichtig die Stiefel auszuziehen.
Während das Mädchen mit sanften und geschickten Händen ihre Füße badete, sie abtrocknete und das Myrrheöl auftupfte, dachte Beatrice an ihre Zeit in Buchara zurück. Sie hatte lange gebraucht, um sich an die ständige Anwesenheit der Diener zu gewöhnen. Es war ihr schwer gefallen zu akzeptieren, dass die Mädchen ihr jeden noch so kleinen Handgriff abnahmen. Manchmal hatte sie sich gefühlt, als hätte man sie in eine Zwangsjacke gesteckt. Und bis zum Schluss hatte sie es abgelehnt, die Diener so zu betrachten, wie alle anderen es taten. Für die anderen Frauen im Harem waren die Diener nichts als lebloses, allerdings sehr nützliches und daher unentbehrliches Inventar gewesen. Möbelstücke - zwar anwesend, aber ohne Augen, ohne Ohren und auch ohne Gefühle.
Nur wenig später war Beatrice fertig angekleidet. Sie trug ein knöchellanges Kleid aus federleichter hellblauer Wolle. Ihre Füße waren verbunden und steckten in weichen bunt bestickten und mit Schaffell gefütterten Pantoffeln. Das Mädchen war gerade dabei, Beatrices Haare zu bürsten und sie mit zierlichen Kämmen aus Perlmutt an den Seiten festzustecken, als es an der Tür klopfte. Die Dienerin lief hin und sprach ein paar hastige Worte, dann eilte sie zu Beatrice zurück.
»Nima ist da, Herrin, um Euch zum Festsaal zu bringen«, sagte sie und fuhr Beatrice mit der Bürste ein wenig schneller durch die Haare. »Das Festmahl zu Ehren unserer jungen Herrin Yasmina beginnt in wenigen Augenblicken.«
»Sind viele Gäste heute Abend anwesend?«, fragte Beatrice so beiläufig wie möglich.
»O ja, Herrin!«, antwortete das Mädchen und strahlte über das ganze Gesicht. »Alle Frauen des Dorfes sowie alle weiblichen Verwandten der Familie sind heute geladen. Sogar wir«, sie zeigte auf sich, »die Dienerinnen des Hauses, dürfen an den Festlichkeiten zu Ehren unserer jungen Herrin teilnehmen. Heute Abend nimmt sie Abschied.«
»Abschied?«, fragte Beatrice und versuchte ihre Erleichterung zu verbergen. Wenn viele Gäste da waren, würde man ihr selbst sicher nicht so viel Aufmerksamkeit schenken.
»Ja.« Das Mädchen nickte eifrig, und Beatrice hatte den Eindruck, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Abschied von den unbeschwerten Tagen der Jugend, Abschied von der Jungfräulichkeit, Abschied von dem Haus, in dem sie geboren wurde und aufgewachsen ist, Abschied von Qum. Morgen gleich nach Sonnenaufgang wird Yasmina ihren Bräutigam heiraten, dem sie seit vielen Jahren versprochen ist. Und wenn die Hochzeitsfeierlichkeiten vorüber sind, wird sie gemeinsam mit ihm Qum verlassen und in seine Heimat ziehen - in das ferne Gazna.« Sie schluckte. »Verzeiht, Herrin«, sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. »Ich weiß, ich sollte mich für Yasmina freuen, ist doch die Heirat neben der Geburt des ersten Sohnes das Schönste, das im Leben einer Frau geschehen kann. Es verleiht ihrem Leben Glanz, gibt ihrem Dasein einen Sinn. Und dennoch ... ich werde unsere junge Herrin vermissen. Wir alle werden sie vermissen ...«
Beatrice runzelte unwillig die Stirn und umklammerte die Armlehnen des Sessels. Ihr fielen auf Anhieb wenigstens hundert Dinge ein, die wunderbar geeignet waren, dem Leben einer Frau Glanz und Sinn zu verleihen und die gleichzeitig nichts mit Hochzeit oder Söhnen zu tun hatten. Trotzdem hielt sie den Mund. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um mit einer Dienerin über die Rolle der Frau in der Gesellschaft zu diskutieren. Außerdem musste sie sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie sich nicht im christliehen Europa und vermutlich auch nicht im 21. Jahrhundert befand. Dies hier war der Orient, vielleicht sogar das Mittelalter. Die kleine Dienerin hätte sie bestimmt nicht verstanden.
In den Augen der Kleinen muss ich wirklich zutiefst unglücklich sein, eine Versagerin auf ganzer Linie, dachte Beatrice nicht ohne einen Anflug von Humor. Mein Leben ist verpfuscht. Ich habe nichts als eine Tochter und bin noch nicht einmal verheiratet. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich meinem unglücklichen, minderwertigen Dasein nicht schon längst ein Ende bereitet habe.
Das Mädchen steckte den letzten Haarkamm an Beatrices Hinterkopf fest und betrachtete zufrieden ihr Werk. Dann reichte sie ihr ein Tuch aus dunkelblauer Wolle, das so groß war, dass Beatrice sich mühelos ganz und gar darin hätte einwickeln können. Sie legte es Beatrice über den Kopf und schlang die eine Seite kunstvoll über die Schulter. Offensichtlich war dies der Schleier. Bei Bedarf konnte man ihn sich einfach vor das Gesicht ziehen, ohne den ganzen Tag vermummt wie ein Bankräuber herumlaufen zu müssen. Eine wesentlich angenehmere Interpretation des Verschleierungsgebots, als sie es noch von Buchara gewohnt war.
Beatrice schlurfte mühsam zur Tür, vor der der Diener immer noch geduldig wartete. Er verneigte sich stumm vor Beatrice und hob sie wieder auf seine Arme.
»Dein Name ist Nima?«, fragte Beatrice, bevor er sich in Bewegung setzte.
»Ja, Herrin.«
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Nima.«
»Ja, Herrin?« Er sah sie aufmerksam aus Augen an, die die Farbe von Schokolade hatten, leckerer, verführerisch köstlicher Schokolade.
»Setze mich wieder ab, noch ehe wir den Festsaal erreichen, Nima«, sagte Beatrice. »Wenn ich meiner Cousine und ihren Gästen gegen übertrete, möchte ich nicht getragen werden wie eine alte lahme Frau, sondern dies auf eigenen Füßen tun.«
»Wie Ihr es wünscht, Herrin«, entgegnete der Diener in einem Ton, der ihr deutlich zeigte, dass es ihm im Grunde egal war, ob er sie nur den Gang hinunter oder einmal quer durch die Oase tragen musste. Doch ihr war es nicht egal. Sie kannte schließlich ihr eigenes Geschlecht. Im Festsaal zu erscheinen, getragen von diesem kraftstrotzenden jungen gut aussehenden Mann würde ohne Zweifel Aufsehen erregen. Alle Frauen würden den Diener anstarren, jede seiner Bewegungen beobachten, ihre Köpfe zusammenstecken und über ihn reden - und dabei zwangsläufig auch sie selbst bemerken. Und das wollte Beatrice auf keinen Fall riskieren. Je weniger Aufmerksamkeit sie an diesem Abend auf sich ziehen würde, umso besser.
Nima hielt sein Wort und setzte Beatrice außer Sichtweite des Eingangs zum Festsaal ab. Die restlichen Meter legte sie mühsam zurück, jeder einzelne Schritt wurde zur Qual. Ihre Füße fühlten sich an, als würde sie jetzt auf den blanken Knochen laufen. Doch sie biss tapfer die Zähne zusammen und war dankbar, dass niemand ihr nicht besonders anmutiges Schlurfen sehen konnte. Sie würde ihr Tuch vor das Gesicht ziehen, sich ein sicheres Plätzchen in einer unscheinbaren Ecke des Saals suchen und sich nicht eher wieder erheben, bis das Mahl beendet war.
Als sie jedoch durch die weit offene Tür in den Festsaal trat, blieb ihr fast das Herz stehen. Darin befanden sich wohl über zweihundert Frauen jeden Alters. Sie alle waren festlich gekleidet. Ihre kunstvollen Frisuren waren mit Haarkämmen verziert, an denen Perlen, Edelsteine, Gold und Perlmutt im Licht hunderter Öllampen schimmerten. Die Frauen unterhielten sich, lachten und riefen sich Begrüßungen zu, ohne nicht auch die anderen mit kritischen, zum Teil auch neidischen Blicken zu mustern. Nicht eine der Frauen war verschleiert.
Noch mehr Kopfzerbrechen als die fehlende Möglichkeit, sich zu verhüllen, bereitete Beatrice jedoch die Sitzordnung. Im Gegensatz zu üblichen arabischen Festmählern, bei denen niedrige Tische kreuz und quer im ganzen Raum verteilt waren, um die sich dann die Gäste in kleinen Gruppen zusammenfanden, gab es hier lediglich zwei große Kreise - einer für die älteren Frauen, einer für die jungen. Die Tische und Sitzpolster waren dabei so angeordnet, dass jede Frau mit dem Gesicht zur Kreismitte hin saß. Und dort, im Zentrum, thronten die Hausherrinnen auf einem mit Teppichen und Polstern ausgestatteten Podest - mit einem ungetrübten Blick auf jeden Einzelnen ihrer Gäste.
Ein Mädchen eilte auf Beatrice zu und führte sie an ihren Platz im Kreis der jungen Frauen. Kraftlos ließ sie sich auf das Polster sinken.
Jetzt ist es vorbei!, dachte sie unglücklich und suchte nach einer passenden Antwort oder einer Fluchtmöglichkeit.
Doch zu ihrer großen Erleichterung schien Yasmina keine Notiz von ihr zu nehmen. Sie lag lässig ausgestreckt auf ihrem Podest, ein Bild wie eine Prinzessin aus einem Hollywood- Märchenfilm der fünfziger Jahre, und unterhielt sich gerade mit einer Frau auf der anderen Seite des Kreises. Beatrice schöpfte wieder Hoffnung. Vielleicht würde ja trotzdem alles gut gehen. Yasmina konnte wohl kaum ihr Essen genießen und gleichzeitig alle zweihundert Frauen um sich herum im Blick behalten.
Doch erst als die Diener das Essen hereinbrachten und Yasmina sie immer noch keines Blickes gewürdigt hatte, entspannte sich Beatrice ein wenig und wandte ihre Aufmerk - samkeit den Speisen zu. Die Messingplatten und Teller bogen sich fast unter dem Gewicht der eingelegten Oliven, dem in Scheiben geschnittenen kalten Fleisch, den kleinen, nach Knoblauch und Lamm duftenden Würsten, Brot und Käse. Verstohlen betrachtete Beatrice die Frauen, die rechts und links neben ihr saßen. Beide waren junge, magere Geschöpfe, sicher kaum älter als vierzehn, die so gierig die Speisen in sich hineinstopften, als hätten sie ebenfalls eine Wüstenwanderung hinter sich gebracht. Dieses Verhalten war so ungewöhnlich für Damen aus gutem Hause, dass Beatrice davon ausging, dass es sich bei ihren Tischnachbarinnen um Dienerinnen handelte.
Umso besser, dachte Beatrice erfreut und nahm sich eine der mit Schafskäse gefüllten und in Knoblauchöl eingelegten Oliven, die fast die Größe von Hühnereiern hatten. Wenn sie viel essen, können sie wenigstens nicht mit mir sprechen und mir dumme Fragen stellen.
Sie begann allmählich Gefallen an dem Essen zu finden. Beiläufig registrierte sie, dass sie ausschließlich von gut gewachsenen jungen Männern bedient wurden. Trotzdem schienen die Frauen nicht einen Moment daran zu denken, ihre Schleier vor die Gesichter zu ziehen und sich - so wie es sich eigentlich gehörte - zu verhüllen. Im Gegenteil. Offensichtlich war es hier wie überall auf der Welt. Vor der Ehe durfte Yasmina noch einmal den Anblick anderer Männer in vollen Zügen genießen. Und vermutlich tat Malek, der Bräutigam, in eben diesem Augenblick das Gleiche.
»Wie ist dein Name?«
Eine ruhige, klare Stimme riss Beatrice aus ihren Gedanken, und sie sah erschrocken auf. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es die Stimme von Yasmina war und dass sie selbst angesprochen worden war. Plötzlich schienen alle Gespräche zu verstummen und alle Blicke sich auf sie zu richten, so als hätte jemand das Licht im Saal ausgeknipst und nur sie selbst säße jetzt direkt im Kegel eines Spotlights.
Beatrice wurde abwechselnd heiß und kalt. War sie unvorsichtig gewesen? Hatte sie durch eine unbedachte Geste Yas- minas Aufmerksamkeit erregt? Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Nun war es doch so weit. Jetzt würde alles ans Licht kommen. Man würde sie davonjagen, und dann ...
»Mein Name ist Sekireh«, antwortete sie und hoffte inständig, dass ihre Stimme nicht zu sehr zittern möge.
»Ach, natürlich, Sekireh«, sagte Yasmina und lachte leise. »Meine liebe Cousine, die einen so beschwerlichen Weg hinter sich gebracht hat, nur um am Tage meiner Hochzeit meine Freude mit mir zu teilen. Meine Mutter erzählte mir von deiner Wanderung durch die Wüste. Vergib mir, dass ich dich nicht sofort erkannt habe.«
Yasmina verneigte sich, berührte Mund und Stirn mit ihrer Hand und lächelte. Doch ihre Augen, beinahe erschreckend helle, kluge und wachsame Augen, waren dabei so forschend auf Beatrice gerichtet, dass ihr der Schweiß ausbrach. Es gab keinen Zweifel, diesen Augen entging nichts. Yasmina wusste, dass sie nicht ihre Cousine war. Aber weshalb schlug sie dann nicht Alarm? Weshalb gab sie nicht einfach den Dienern den Befehl, sie aus dem Festsaal zu entfernen und in Ketten zu legen? Oder sparte sie tz sich als Krönung für einen ganz besonderen Augenblick auf?
Den Rest der Mahlzeit konnte Beatrice nicht mehr genießen. Sie rührte kaum noch etwas an und ließ sogar die Süßspeisen - köstliches, nach Mandeln, Honig, Rosenblüten und Zimt duftendes Gebäck, Pfannkuchen mit Sirup und reife Pfirsiche - stehen. Die Tänzerinnen, die unter dem johlenden Gelächter und Klatschen der Frauen einen ziemlich frivolen Tanz aufführten, beachtete sie kaum. Sie überlegte fieberhaft, was Yasmina wohl vorhatte und was sie dagegen unternehmen konnte. Und jedes Mal, wenn sie von ihrem Becher oder Teller aufsah, waren die hellen Augen der jungen Frau auf sie gerichtet.
Endlich war das Festmahl vorüber. Zu ihrer großen Erleichterung brachen fast alle Gäste gleichzeitig auf, sodass Beatrice sich unter die anderen mischen und den Saal verlassen konnte. Auf ihrem mühevollen Weg durch das Haus sah sie sich immer wieder um, doch niemand schien ihr zu folgen, und ohne Schwierigkeiten gelangte sie zu ihrem Zimmer.
Es war spät in der Nacht. Beatrice lag hellwach auf ihrem Bett. Obwohl sie mittlerweile so müde war, dass sie beinahe schon Doppelbilder sah, konnte sie nicht einschlafen. Sie verfolgte die huschenden Schatten, die das Licht der Talglampe an die weiß getünchte Zimmerdecke malte, und dachte über Yasmina nach. Dass sie sie durchschaut hatte, darauf hätte Beatrice ihren rechten Arm verwettet. Aber warum hatte sie dann während des Festmahls nichts gesagt? Warum hatte die junge Frau nicht die Diener gerufen?
Plötzlich öffnete sich die Tür lautlos und langsam, wie von Geisterhand bewegt. Eine Gestalt, bekleidet mit einem knöchellangen weißen Gewand, huschte herein, und noch bevor Beatrice sie genauer erkennen konnte, wusste sie bereits, um wen es sich handelte. Es war Yasmina.
Die junge Frau blieb stehen. Offensichtlich war sie überrascht über die brennende Lampe. Beatrice hörte ihre schweren, heftigen Atemzüge und nahm an, dass sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte.
»Du bist wach?«, fragte sie schließlich barsch.
Beatrice setzte sich auf.
»Ja, ich konnte nicht schlafen.«
Sie sah Yasmina am Fußende ihres Bettes stehen. Das Licht der kleinen Lampe fiel auf das blasse, entschlossene Gesicht der jungen Frau und auf das, was sie in ihren zitternden Händen hielt - ein silbrig glänzendes schlankes Stück Metall. Es war ein Dolch.
Beatrice schluckte. Doch bereits im nächsten Augenblick verflog ihre Angst, und Wut packte sie. Sie war auf der Suche nach ihrer Tochter, einem kleinen, nicht einmal vierjährigen Mädchen, das mutterseelenallein durch die Zeitgeschichte irrte. Und sie war nicht gewillt, sich aufhalten zu lassen. Nicht von der Wüste, nicht von einer Meute hungriger Geier, und schon gar nicht von einem nervösen jungen Mädchen, das am Abend vor seiner Hochzeit noch unbedingt Heldin spielen wollte.
»Was willst du?«, fragte Beatrice kühl und war entschlossen, sich durch nichts einschüchtern zu lassen. Wenn unbedingt nötig, würde sie sogar mit Yasmina kämpfen. »Bist du gekommen, um mich zu erstechen?«
Yasmina presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und trat ein paar Schritte näher.
»Es kommt ganz auf dich an«, stieß sie hervor und packte den Griff des Dolches fester, so als hätte sie die Absicht, ihn jeden Augenblick in Beatrices Herz zu stoßen. »Wenn du meine Fragen wahrheitsgemäß beantwortest, lasse ich dich vielleicht sogar laufen.«
»Gut, dann fang an«, erwiderte Beatrice und zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Ich habe nichts zu verbergen.«
»Wer bist du wirklich? Und woher kommst du?«, fragte Yasmina. Sie ließ sich langsam und vorsichtig auf das Fußende des Bettes sinken, als würde sie einem Tiger oder einer gefährlichen Kobra gegenüberstehen. »Ich will keine Ausflüchte hören! Mich kannst du nämlich nicht so leicht täuschen wie meine Mutter. Sie ist immer so beschäftigt, dass man ihr sogar einen vierten Sohn unterschieben könnte, ohne dass sie es bemerken würde. Aber ich weiß, dass es in unserer
Familie keine Cousine mit dem Namen Sekireh gibt. Noch dazu eine mit blauen Augen und goldenem Haar. Du hättest dir eine andere, eine glaubhaftere Geschichte ausdenken sollen. Ich will jetzt die Wahrheit hören.«
Beatrice dachte kurz nach. Und dann, aus einem Impuls heraus, beschloss sie, Yasmina genau das zu geben, was sie von ihr verlangte - die Wahrheit.
»Gut, wie du willst«, sagte sie, »ich werde dir erzählen, was wirklich geschehen ist.«
Während Beatrice erzählte, vom Stein der Fatima, von ihrer Tochter, die zu Hause im Koma lag, von ihrer mühevollen Wanderung durch die Wüste und wie die vier Brüder sie schließlich gefunden hatten, sah Yasmina sie unverwandt an. Ihre schönen, fast grünen Augen schienen jede Geste, jede Mimik von Beatrice genau zu registrieren und dabei zu prüfen, ob sie sie anlog oder nicht.
»Und dann nahm Assim mich auf sein Pferd, und die vier brachten mich hierher«, beendete Beatrice ihren Bericht.
Yasmina schwieg eine Weile und runzelte die Stirn.
»Und das soll ich dir glauben?«, fragte sie.
Beatrice zuckte mit den Schultern. »Ich habe dir die Wahrheit erzählt, so wie du es wolltest. Ob du sie nun glaubst oder nicht, das bleibt allein dir überlassen.«
»Falls das wirklich die Wahrheit ist. Warum hast du Malek und den anderen nichts davon erzählt?«, fragte Yasmina. »Weshalb hast du das Märchen von der Cousine erfunden und dich wie ein gemeiner Betrüger und Dieb in unser Haus eingeschlichen?«
»Das war nie meine Absicht!«, entgegnete Beatrice scharf. »Assim hat dafür gesorgt, dass ich in euer Haus aufgenommen werde. Ich wollte nichts anderes, als endlich diese entsetzliche Wüste hinter mir lassen. Ich hatte Durst, ich hatte Hunger. Die Geier kreisten bereits über meinem Kopf. Ich hatte den Tod vor Augen. Was hätte ich denn deiner Meinung nach in so einer Situation tun sollen?« Beatrice strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ehrlich gesagt, ich weiß selbst nicht, warum mir das mit der Hochzeit und der Cousine eingefallen ist. Es war eine Art Eingebung. Aber ich bin sicher, dass weder Malek noch einer seiner Brüder mir auch nur ein Wort geglaubt hätte, wenn ich ihnen erzählt hätte, wer ich wirklich bin. Sie hätten in mir eine Hexe vermutet und mich auf der Stelle getötet.«
Yasminas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Drohend hob sie ihren Dolch.
»Und warum sollte ich dir jetzt mehr Glauben schenken als Malek?«
Beatrice sah sie an. Ihr Daumen glitt unablässig über die glatte Oberfläche des Saphirs unter ihrer Bettdecke, und in ihrem Kopf kreisten immer wieder dieselben Worte: Ich vertraue dir, ich vertraue dir, ich vertraue dir ...
»Mein Gefühl sagt mir, dass ich dir vertrauen kann. Dass du, auch wenn du dich noch dagegen sträubst, tief in deinem Herzen meinen Worten Glauben schenkst, dass du sogar weißt, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe.«
»Und wenn es so wäre ...« Yasmina wandte sich ab und stand auf. Langsam und nachdenklich ging sie durch den Raum, legte schließlich den Dolch an das Fußende des Bettes und setzte sich neben Beatrice.
»Wie heißt du wirklich, Sekireh?«, fragte sie. »Wer oder was bist du? Bist du eine Magierin, bewandert in den schwarzen Künsten?«
»Nein. Mein Name ist Beatrice Helmer«, entgegnete Beatrice ruhig. »Und ich bin Chirurgin, Ärztin. Ich habe an der Universität in meiner Heimatstadt Medizin studiert.«
Yasminas Augen weiteten sich vor Staunen, und Beatrice wusste, dass sie gewonnen hatte. Yasmina glaubte ihr.
»Du hast studiert? Dort, wo du herkommst, werden Frauen an den Universitäten geduldet?«
»Ja. Aber das liegt nicht allein an meinem Heimatland. Welches Jahr haben wir?«
»407.«
Beatrice rechnete kurz nach. Das Jahr 407 nach islamischer Zeitrechnung entsprach in etwa dem Jahr 1017. Ein gutes Datum, ein sehr gutes sogar. Bedeutete es doch, dass sie bei ihrer Suche nach Michelle auch Ali wiederbegegnen konnte, begegnen würde, denn vermutlich war Michelle auf dem Weg zu ihm. Ali ... Wie er wohl jetzt aussah? Ob er glücklich war? Ob er geheiratet hatte? Vielleicht hatte er ja sogar Kinder und ... Plötzlich fiel ihr ein, dass sie nicht allein war. Sie räusperte sich.
»407. In etwa tausend Jahren wird es fast überall auf der Welt Frauen und Männern gleichermaßen möglich sein, zu studieren und ihren Beruf frei zu wählen. Egal, ob Handwerker, Kaufmann, Arzt oder Künstler - es bleibt jedem selbst überlassen.« Na, wenigstens soweit die wirtschaftlichen Verhältnisse und das Angebot an freien Stellen dies erlauben.
»Was für ein herrlicher Traum«, erwiderte Yasmina und seufzte tief. »Darf ich den wundersamen Stein einmal sehen?«
Beatrice zog ihre Hand unter der Bettdecke hervor und reichte Yasmina den kostbaren Saphir. Sie hielt ihn einen Augenblick in der Hand und betrachtete ihn beinahe sehnsüchtig. Dann gab sie ihn Beatrice zurück.
»Du hast Recht. Ich glaube dir. Der Stein der Fatima ...« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Es ist kaum zu begreifen. Aus dem Nebel der Geschichten tritt er plötzlich hervor und liegt hier leibhaftig auf meiner Hand. Fast vergessene Märchen und Legenden werden wahr. Ich wünschte, er könnte auch mich fortbringen - weit weg von hier. Vielleicht sogar in eine andere Zeit.«
Beatrice ahnte schon, dass Yasmina sich keineswegs ausgelassen über die bevorstehende Hochzeit freute. Ob sie einen anderen Mann liebte? Aber vielleicht hatte die junge Frau einfach nur Angst. Angst vor den einschneidenden Veränderungen, die ab dem morgigen Tag ihr Leben völlig umkrempeln würden.
»Fürchtest du dich vor morgen?«, erkundigte sie sich und legte Yasmina mitfühlend eine Hand auf den Arm.
»Ja und nein«, antwortete sie und knetete nervös ihre Hände in ihrem Schoß. »Es ist nur, dass ich ... Ich weiß, ich sollte dankbar sein und Allah für die kluge Wahl meines Vaters preisen. Malek ist ebenso jung wie ich. Er stammt aus einer wohlhabenden, angesehenen Familie. Er ist sogar sehr hübsch, das habe ich heimlich von meinem Fenster aus gesehen. Und Gazna ist eine bedeutende Stadt mit Universitäten und Basaren, auf denen man sogar Bücher kaufen kann - ganz anders als Qum. Wahrscheinlich wird es mir bei Malek besser ergehen als den meisten anderen Frauen, die ich kenne. Eine meiner Freundinnen musste zum Beispiel einen Mann heiraten, der mit ihrem Großvater zur Falkenjagd gegangen ist, als beide noch Knaben waren. Aber ...«
»Aber?«, fragte Beatrice sanft. »Du liebst Malek nicht.«
Yasmina sah Beatrice überrascht an.
»Das eben weiß ich ja gar nicht. Woher soll ich wissen, ob ich ihn liebe oder nicht, wenn ich ihn das erste Mal in meinem Leben heute Abend bei einem flüchtigen Blick aus meinem Fenster gesehen habe?« Plötzlich warf sie ihren Kopf in den Nacken und stampfte zornig mit dem Fuß auf. »Warum muss ich überhaupt einen Mann heiraten, den ich mir nicht selbst ausgewählt habe und den ich noch nicht einmal kenne? Das ist ungerecht. Meine Familie muss nicht den Rest ihres Lebens mit ihm teilen, sondern ich!« Sie runzelte die Stirn und starrte mit düsterem Blick auf ihre nackten Füße. »Wie soll ich überhaupt jemals wissen, ob ich Malek wirklich liebe, wenn ich die Liebe nie kennen gelernt habe und er der erste und einzige Mann meines Lebens sein wird? Ich bin wie ein junger Adler, dem die Flügel bereits gestutzt werden, noch bevor er sie das erste Mal ausgebreitet hat, um zu fliegen.«
Beatrice schwieg. Natürlich konnte sie Yasmina verstehen. Sehr gut sogar. Und es lag ihr auf der Zunge, die Worte drängten förmlich aus ihr heraus, die junge Frau in ihrem Wunsch nach Freiheit, nach dem Recht auf Selbstbestimmung zu bestärken. Doch sie hielt den Mund. Sie musste an Jambala denken. Das arme Mädchen hatte sich in Buchara ohne Schleier vor die Augen der Männer getraut und war daraufhin vom Emir so schwer bestraft worden, dass es schließlich an den Folgen der Misshandlungen gestorben war. Vielleicht war sie jetzt feige, da sie Yasmina ihre wahre Meinung verschwieg. Vielleicht war sie aber auch durch ihre Reisen in andere Zeiten und Kulturen klüger geworden. Ihre eigenen Wertvorstellungen, die Errungenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts passten nicht in jede Zeit, nicht in jede Gesellschaft. Manchmal waren sie wie ein todbringendes Gift. Ein Gift, an dessen Dosis sich die Menschen ihres eigenen Jahrhunderts bereits gewöhnt hatten und gegen das sie immun waren.
»Nehmen wir mal an, ein Dschinn käme vorbei und würde dir deinen Wunsch erfüllen. Du wärst frei und dürftest tun, was auch immer dein Herz begehrt. Was würdest du mit dieser Freiheit anfangen?«
Yasmina sah auf, ihre Augen begannen zu leuchten.
»Ich würde Qum auf der Stelle verlassen und auf Reisen gehen«, antwortete sie ohne nachzudenken. »Fremde Menschen und Länder sehen und darüber schreiben.«
»Schreiben?«
»Ja. Für mich ist es das Lebenselixier. Ohne zu schreiben - ganz gleich, ob es sich um Gedichte, Liebes- und Abenteuergeschichten oder Märchen handelt - könnte ich vermutlich nicht existieren. Die Geschichten sind überall, ich kann sie überall sehen. Sie hängen wie reife Früchte an den Bäumen, sprießen wie Blumen aus der Erde, sie liegen zwischen den Steinen in der Wüste und den Muscheln am Ufer des Sees und warten nur darauf, aufgehoben und aufgeschrieben zu werden. Sie kommen sogar im Traum zu mir. Und das würde ich tun. Mein ganzes Leben lang. Und vielleicht, irgendwann, wenn er mir wirklich gefiele, würde ich sogar Malek heiraten - und eine neue Geschichte schreiben.« Sie lächelte. »Ich würde nicht mehr heimlich schreiben müssen, nachts, wenn alle anderen schlafen. Ich würde es bei Tage tun, und jeder würde es wissen. Niemand könnte es mir verbieten.« Ihr Lächeln erstarb. »Aber stattdessen sitze ich Nacht für Nacht unter meiner Bettdecke, zitternd vor Angst, dass das Tintenfass umstürzen und verräterische Flecken auf dem Laken hinterlassen, oder ein Lichtschein durch die Türritzen nach außen dringen und mich verraten könnte. Denn selbstverständlich darf ich nicht schreiben. Ich bin schließlich nur eine Frau. Und Frauen sollen nicht schreiben. Sie sollen auch nicht die Werke der großen Dichter lesen - wundervolle Verse, die demjenigen, der sie liest, Tränen der Sehnsucht in die Augen treiben. Es reicht, wenn Frauen die Verse des Korans kennen.« Sie lachte bitter. »Mein Vater hat mir sogar den Unterricht verweigert. Während meine Brüder von ihm selbst in die köstliche Kunst des Schreibens eingewiesen wurden, musste ich mit meiner Mutter zusammen in der Küche hocken und die Gewänder meiner Brüder mit Stickereien verzieren. Doch ich habe nicht aufgegeben. Abends, wenn alle schliefen, habe ich mir ihre Blätter genommen und anhand ihrer Schreibübungen Buchstaben mit dem Finger auf meine Bettdecke oder in den Sand vor unserem Haus gemalt.«
»Aber glaubst du nicht, dass du auch als Ehefrau immer noch schreiben könntest? Dass Malek vielleicht sogar Verständnis für diese Leidenschaft haben wird?«
Yasmina schnaubte. »Er ist ein Mann. Weshalb sollte er anders sein als mein Vater und meine Brüder? Und wenn ich erst einmal verheiratet bin, habe ich nicht einmal mehr die Stunden der Nacht zur Verfügung. Dann wird nämlich mein Ehemann sein Recht von mir fordern.«
Beatrice wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, denn im Geheimen teilte' sie Yasminas Befürchtungen.
»Hättest du Lust, mir eines deiner Werke vorzulesen? Natürlich nur, falls du nicht zu müde bist, denn immerhin hast du morgen einen langen und anstrengenden Tag vor dir.«
Yasmina fuhr auf und sah Beatrice mit großen Augen an.
»Wirklich? Ist das dein Ernst? Ich soll dir wirklich ...«
»Aber ja. Wenn du magst, ich würde gern eine deiner Geschichten hören.«
»Oh, ich ...«, Yasmina sprang vom Bett auf. »Ich bin gleich wieder da!«
Es waren kaum zwei Minuten vergangen, als die junge Frau schon wieder zurückkam, in den Armen einen riesigen Stapel Papier, den sie aufgeregt auf dem Bett ausbreitete. Sie strich sich ihr langes schwarzes Haar aus dem Gesicht, das vor Freude glühte.
»Ich weiß nur nicht, ob ...«, stammelte sie und sah Beatrice an. In ihren hellen Augen glomm Verzweiflung und Schüchternheit. »Ich möchte deine Ohren nicht beleidigen. Du musst wissen ... nun ja, ich ... du bist der erste Mensch, dem ich von meinen Geschichten und Gedichten erzählt habe. Bislang war es mein Geheimnis. Und daher bist du auch der erste Mensch, dem ich eines meiner Werke vorlese, und ich ...«
»Nur Mut«, sagte Beatrice und lächelte aufmunternd.
»Und du wirst mir bestimmt deine ehrliche Meinung darüber sagen? Ich meine, ich würde mich nämlich gern verbessern, Fehler ausmerzen und ...« Sie wühlte zwischen den Blättern und kaute dabei nervös auf ihrer Unterlippe. »Womit fange ich nur an? Ja, vielleicht dies hier.«
Yasmina nahm ein Blatt in die Hand, auf dem, wie Beatrice im Gegenlicht erkennen konnte, nur einige wenige Zeilen standen. Sie räusperte sich und begann dann mit leiser Stimme zu lesen.
Bereits mit den ersten Worten verließ Beatrice das Zimmer. Sie war draußen am See, der Abend brach an, und die Fischer begannen mit ihren Booten hinauszufahren. Es war in seiner Schlichtheit eines der schönsten Gedichte, das Beatrice jemals gehört hatte. Sie bat Yasmina, noch mehr vorzulesen. Und Yasmina las mit vor Freude geröteten Wangen, bis der erste Lichtstrahl durch das Fenster fiel und sich ein neuer Morgen ankündigte. Erst als die Vögel ihren Morgengesang anstimmten, ließ Yasmina die Blätter sinken und sah hinaus.
»Du darfst auf keinen Fall aufhören zu schreiben, Yasmina«, sagte Beatrice in die Stille hinein. »Allah hat dir eine wundervolle, eine seltene Gabe gegeben. Das ist mehr als ein Geschenk. Es ist geradezu eine Verpflichtung. Deine Gedichte und Geschichten müssen bekannt werden. Die Menschen müssen sie hören. Sie werden sie glücklich machen, sie trösten.«
Yasmina wandte ihr Gesicht wieder Beatrice zu, und sie sah, dass die junge Frau weinte.
»Aber wie, Beatrice? Wie soll ich das tun?« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich bin doch nur eine Frau.«
»Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es keine Wege gibt, die dich zu deinem Ziel führen können. Natürlich wird es für dich schwieriger sein als für andere Dichter. Trotzdem, du solltest nicht so einfach aufgeben. Allah macht keine Fehler.« Beatrice lächelte. »Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht fällt mir eine Lösung ein.«
»Ich bin so froh, dass der Stein dich hierher geführt hat«, sagte Yasmina und schlang Beatrice ihre Arme um den Hals. »Du bist der erste Mensch, dem ich mich anvertrauen konnte, der mich versteht. Ich möchte, dass du nachher bei meiner Hochzeit direkt an meiner Seite stehst, als meine Cousine Sekireh.«