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7.

Beatrice stand am Fenster ihres Zimmers und sah hinaus.

Von hier aus hatte sie einen herrlichen Blick über den See, dessen Oberfläche still und unberührt dalag wie ein gigantischer Spiegel, in dem die Sterne und der blassblaue Morgenhimmel reflektiert wurden. Am Horizont stieg ein schwacher Dunst vom Wasser auf. Es war ein leichter Nebel, der sich wie ein dünner Schleier aus einem Märchen oder einer Sage über das Grabmal des Heiligen am gegenüberliegenden Ufer legte und die scharfen, kantigen Konturen des Gebäudes milderte. Es gab keine Grenzen mehr. Wo begann der Himmel, wo das Wasser? Was war Realität, was Traum? Das Grabmal, das noch am Abend zuvor fast zum Greifen nahe gewesen war, schien nun mitten in den Wolken zu schweben wie ein sagenumwobenes Schloss.

Avalon. Oder Xanadu. Mit Wehmut dachte Beatrice an die herrliche Sommerresidenz des Khubilai Khan zurück, in der sie auf einer ihrer beiden seltsamen Zeitreisen mehrere Wochen gelebt hatte. Mittlerweile gehörte Shangdou - so der eigentliche Name dieser Stadt - in das Reich der Sagen, eine Wohnstatt der Elfen, Feen und toten Helden. Wie Dschinkim einer gewesen war.

Beatrice wandte sich vom Fenster ab. Durch die geschlossene Tür hörte sie die Diener. Trotz der frühen Stunde hasteten sie wie aufgeschreckte Hühner durch das Haus, um die zahlreichen Familienmitglieder und Gäste anzukleiden und dabei den hektischen und oft widersprüchlichen Befehlen der Hausherrin zu folgen, deren aufgeregte Stimme unablässig wie ein defekter Feuermelder durch das ganze Haus schrillte. Alles und jeder bereitete sich auf die bevorstehende Hochzeit vor. Sogar die Haustiere - Esel, Schafe, Katzen und Hühner - waren gestriegelt und geschmückt worden. Vermutlich saß auch Yasmina bereits in ihrem Zimmer, bekleidet mit einem wunderschönen und kostbaren Brautschleier, und wartete darauf, dass jemand sie in das Trauungszimmer bringen würde. Trauung, Hochzeit, Ehe. Normale, unbedeutende Worte, die man fast täglich in den Mund nahm, ohne großartig darüber nachzudenken. Trotzdem bekamen sie plötzlich einen unangenehmen, fast schmerzhaften Widerhall in ihrem Kopf. Und sie fragte sich, ob sie selbst wohl jemals ihre eigene Hochzeit erleben würde, ein Fest zu ihren und den Ehren eines Mannes, an dessen Seite sie den Rest ihres Lebens zu verbringen gedachte. Doch schon im nächsten Augenblick ärgerte sie sich über sich selbst. War sie nicht eine emanzipierte, selbstständige Frau? Konnte sie sich nicht glücklich schätzen? Sie hatte einen Beruf, den sie liebte und den sie selbst gewählt hatte, und ein eigenes, von ihr selbst bezahltes Haus, in dem sie sich wohl fühlte. Sie hatte Freunde - natürlich auch männliche. Und sie hatte sogar eine Tochter. Sie war der lebende Beweis, dass jenes Klischee, Frauen sehnten sich im Grunde ihres Herzens nach nichts anderem als einer intakten Familie, antiquiert, verstaubt und grenzenlos überholt war. Und trotzdem, gerade in diesem Moment fühlte sie sich wie eine alte, von Männern verschmähte Jungfer - einsam, hässlich und vertrocknet. Es war einfach lächerlich.

Um sich von diesen sentimentalen Gedanken abzulenken, die letztlich zu nichts führten und höchstens in einer Depression endeten, konzentrierte sie sich ganz auf die junge Braut.

Seit Yasmina kurz nach Sonnenaufgang ihr Zimmer verlassen hatte, zerbrach sich Beatrice den Kopf darüber, wie sie ihr am besten helfen könnte. Auf welche Weise sie dafür sorgen konnte, dass Yasmina auch in Zukunft ihren schriftstellerischen Neigungen nachzugehen vermochte und dass ihre Werke - obwohl sie eine Frau war - veröffentlicht werden würden. Und dann fiel ihr plötzlich ein, dass sie über Yasminas Problem ihre eigenen Schwierigkeiten fast vergessen hatte. Vergessen? Natürlich nicht. Den Anblick ihrer kleinen Tochter auf der Intensivstation, angeschlossen an die piepsenden Geräte, den konnte sie nicht einfach vergessen. Das war absurd. Trotzdem hatte sie die ganze Nacht nicht mehr an Michelle gedacht, hatte die Gedanken an den Grund ihrer Anwesenheit in Qum sehr erfolgreich verdrängt.

Statt Mäzen einer jungen arabischen Dichterin zu spielen, solltest du dich wohl besser um das Naheliegende kümmern, dachte sie grimmig und machte sich selbst schwere Vorwürfe. Immerhin ist deine Tochter verschwunden.

Das schlechte Gewissen ließ ein Gefühl in ihrem Magen zurück, als hätte sie gerade einen Klumpen Blei hinuntergeschluckt. War sie etwa eine schlechte Mutter? War sie zu egoistisch gewesen, weil sie weiterhin ihrem Beruf nachgehen wollte? Hatte der Stein ihr das Kind deshalb entführt? Natürlich waren diese Gedanken nichts als blanker Unsinn. Sie war keine schlechte Mutter, nur weil sie ihr eigenes Leben nicht vollständig für das Kind aufgab, weil sie für sich auch noch Wünsche hatte und an ihr Leben Ansprüche stellte. Sie liebte ihre Tochter. Sie sang und tanzte und lachte und spielte mit ihr. Sie hatten Spaß und kuschelten und tobten, bastelten und kochten. Jede freie Minute verbrachten sie gemeinsam. Normalerweise.

Beatrice wurde es schwer ums Herz. Michelle war irgendwo da draußen. Da war sie sich sicher. Aber wie sollte sie die Kleine finden? Und wo sollte sie mit der Suche beginnen? Sie wusste ja noch nicht einmal, ob sie sich im selben Teil der Welt aufhielt wie Michelle, geschweige denn, dass sie davon ausgehen konnte, dass dies auch die richtige Zeit war. Nüchtern betrachtet war das ganze Unternehmen hoffnungslos.

Die Tür hinter ihr öffnete sich.

»Es ist so weit, Herrin«, sagte eine Dienerin schüchtern. »Die Hochzeit wird gleich beginnen, und die Braut wünscht Euch an ihrer Seite.«

Beatrice nickte. »Gut, ich komme«, erwiderte sie und warf noch einmal einen Blick aus dem Fenster. Der See hatte sich nicht verändert. Er lag immer noch so ruhig da wie ein blanker Spiegel. Und doch kam es ihr so vor, als würden die Sterne auf seiner Oberfläche ein Auge formen, ein großes, strahlendes Auge, das voller Güte und Freundlichkeit auf sie gerichtet war. Unwillkürlich straffte sie die Schultern und hob ihr Kinn. Sie weigerte sich, den Kopf hängen zu lassen, jetzt schon, noch bevor sie wirklich mit der Suche nach Michelle begonnen hatte. Das Auge auf dem See war eindeutig ein Zeichen. Und so irreal es auch sein mochte. Zeichen, Omen, Glaube, Hoffnung und Vertrauen waren das Einzige, auf das sie sich in ihrer verzweifelten Lage stützen konnte.

»Michelle«, flüsterte sie und sah vor ihren Augen das kleine hübsche Gesicht ihrer Tochter, umrahmt von seidigen blonden Haaren. »Hab keine Angst. Wo auch immer du bist, ich werde dich finden. Das verspreche ich dir.«

In einer einzigen geschmeidigen Bewegung erhob sich Hassan aus der knienden Haltung und rollte den Gebetsteppich zusammen. Die morgendliche Gebetszeit, der Lobpreis Allahs, war vorüber. Ein neuer Tag wartete auf ihn, ein Tag voller Pflichten und Probleme, die es zu lösen galt. Noch schien niemand Nuraddin, seinen jüngeren Bruder, zu vermissen. Sie waren klug genug gewesen, die Mitbrüder, mit denen Nuraddin fortgezogen war, um der Spur des Nomaden und des kleinen Mädchens zu folgen, als Händler zu tarnen, die angeblich mit dem Ziel Damaskus aus Gazna aufgebrochen waren. Die Reise dorthin konnte unter Umständen Monate dauern. Doch selbst diese Zeit ging nun langsam vorbei, und der Tag rückte unaufhaltsam näher, an dem irgendjemand - einer seiner Brüder, sein Vater, einer der Diener - beginnen würde sich zu fragen, wo Nuraddin so lange blieb und weshalb man keine Nachricht von ihm erhielt. Noch konnte Hassan aufatmen. Noch war es nicht so weit. Sein ältester Bruder bereitete sich gerade auf seine Hochzeit vor, und über die Feierlichkeiten waren alle so aufgeregt, dass alles andere dahinter zurücktrat. Sogar sein Vater, gewöhnlich ein in sich und dem Vertrauen auf Allah ruhender gewissenhafter Mann schien von dem allgemeinen Fieber gepackt worden zu sein. Er vernachlässigte zum Teil sogar seine Pflichten gegenüber seiner Familie und seinem Volk in einer Art und Weise, wie Hassan es nie für möglich gehalten hätte. Nein, zurzeit würde niemand Fragen nach Nuraddin stellen. Doch irgendwann würde der Glanz der Hochzeit verblassen, die junge Braut würde sich eingewöhnt haben, und das Leben in Gazna würde seinen gewohnten Gang gehen. Und dann, da war er sich ganz sicher, würden die Fragen kommen.

Hassan stellte den Gebetsteppich in eine Ecke des Raums. Osman war sein Freund, sein engster Vertrauter. Mit ihm verband ihn mehr als mit seinem Vater oder seinen leiblichen Brüdern. Sie hatten die gleichen Gedanken, die gleichen Träume und Ziele, in ihnen loderte dasselbe heilige Feuer. Er würde Osman noch heute eine Nachricht schicken. Er musste ihn treffen, so bald wie möglich. Er würde sich mit ihm beraten. Und gemeinsam würde ihnen eine Lösung für dieses Problem einfallen - Allah würde sie ihnen zeigen, so wie Er es in Seiner unermesslichen Güte bisher immer getan hatte.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ Hassan aufhorchen. Lautlos und flink wie ein Schatten trat sein Diener ein.

»Verzeiht, dass ich Euch störe, Herr«, sagte er und verneigte sich, »doch ein Bote hat dies für Euch abgegeben mit der Bitte, es Euch auf der Stelle auszuhändigen. Er sagte, es handle sich um eine wichtige Nachricht, die keinen Aufschub dulde.«

Er reichte Hassan ein zusammengefaltetes Pergament.

»Wie sah der Bote aus?«, fragte Hassan, nachdem er einen kurzen Blick auf das Siegel geworfen hatte.

»Er war gekleidet wie ein Händler, Herr«, antwortete der Diener und verneigte sich erneut. Ein seltsames Leuchten trat dabei in seine Augen. »Er ist sofort wieder gegangen. Ich bitte vielmals um Vergebung für meine Ungeschicklichkeit, Herr, doch ich konnte wahrlich nicht ahnen, dass Ihr diesen Mann zu sprechen wünschtet. Hätte ich das gewusst, so hätte ich ihn auf der Stelle zu Euch geführt oder ihn doch wenigstens festgehalten.«

»Du hast richtig gehandelt«, erwiderte Hassan kühl. Schon oft hatte er den Verdacht gehabt, dass sein Diener mehr wusste oder wenigstens ahnte, als für ihn gut war. Allmählich wurde er gefährlich - ein weiteres Problem, das es zu lösen galt. Allerdings war dies hier sehr viel unbedeutender. »Du kannst dich wieder entfernen.«

Der Diener hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als er auch schon das Siegel aufbrach. Es war derselbe, schlichte und dennoch so ergreifend schöne Schriftzug, mit dem er ebenfalls seine Briefe zu versiegeln pflegte. Mit zitternden Händen entfaltete er das Pergament.

»Ich muss dringend mit dir sprechen. Komme daher in wenigen Tagen nach Gazna. Bereite alles vor.

Allah ist groß.

Osman.«

Ein paar Tage würde er die Familie ohne Schwierigkeiten noch hinhalten können, falls sie Fragen nach Nuraddin stellen sollten. Und dann würde er sich mit Osman beraten können. Endlich. So wie er es herbeigesehnt hatte.

»Allah ist groß«, flüsterte Hassan ehrfürchtig, während er das Pergament an die Flamme einer Öllampe hielt und zusah, wie es Feuer fing und allmählich in einer Messingschale zu Asche verbrannte. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Alle Diener waren neugierig. »Groß, weise und gütig.«

In der Tat war es ein Wunder. Allah hatte seine Gebete erhört, noch bevor er sie überhaupt ausgesprochen hatte.

Die Hochzeit war genau so gewesen, wie sich Beatrice immer die Hochzeiten in orientalischen Märchen vorgestellt hatte. Haus und Garten waren festlich geschmückt, in den Brunnen und Wasserbecken schwammen hunderte von Talglichtern zwischen Rosenblättern. Überall duftete es nach Rosen, Jasmin und Weihrauch, der in Räucherschalen verbrannt wurde. Die geladenen Männer, Frauen und Kinder trugen ihre besten Kleider - prächtige, mit Gold und Silber bestickte Gewänder aus schwerer Seide und schimmerndem Samt. Flötenspieler und junge hübsche Tänzerinnen unterhielten die Gäste mit fröhlichen Weisen, Akrobaten jonglierten mit gläsernen Kugeln, liefen über Messerrücken und spien Feuer. Das Essen, eine schier unüberschaubare Fülle der unterschiedlichsten kalten und warmen, süßen, salzigen und scharfen Speisen, war ein Märchen für sich. Ein Gericht war köstlicher als das andere, sodass Beatrice sich darüber ärgerte, dass die Aufnahmefähigkeit ihres Magens begrenzt war. Denn selbst bei aller Bescheidenheit in der Größe der Portionen gelang es ihr nicht, aus jeder Schüssel und von jedem Teller zu kosten, und schon bald hatte sie das Gefühl zu platzen. Alle amüsierten sich. Die Gäste lachten und unterhielten sich angeregt miteinander, die Kinder staunten über die Akrobaten und mischten sich unter die Tänzerinnen. Und Beatrice war nicht wenig verwundert, dass Männer und Frauen unbefangen gemeinsam feierten. Offensichtlich waren die Sitten hier mitten in der Wüste nicht ganz so streng wie in Buchara. Der einzige Mensch, der von alldem unberührt zu bleiben schien, war die Braut selbst. Schön wie eine Prinzessin aus einem Märchen saß Yasmina neben ihrem frisch angetrauten Gemahl inmitten von Rosenknospen auf einem Polster unter einem reich bestickten Baldachin und sah ernst, fast sogar traurig dem munteren Treiben zu. Doch niemand außer Beatrice schien es zu bemerken. Jeder feierte, aß und trank und wünschte dem frisch vermählten Paar das Allerbeste. Maleks Brüder sangen Spottlieder auf ihn, und das fröhliche, farbenfrohe Spektakel dauerte bis weit in die Nacht hinein.

Beatrice hatte den Eindruck, sich gerade erst ins Bett gelegt zu haben, als es auch schon wieder an ihrer Tür klopfte. Jemand trat ein, ohne dass sie die Erlaubnis dafür erteilt hätte. Unwillig drehte sie sich im Bett um und zog verärgert ihre Decke hoch bis zum Kinn. Sie wollte noch nicht aufstehen, sie wollte noch kein Frühstück haben. Es war noch mitten in der Nacht, und außerdem ...

Jemand rüttelte heftig an ihrem Arm.

»Beatrice! Beatrice! Wach auf, ich muss dir etwas sagen!«

Das war doch Yasminas Stimme? Nur widerwillig öffnete Beatrice die Augen. Gleißendes Licht fiel durch das Fenster und blendete sie.

»Yasmina!«, stöhnte sie und zog sich das Kissen über den Kopf. Obwohl sie keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte - schließlich handelte es sich um eine muslimische Hochzeit -, fühlte sie sich, als hätte sie einen Kater. »Bitte nicht. Es ist doch noch so früh. Ich möchte noch schlafen.«

»Aber Beatrice«, rief Yasmina und schüttelte sie erneut, »es ist wichtig! Ich muss mit dir sprechen. Ich habe etwas herausgefunden. Über deine Tochter. Stell dir vor, sie war hier!«

Von einer Sekunde zur nächsten war Beatrice hellwach. Sie setzte sich auf und packte Yasminas Arm, als könnte sie sich jeden Moment in Luft auflösen, wenn sie nicht festgehalten wurde.

»Was hast du eben gesagt?«, fragte sie nach, vorsichtshalber, ehe sie sich zu große Hoffnungen machte. Vielleicht hatte sie sich ja doch verhört.

»Deine Tochter war hier. Hier bei uns in der Oase. Sie war ...«

»Dann muss ich zu ihr, sofort«, sagte Beatrice. »Wo ist sie?« Sie warf die Decke zur Seite und wollte aufstehen, doch Yasmina hielt sie zurück.

»Warte, Beatrice, nicht so schnell. Ich sagte doch, sie war hier. Allerdings hat sie Qum bereits vor einiger Zeit wieder verlassen.«

Beatrice sank in die Kissen zurück.

»Wie hast du das herausgefunden?«

Yasmina zuckte mit den Schultern. »Ich habe einfach herumgefragt. Du hast so viel für mich getan, dass ich dir auch einen Gefallen tun wollte. Die alte Fatma hat es mir schließlich erzählt. Es ist etwa zwei Monate her. Ein Reiter kam auf seinem Weg durch die Wüste in die Oase. Er war gekleidet wie ein Nomade und hatte ein kleines Kind bei sich, ein Mädchen, etwa vier Jahre alt mit goldenem Haar und leuchtend blauen Augen. Die Alte erinnert sich deshalb noch so genau daran, weil sie es für ein gutes Omen hielt. Sie hat die beiden in ihrem Haus aufgenommen. Sie blieben allerdings nur eine Nacht. Bereits am folgenden Morgen sind sie weitergezogen.«

Beatrices Mund wurde trocken vor lauter Aufregung. Ein Nomade? Wer konnte das gewesen sein? Ob Ali sich verkleidet hatte, um nicht als Arzt aufzufallen?

»Und? Hat der Mann gesagt, wo er hinwollte? Oder hat er seinen Namen genannt?«

Yasmina schüttelte den Kopf. »Nein. Fatma sagte, er sei sehr schweigsam gewesen. Sie hatte den Eindruck, dass er und das Mädchen verfolgt würden und sie in großer Gefahr schwebten.« Beatrice wurde bleich, und Yasmina fuhr schnell fort: »Aber ich an deiner Stelle würde nicht so viel auf das Geschwätz der Alten geben. Vermutlich will sie sich damit nur wichtig tun. Fatma schmückt die Wahrheit gern aus, um sie spannender zu machen. Sie konnte mir nur sagen, in welcher Richtung die beiden Qum am nächsten Morgen wieder verlassen hatten. Sie ritten nach Nordwesten.«

Beatrice nickte entschlossen. »Gut, dann werde ich auch nach Nordwesten reiten. Und zwar noch heute. Ich brauche ein Pferd und ...«

Doch Yasmina schüttelte bedächtig den Kopf.

»Tu das nicht, Beatrice. Du würdest nur Kraft und Zeit vergeuden und dich in unnötige Gefahr begeben. Überall lauern Räuberbanden und Sklavenhändler. Natürlich könnte der Mann wirklich nach Nordwesten geritten sein. Dort liegt die Stadt Qazwin. Doch sollte Fatma Recht haben, sollte er mit deiner Tochter tatsächlich auf der Flucht gewesen sein, so war sein Weg nach Nordwesten vielleicht einfach nur ein Täuschungsmanöver, um seine Verfolger zu verwirren. Es gibt in diesem Land viele Städte. Er könnte unbemerkt in der Wüste seine Richtung geändert haben und ebenso gut nach Isfahan, Gazna, Hamdan, vielleicht sogar bis nach Bagdad geritten sein.« Yasmina sah Beatrice an, als ob sie sich bei ihr dafür entschuldigen wollte. »Verstehst du, was ich damit zu sagen versuche? Dieser Mann kann mittlerweile überall sein.«

Beatrice fuhr sich verzweifelt durchs Haar.

»Aber was soll ich dann deiner Meinung nach tun, Yasmina? Wie soll ich Michelle finden, wenn ich nicht irgendwo mit der Suche beginne?«

»Das weiß ich, Beatrice. Deshalb wollte ich dir auch vorschlagen, dass du uns morgen nach Gazna begleitest«, sagte sie. »Gazna ist die größte Stadt im Umkreis von zehn Tagesritten. Selbst wenn dieser Mann nicht dort sein sollte und auch nicht durchgereist ist, so ist es ein Leichtes, von Gazna aus weitere Nachforschungen anzustellen. Viele Karawanen und Händler aus allen Ländern kommen nach Gazna. Sie hören und sehen viel auf ihren Reisen. Vielleicht ist einem von ihnen deine Tochter begegnet. Außerdem ist Maleks Familie sehr wohlhabend. Wir könnten einen Boten ausschicken, der an deiner Stelle die Gegend durchstreift.«

Beatrice dachte nach und wog die Argumente gegeneinander ab. Was Yasmina gesagt hatte, klang einleuchtend. Außerdem scheute sie sich vor der Aussicht, erneut allein in der Wüste herumzuirren. Dieses Mal hatte sie noch Glück gehabt und war mit dem Leben davongekommen. Es war fraglich, ob ihr das Schicksal das nächste Mal ebenso wohlgesonnen sein würde.

»Gut, ich komme also mit«, sagte sie. Dann sah sie Yasmina an. Und mit einem Schlag wurde ihr die Bedeutung dessen bewusst, was ihre Freundin ihr gerade erzählt hatte. Sie war nicht nur in derselben Zeit wie Michelle gelandet, sie hatte durch Zufall sogar dieselbe Oase erreicht, in der ihre Tochter eine Nacht verbracht hatte. Oder war es vielleicht gar kein Zufall? Stand hinter allem eine bestimmte Absicht, die der Stein verfolgte und die sie nur noch nicht kannte? Heiße Tränen traten in ihre Augen. »Mein Gott, Yasmina, es ist also wirklich wahr. Ich habe mich nicht getäuscht! Michelle ist hier. Es ist kaum zu glauben, dass ich tatsächlich eine Spur von ihr gefunden habe. Dabei seid ihr und Malek und seine Brüder die ersten Menschen, denen ich nach meiner Ankunft begegnet bin.«

Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie war, wie ausgelaugt. Offensichtlich hatte sie bislang mehr an ihrer Intuition gezweifelt - und natürlich auch am Stein der Fatima -, als sie sich selbst hatte eingestehen wollen.

Yasmina legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.

»Ja, du hast eine Spur von ihr gefunden«, sagte sie leise und lächelte aufmunternd. »Und ich bin mir sicher, dass es nun nicht mehr lange dauern wird, bis du deine Tochter endlich wieder in die Arme schließen kannst.«