20.
Den Heimweg legten Ali und Beatrice schweigend zurück.
Zu viel ging jedem von ihnen durch den Kopf, musste erst einmal überdacht und verarbeitet werden. Und zu groß war die Angst, dass sie belauscht werden könnten und sich hinter einem der zahlreichen Händler, Bettler, Bauern und Hirten, die ihnen in den schmalen Gassen begegneten, in Wahrheit ein Fidawi verbarg. Zu Hause, hinter geschlossenen Türen und Fensterläden, würden sie reden, lange, ausführlich. Da war Beatrice ganz sicher. Vielleicht würden sie es sogar wagen, heute noch einmal den Kasten zu öffnen und die beiden fehlenden Steine hineinzulegen. Vielleicht.
Ihre Befürchtungen waren überflüssig. Sie erreichten Alis Haus ohne Schwierigkeiten. Niemand hatte sie aufgehalten, niemand hatte sie angesprochen oder versucht in den Korb zu greifen, in dem Beatrice unter einem Stapel Tüchern die Schatulle mit den kostbaren Saphiren versteckt hatte. Niemand war ihnen gefolgt, so weit sie das beurteilen konnte, denn nach allem, was sie bislang über die Fidawi gehört hatte, waren diese Burschen ebenso geschickt wie japanische Ninja- Krieger - lautlos, unsichtbar und absolut tödlich.
Sie hatten kaum das Haus betreten, als auch schon einer der Tordiener herbeigeeilt kam und Ali mit der Nachricht überraschte, dass ein Mann mit seinem kranken Sohn vor dem Tor seiner Praxis auf ihn wartete.
Ali runzelte gequält die Stirn. »Hast du ihnen nicht gesagt, dass ich heute keine Patienten empfange?«
»Natürlich, Herr«, erwiderte der Diener, und es war ihm sichtlich unangenehm, diese Nachricht zu überbringen. »Ich habe es ihnen gesagt. Doch sie ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie haben eine lange Reise auf sich genommen, nur um Euren Rat zu hören - so sagten sie wenigstens. Und jetzt sitzen sie seit den Morgenstunden vor Eurem Tor und warten auf Eure Rückkehr.« Der Diener senkte ein wenig den Kopf und wagte kaum Ali in die Augen zu sehen. »Mittlerweile hat sich eine neugierige Menschenmenge um die beiden herum versammelt. Ich wollte bereits nach den Soldaten schicken lassen, um die Leute zu vertreiben, doch Mahmud hat es nicht zugelassen, Herr. Er befürchtete einen Tumult, der Eurem Ansehen und Eurem Ruf empfindlichen Schaden zufügen könnte.«
»Als ob das nicht schon längst geschehen wäre«, stöhnte Ali und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, sodass es wild nach allen Seiten abstand. »Und warum, so frage ich dich und all die anderen Trottel, die ich eigens zu dem Zweck durchfüttere, damit sie meine Tore bewachen, habt ihr das zugelassen? Weshalb habt ihr die beiden nicht einfach ins Haus gebeten? Sie hätten hier warten können. Wenigstens wäre dann mein Name nicht in Verruf gekommen.«
»Herr, aber Ihr selbst habt doch ...«, stammelte der Diener, der ängstlich ein paar Schritte zurückwich. »Ihr habt doch selbst erst vor wenigen Wochen befohlen, dass wir niemanden in Eurer Abwesenheit Zutritt zu Eurem Haus gewähren dürfen. Ihr habt es uns sogar bei schweren Strafen verboten, und Ihr habt auch ...«
»Ja, ja, schon gut.« Ali winkte ab, schüttelte den Kopf und fuhr sich noch einmal durch das Haar. »Dann lass sie eben jetzt herein. Wollen wir hoffen, dass sich noch etwas retten lässt.« Er warf Beatrice einen Blick zu. »Eigentlich gibt es jetzt wohl Wichtigeres zu tun, aber ...« Er zuckte hilflos mit den Schultern.
»Das ist eben unser Job, unser Beruf«, fügte Beatrice hinzu, als ihr einfiel, dass Ali mit dem Begriff Job wohl kaum etwas anfangen konnte. »Der Eid des Hippokrates. Du weißt schon.«
»Ja«, sagte Ali und seufzte, als würde er in diesem Augenblick wie Atlas das Gewicht der Welt auf seinen Schultern tragen. »Ich weiß. Begleitest du mich?«
Ohne zu zögern stimmte Beatrice zu. Das war beinahe wie früher, als sie gemeinsam in Buchara Patienten behandelt hatten. Jeden Tag hatten sie stundenlang über medizinische Fragen diskutiert. Und immer wieder hatten sie sich wegen Meinungsverschiedenheiten bezüglich einer Diagnose oder einer Therapie gestritten. Doch vor allem hatten sie voneinander gelernt. Ali hatte vieles über Anatomie, Physiologie und Pathologie erfahren, was man in seiner Zeit noch nicht wusste, und Beatrice hatte die Wirkung von Kräutern kennen und schätzen gelernt. Eine Form der Medizin, die sie bis zu diesem Zeitpunkt als antiquierten mittelalterlichen Hokuspokus und das Geschwätz esoterischer Spinner abgetan hatte.
Als sie gemeinsam Alis »Praxisräume« betraten - so konnte man wohl am ehesten den Bereich des Hauses bezeichnen, in dem er Patienten zu empfangen pflegte und seinen Studien nachging -, waren der Mann und sein Sohn schon dort. Der Junge, ein knochiger Bursche mit rabenschwarzen Locken, hockte in einer Ecke des Zimmers und sah ihnen so finster entgegen, dass Beatrice sich fragte, was sie ihm wohl getan hatten. Sein Vater hingegen, ein magerer, hoch gewachsener Mann, ärmlich, aber sauber gekleidet, stand vor Alis Bücherregal und hielt einen der kostbaren Bände in den Händen, als würde er darin lesen.
»Seid gegrüßt«, sagte Ali, und eine steile Zornesfalte erschien zwischen seinen Augenbrauen. Beatrice kannte diesen Blick. Seine Bücher waren ihm heilig. Und nichts hasste er mehr, als wenn sich jemand ohne sein Wissen und Einverständnis daran zu schaffen machte. »Hast du gefunden, wonach du suchst?«
»Oh, verzeiht«, sagte der Mann und stellte das Buch wieder ins Regal zurück, ruhig und sicher, so als würde er sich keineswegs bei einem Unrecht ertappt fühlen. Dann verneigte er sich. »Der Friede Allahs sei mit Euch.«
Ali nickte nur knapp.
»Es muss Euch ungehörig erscheinen, dass ich mir, ohne erst Eure Erlaubnis abzuwarten, eines der Bücher genommen habe, um darin zu lesen.«
»Tatsächlich?«
»Ja«, erwiderte der Mann gelassen. Vielleicht war ihm der beißende Spott in Alis Stimme entgangen. Allerdings hatte Beatrice eher den Eindruck, dass es ihn überhaupt nicht kümmerte. Das war merkwürdig. Normalerweise war sie von den Angehörigen der niederen Schichten mehr Unterwürfigkeit gewohnt. »Ihr habt sehr interessante Bücher in Eurer Sammlung, Herr. Offensichtlich seid Ihr ein Mann auf der Suche nach der Wahrheit. Doch wenn ich Euch einen Rat geben darf, werft diese Bücher alle fort. Sie werden Euch nichts nützen. Ein Mann bedarf nur eines einzigen Buches, um die Wahrheit zu finden.«
»Ich vermute, du sprichst vom Koran?« Ein seltsames Lächeln lag auf Alis Lippen, und Beatrice versteifte sich. Am liebsten hätte sie ihm zugerufen, den Mund zu halten, nichts mehr zu sagen, einfach nur noch zu schweigen. Ali konnte sich jetzt innerhalb weniger Sekunden in Gefahr bringen und um Kopf und Kragen reden. Doch sie wusste, dass es sinnlos gewesen wäre. Sie beide waren sich in vieler Hinsicht sehr ähnlich. »Nun, ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine Sichtweise nichts anderes ist als eine Sichtweise und damit eben nur ein Teil der Wahrheit. Nicht mehr und nicht weniger. Doch du hast mit deinem Sohn den weiten Weg sicher nicht auf dich genommen, um mit mir über die Weisheit des Korans zu plaudern. Was führt euch zu mir?«
»Mein Sohn, Herr«, antwortete der Mann und deutete auf den Jungen, der immer noch wie ein bockiges kleines Kind in der Ecke saß, »er ist krank. Wir wissen nicht, was ihm fehlt. Doch seit einiger Zeit spricht er nicht mehr.«
Scheinbar ohne Übergang redete der Mann von dem Kind. Und doch gefiel Beatrice der Blick nicht, mit dem er Ali jetzt ansah. Keiner von ihnen kannte diesen Mann. Niemand wusste, woher er kam. Vielleicht war er wirklich nur das, was er zu sein vorgab - ein armer Hirte, der Hilfe für seinen kranken Sohn brauchte. Doch weshalb dann das Interesse für Alis Bücher? Natürlich konnte er ein Imam aus einem der armen, verstreut in den Bergen liegenden Dörfer sein. Das könnte sein merkwürdiges Verhalten durchaus erklären, denn die Geistlichen im Islam waren - ganz gleich, ob mittellos oder wohlhabend - grenzenlosen Respekt gewohnt. Allerdings hatte sie einen ganz anderen Verdacht. Schließlich war es die einfachste Sache der Welt, eine Krankheit wie die beschriebene vorzutäuschen. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Was hatte Saddin im Traum zu ihr gesagt? Die Fidawi würden sogar Frauen und Kinder für ihre Zwecke benutzen.
Ali ging zu dem Jungen, um ihn zu untersuchen, während Beatrice den Vater nicht aus den Augen ließ und jede seiner Bewegungen genau beobachtete. Doch sie konnte nichts Auffälliges bemerken, keinen Dolch, der unter der Kleidung hervorschaute, keine verräterische Ausbuchtung eines Schwertgriffs.
Nach einer Weile erhob sich Ali, schüttelte den Kopf und bat den Jungen, im Hof zu warten. Erst als der Knabe fort war, wandte er sich an den Vater.
»Ich kann zurzeit keine Ursache für seine Erkrankung feststellen«, sagte er und ging zu dem Schrank hinüber, in dem er seine Arzneien aufbewahrte. »Doch ich weiß aus Erfahrung, dass Kinder oft auf schreckliche Erlebnisse mit Stummheit reagieren. Hier habe ich ein Fläschchen mit Orangenblüte- nöl. Gib jeden Abend ein paar Tropfen davon in eine Schüssel Wasser. Der Junge soll sich damit waschen. In den meisten Fällen ist der Schock nach einigen Wochen behoben, und der Junge spricht wieder genau wie früher.«
»Herr, ich danke Euch«, sagte der Mann und verneigte sich vor Ali. Doch seine Unterwürfigkeit und Dankbarkeit kamen Beatrice falsch und gestellt vor. »Was schulde ich Euch?«
»Nichts«, antwortete Ali. »Rechne es als Entschädigung für die ungebührlich lange und unbequeme Wartezeit.«
Sie gingen hinaus in den Hof, wo der Junge neben dem alten Ziegenbock kniete, der dort an einer Säule festgekettet war, und ihm das Fell kraulte.
»Du hast ihn immer noch?«, fragte Beatrice überrascht, und ohne auf den seltsamen Blick des Mannes zu achten, ging sie ebenfalls zu dem Tier. »Wie alt ist er denn mittlerweile?«
»Fast achtzehn«, antwortete Ali und folgte ihr gemeinsam mit dem Mann. »Ein Hirte brachte ihn mir vor mehr als siebzehn Jahren aus Dankbarkeit dafür, dass ich seinen Sohn geheilt habe - von derselben Krankheit übrigens, unter der dein Sohn leidet. Ich konnte mich damals nicht dazu entschließen, ihn schlachten zu lassen. Ich verabscheue Ziegenfleisch. Und jetzt ist er alt, zäh, widerspenstig und zuweilen sogar richtig bösartig. Meine Köchin hat er noch vor gar nicht langer Zeit so geärgert, dass sie sich drei Tage lang nicht traute, den Hof zu überqueren. Doch dein Sohn scheint sehr gut mit ihm umgehen zu können.«
»Ja«, antwortete der Mann. »Es steckt ihm im Blut. In unserem Dorf sind wir alle Ziegenhirten.«
Er packte den Bock, der anscheinend noch nicht genau wusste, ob ihm die plötzliche Aufmerksamkeit gefallen sollte oder nicht, an einem Horn und schüttelte ihn. Empörtes Ge- mecker war die Folge. Wütend riss sich der Bock los, und der Mann musste hastig zur Seite springen, um sich vor den langen, spitzen Hörnern in Sicherheit zu bringen.
Ali lächelte. Dann winkte er einen Diener herbei und befahl ihm, die beiden Hirten hinauszuführen.
»Herr, ich danke Euch«, sagte der Mann noch einmal und verneigte sich wieder eine Spur zu tief, als dass Beatrice ihm Glauben schenken konnte. »Vielleicht wird Allah, der Allmächtige, unsere Wege eines Tages wieder kreuzen lassen. Und vielleicht haben wir dann Gelegenheit, über die unendliche Weisheit des Korans zu sprechen.«
»Ja, vielleicht«, erwiderte Ali ohne Begeisterung.
»Ich freue mich schon auf unsere nächste Begegnung.«
Ali und Beatrice sahen ihnen nach, bis sich das Tor hinter ihnen geschlossen hatte.
»Wer waren die beiden, Ali?«, fragte Beatrice. Sie spürte, wie sie vor Anspannung zitterte. Ihr war plötzlich kalt, als würde es gleich anfangen zu schneien. Hier in diesem Hof. »Fidawi?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Ali. »Aber eines ist sicher, Hirten waren sie nicht. Wenigstens nicht der Mann.« Geistesabwesend klopfte er dem Ziegenbock den Rücken. »Kluges Tier.«
»Dir hätte etwas mehr Klugheit auch gut zu Gesicht gestanden«, sagte Beatrice. »Du hättest viel vorsichtiger sein sollen.«
»Vielleicht hast du Recht. Aber wenn die beiden tatsächlich Fidawi waren, kennen sie mich bereits. Dann wollten sie sich nur vergewissern, dass dies hier wirklich mein Haus ist, bevor sie losschlagen. Nun wissen sie es. Ich werde Wachen aufstellen lassen.«
Beatrice holte tief Luft. Die Angst pochte in ihr, sie fühlte ihren Herzschlag bis in die Fingerspitzen. Sie dachte an alles, was sie über die Fidawi gehört und gelesen hatte - die Informationen im Internet, die Furcht des Karawanenführers, die panische Angst in Maleks Stimme, als sie diese Leute ihm gegenüber das erste Mal erwähnt hatte. Wenn diese beiden wirklich Fidawi waren, dann würden Wachen bestimmt nicht viel nützen.
Mustafa brauchte keine Ermahnungen mehr, still zu sein. Wie in Trance ging er neben Meister Osman her, der seinerseits ungewöhnlich gesprächig war. Der Gedanke, den verhassten Frevler endlich ausfindig gemacht zu haben, schien die Zunge des Meisters förmlich zu beflügeln. Mustafa dachte nach. Sein Verstand arbeitete langsam und schwerfällig, und es strengte ihn an, sich zu konzentrieren, während der Meister direkt neben ihm unablässig über die Großmut Allahs und die Todsünden der Frevler sprach.
Er hatte das Brandzeichen im zottigen Fell des Ziegenbocks sofort erkannt. Vermutlich hätte er es sogar mit geschlossenen Augen ertasten können. Alle Ziegen, die jemals in seinem Heimatdorf geboren worden waren, trugen dieses Zeichen. Und noch während er sich gefragt hatte, wie ein Bock aus seinem Heimatdorf in das Haus dieses Arztes kam, hatte al-Hussein die Geschichte von dem Hirten und seinem kranken Sohn erzählt. Die Geschichte seines Vaters! Sein eigener Vater war der arme Hirte, der dem Arzt aus Dankbarkeit das Zicklein gebracht hatte. Und der kranke Junge war niemand anderer als sein Bruder gewesen. Genau in diesem Augenblick hatten seine Zweifel begonnen.
Jetzt nagten sie an ihm, fraßen sich durch seinen Leib und brannten ein Loch in seinen Schädel. Es war klar, dass Meister Osman vorhatte, al-Hussein, den er für einen gefährlichen Ketzer hielt, zu töten. Deswegen hatten sie schließlich den Weg von Alamut nach Qazwin auf sich genommen, dafür waren sie Fidawi geworden, das war ihr vom Großmeister persönlich erteilter Auftrag. Aber war dieser Mann wirklich ein Frevler? Er hatte immerhin seinen Bruder geheilt und von seinem Vater noch nicht einmal Lohn gefordert. Gut, es war viele Jahre her, und Menschen konnten sich auch zum Schlechten hin verändern, doch Mustafas Vater schwärmte noch heute von der Güte und der Weisheit dieses Arztes. Und auch heute hatte er ihnen einen Rat gegeben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. War dieser Mann nur deshalb ein Frevler, weil er all diese Bücher las? Hatte der Dienst am Menschen, das Heilen von Kranken nicht mindestens ebenso viel Gewicht, war ebenso wertvoll wie der Dienst der Fidawi? War dieser Mann, dieser Arzt, nicht ebenso ein treuer Diener Allahs wie sie? Durften sie so einen Mann töten? Und vor allem, durfte er, dessen Familie al-Hussein zu Dank verpflichtet war, an seinem Tod mitschuldig werden? War das Töten von Menschen nicht in Wirklichkeit Mord - ein Verbrechen, das Allah zutiefst verabscheute? Stellten sie sich selbst, indem sie sich des Mordes als Mittel bedienten, nicht auf dieselbe Stufe wie die abscheulichsten, ehrlosesten Verbrecher? Das alles kreiste in Mustafas Kopf herum, zerrte an seinen Nerven und ließ seinen Magen revoltieren. Immer wieder wog er seine Gedanken und Gefühle gegen das ab, was er bei seiner Weihe geschworen hatte - Allah zu dienen bis zum Tod und dem Großmeister bedingungslos zu gehorchen. Es war, als würden zwei Mustafas zur selben Zeit in ihm wohnen und einen Ringkämpf um seine Seele austragen. Doch als sie schließlich die Moschee erreicht hatten, wo sie nach dem Willen des Meisters die Zeit bis zum Abend im Gebet verbringen wollten, war er endlich zu einem Ergebnis gekommen.
Schweigend nahmen sie ihr Mittagessen ein. Selbst Michelle, die für gewöhnlich plapperte wie ein Wasserfall, war erstaunlich still. Beatrice kam sich vor, als würde sich Alis Haus im Belagerungszustand befinden. Überall in den Fluren, vor den Türen und auf dem Turm des Hauses standen bewaffnete Diener herum. Und selbst der Junge, der ihnen die Speisen brachte, trug an seinem Gürtel einen kleinen Dolch, als wäre jeden Augenblick mit einer Invasion zu rechnen. Vermutlich hätte Beatrice diesen Anblick als tröstend empfinden sollen, doch das Gegenteil war der Fall. Der Anblick der Diener erschreckte sie und erinnerte sie daran, wie ohnmächtig und schwach sie im Grunde waren. Wenn ein Fidawi einen Weg finden wollte, zu ihnen vorzudringen oder sie umzubringen, so würde er einen finden. Zur Not würden die Kerle einfach ihr Wasser vergiften. Ob drei oder dreißig Tote, das war solchen Menschen völlig egal. Hauptsache, die »Richtigen« waren dabei.
Sie nahmen gerade den letzten Bissen zu sich, als plötzlich Lärm zu ihnen drang. Beatrice erschrak derart, dass sie den Messingbecher losließ, der laut scheppernd zu Boden fiel, und das Wasser quer über den Tisch, über die Polster und ihre Kleidung spritzte. Auch Ali schien wie erstarrt. Atemlos lauschten sie dem Klirren von Waffen, den lauten, wütenden Stimmen und schließlich den Schritten schwerer Stiefel, die sich dem Speisezimmer näherten.
Ein Teil von Beatrice wollte den Raum so schnell wie möglich verlassen, fliehen, aus dem Haus laufen und versuchen in den verwinkelten und belebten Gassen der Stadt unterzutauchen. Doch der andere Teil mahnte zur Besonnenheit. Fidawi waren lautlos, heimlich. Der Meuchelmord war ihre Spezialität. Sie kamen in der Dunkelheit auf leisen, weichen Sohlen und nicht mit harten, eisenbeschlagenen Absätzen ähnlich den Stiefeln von Soldaten. Und wenn sie sich irrte? Wenn dies doch ...
Beatrice erstarrte. Die Schritte hatten vor der Tür Halt gemacht. Ihr Herz blieb fast stehen. Wenn sie sich geirrt hatte, dann war es jetzt zu spät. Dann war es vorbei. Ende. Aus. Game over.
Ali erhob sich. Es war ein verzweifelter, geradezu lächerlicher Versuch, sich dem Unvermeidlichen zu stellen, dem unabwendbaren Schicksal entgegenzutreten. Beatrice wollte ihn zurückhalten. Vielleicht konnte Besonnenheit sie retten. Vielleicht lauschten die Fidawi nur an der Tür. Wenn sie sich ganz still verhielten, gingen sie vielleicht einfach vorbei, ohne sie zu finden. Doch noch ehe sie etwas tun konnte, wurde die Tür aufgerissen.
»Herr, verzeiht, wenn wir Euch stören.« Die Stimme des Dieners dröhnte laut in Beatrices Ohren, und doch klang sie so lieblich wie der Gesang einer Nachtigall. Vor grenzenloser Erleichterung schloss sie die Augen. Auch Ali sank wieder auf sein Sitzpolster zurück. »Diesen Burschen hier haben wir vor der Hintertür zur Küche erwischt.«
Ein anderer Diener, rot vor Zorn und Empörung, kam herein. Hinter sich her zerrte er einen mageren Jungen, den er am Ohr gepackt hielt. Das Kind jammerte und stöhnte, bat mit schmerzverzerrtem Gesicht um Gnade, doch der Diener ließ nicht locker.
»Lass ihn los«, befahl Ali. Dann wandte er sich an den Jungen, der sich das blutunterlaufene Ohr rieb. »Was hast du hier zu suchen? Was hast du in meinem Haus verloren?«
»Herr, ich ...«
»Stehlen wollte er!«, rief der Diener empört, packte den Jungen am Arm und schwang eine große Suppenkelle, als wollte er sie dem Kind auf den Kopf schlagen. »Herr, über- lasst ihn mir, und ich prügle ihn so lange, dass er es für den Rest seines Lebens bleiben lässt, in die Häuser rechtschaffener Menschen einzudringen, um sie zu bestehlen.«
»Ich bin kein Dieb!«, rief der Junge entrüstet und riss sich los. »Ich bin ...«
Ali runzelte die Stirn. »Sag mal, du bist doch der Sohn des Hirten, den ich heute früh behandelt habe?«
»Ja, Herr.«
»Nun, meine Behandlung scheint von einem überraschenden Erfolg gekrönt zu sein«, sagte Ali spöttisch. »Offensichtlich hast du deine Sprache wiedergefunden.«
»Herr, ich ...« Der Junge wurde dunkelrot im Gesicht und senkte verlegen seinen Blick. »Es tut mir Leid. Ich ...«
»Dir tut es also Leid?« Ali war zornig. Und für einen Augenblick befürchtete Beatrice, dass er die Beherrschung verlieren, dem Diener die schwere Kelle aus der Hand reißen und den Jungen damit schlagen würde. »Was tut dir denn Leid? Dass du und dein >Vater< mich angelogen habt? Dass ihr zwei meine Hilfsbereitschaft ausgenutzt habt, um mich auszuspionieren? Dass du dich hinterrücks in mein Haus geschlichen hast?« Er holte tief Luft. »Vielleicht stimmt es und du bist wirklich kein Dieb, aber du bist ein abscheulicher Betrüger. Und solches Gesindel dulde ich nicht in meinem Haus!« Er wandte sich an die Diener. »Wirft ihn hinaus.«
Die beiden Männer nickten grimmig und packten den Jungen bei den Armen.
»Nein!«, rief dieser und wehrte sich mit Händen und Füßen. »Nicht! Schickt mich nicht fort. Ich muss Euch doch ...« Der Griff der Diener wurde so fest, dass er aufschrie. »Bitte, Herr, hört mich an! Ich will Euch doch nur warnen.«
Ali gab den Dienern einen Wink, und obwohl ihnen deutlich anzusehen war, dass sie es nicht gern taten, ließen sie den Jungen los.
»So, du willst mich also warnen«, sagte Ali und baute sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor dem Jungen auf. »Wovor denn? Und kannst du mir sagen, weshalb ich dir, einem abscheulichen Betrüger, Glauben schenken soll? Vielleicht ist es nur ein gemeiner Trick?«
»Nein, Herr, bestimmt nicht, ich ...« Er warf den beiden Dienern einen ängstlichen Blick zu. »Bitte, Ihr müsst mir zuhören. Aber nur Ihr. Und sie.« Er deutete mit dem Kopf auf Beatrice.
Ali sah Beatrice kurz an, dann nickte er. Offensichtlich dachte er das Gleiche wie sie. Wenn der Junge und der Mann wirklich etwas im Schilde führten, so war dies bestimmt der beste Zeitpunkt, herauszufinden, worum es sich handelte.
»Geht«, befahl Ali den beiden Dienern. »Und nehmt Michelle mit. Bringt sie in die Küche. Die Köchin soll ihr einen Pfannkuchen mit Sirup geben. Einer von euch bleibt aber in Rufweite, falls wir doch noch Hilfe benötigen. Nun«, wandte er sich wieder an den Jungen, nachdem die beiden Diener mit Michelle den Raum verlassen hatten, »was willst du uns sagen?«
Der Junge trat von einem Fuß auf den anderen, nestelte am Kragen seines langen Hemdes und schien nicht zu wissen, wie er beginnen sollte. Doch dann sprudelten plötzlich die Worte nur so aus ihm heraus.
»Ich muss Euch warnen, Herr. Meister Osman will Euch töten. Er wird bis zum Sonnenuntergang warten, dann in Euer Haus eindringen und Euch umbringen. Er hält Euch wie die anderen auch für einen Frevler, einen Ketzer und wird sich gewiss nicht überzeugen lassen, es nicht zu tun. Der Befehl kommt außerdem vom Großmeister. Eigentlich müsste auch ich ihm gehorchen, aber ich kann nicht. Wegen dem Ziegenbock. Ihr habt doch ...«
»Nun mal ganz langsam«, sagte Ali beschwichtigend und legte dem Jungen beide Hände auf die Schultern. »Fang jetzt ganz von vorne an. Wie heißt du und woher kommst du?«
»Mein Name ist Mustafa. Ich wurde in einem Dorf in den Bergen geboren. Doch dann ging ich nach Alamut.« Und Wort für Wort erfuhren Ali und Beatrice, wie Mustafa zu einem Fidawi wurde, wie er mit Osman nach Qazwin geritten ist, um dort seinen ersten Auftrag zu erfüllen, wie sie Alis Haus ausgemacht und Osman die Krankheit erfunden hatte, damit sie ungestört das Haus ausspionieren konnten, um herauszufinden, wie sich ihr Auftrag am besten ausführen ließ.
»Wo ist dein Meister jetzt?«, fragte Beatrice, die nicht einen Augenblick an den Worten des Jungen zweifelte.
»Er hält sich in der Moschee auf und ist im Gebet versunken. Er glaubt, dass ich das ebenfalls tue, denn alle Fidawi bereiten sich auf ihren Auftrag mit langer Meditation und Gebet vor. Doch wenn die Sonne untergegangen ist, wird er seine Vorbereitungen beendet haben. Und dann wird er heimlich in Euer Haus eindringen, um Euch zu töten.«
»Aber eines verstehe ich nicht«, sagte Ali und schüttelte den Kopf. »Warum erzählst du uns das alles? Ich denke, du bist auch ein Fidawi?«
»Ja, Herr«, antwortete Mustafa und senkte beschämt den Blick. »Auch ich bin einer. Und ich muss Euch gestehen, dass auch ich die Absicht hatte, Euch zu töten. Ich hielt Euch für einen Frevler, einen Ketzer. Doch dann ...« Er schluckte, hob seinen Kopf und sah Ali an. In seinen dunklen Augen schimmerten Tränen. »Dann sah ich den Ziegenbock. Und das hat alles geändert.«
»Der Ziegenbock?«, fragte Ali und warf Beatrice einen
Blick zu, als würde er vermuten, mit dem Verstand des Jungen sei etwas nicht in Ordnung. »Was ist mit ihm?«
»Ich habe das Brandzeichen erkannt, Herr. Es ist das Brandzeichen meines Heimatdorfs. Und dann habt Ihr die Geschichte von dem Hirten erzählt, der mit seinem Sohn zu Euch gekommen sei und ...« Eine Träne rollte seine Wange hinab. »Der Hirte war mein Vater, Herr. Und es war mein Bruder, den ihr damals geheilt habt. Seit jenem Tag hören beide nicht auf, von Eurer Güte und Weisheit zu schwärmen. Mein Bruder hat mittlerweile selbst Frau und Kinder, und auch er erzählt ihnen immer wieder von Euch.« Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte es doch nicht zulassen, dass Meister Osman Euch tötet. Selbst wenn ich jetzt kein Fidawi mehr bin und meine Familie nicht den versprochenen Lohn bekommt, falls ich bei einem meiner Aufträge sterben sollte.«
Ali nickte geistesabwesend und tätschelte Mustafa den Kopf. Beatrice war übel. Sie wagte nicht einmal sich vorzustellen, unter welchen Gewissenskonflikten der Junge in den vergangenen Stunden gelitten hatte.
»Nun gut«, sagte Ali und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Was sollen wir jetzt deiner Meinung nach tun?«
»Seid vorsichtig. Stellt überall Wachen auf, besonders auf dem Turm Eures Hauses. Er ist der schwächste Punkt. Doch am besten wäre es für Euch, die Stadt auf der Stelle zu verlassen. Bis zum Sonnenuntergang habt Ihr noch Zeit. Meister Osman ist die rechte Hand des Großmeisters. Wenn er in ein Haus gelangen will, dann schafft er es auch, ganz gleich, wie gut es bewacht wird.«
Ja, das war genau das, was Beatrice befürchtet hatte.
»Ich muss jetzt gehen, Herr, sonst wird Meister Osman misstrauisch. Vielleicht gelingt es mir, ihn noch ein wenig aufzuhalten, doch versprechen kann ich Euch nichts.«
»Wir danken dir, Mustafa«, sagte Beatrice und gab dem Jungen einen Kuss auf die Wange. »Du hast uns das Leben gerettet. Und ich bin sicher, dass Allah dich eines Tages dafür belohnen wird.«
»Ich werde die Diener rufen, damit sie dich aus dem Haus geleiten.«
»Nein, Herr. Ich gehe heimlich.«
Staunend sahen Beatrice und Ali zu, wie Mustafa sich auf das Fensterbrett schwang und dann wie eine Katze die Hauswand entlangkletterte und über die Dächer verschwand.
»Wer hätte das geahnt, dass mir dieser stinkende alte Ziegenbock einmal das Leben retten würde.« Ali schüttelte fassungslos den Kopf. »Wenn ich ihn nun damals geschlachtet hätte ...«
»Wunderbar und geheimnisvoll sind die Wege Allahs«, sagte Beatrice. »Aber was sollen wir tun? Sollen wir bleiben und versuchen uns zu verteidigen, oder sollen wir die Stadt verlassen?«
»Ich weiß nicht ...«
In diesem Augenblick klopfte es erneut an der Tür.
»Herr, verzeiht, doch ein Bote brachte diesen Brief.«
Der Diener reichte Ali ein zusammengerolltes Pergament. Er entrollte es, las und runzelte die Stirn.
»Was steht in dem Brief?«, fragte Beatrice.
»Die Antwort auf deine Frage.« Ali zerknüllte das Pergament zornig zu einer Kugel. »Der Emir schreibt mir. Die Beschwerden über mein anzügliches Verhalten häufen sich. Angesichts meiner Verdienste um seine Gesundheit gewährt er mir eine Gnade. Er gibt mir drei Tage Zeit, die Stadt zu verlassen. Andernfalls sieht er sich gezwungen, mich zu verhaften und in den Kerker zu werfen. Drei Tage.« Ali schnaubte wütend. »Wir werden nicht so lange brauchen, um unsere Habseligkeiten zu packen und den Staub dieser Stadt von unseren Füßen zu schütteln. Geh zu Michelle und packt alles ein, was ihr mitnehmen wollt. Wir verlassen Qazwin noch heute.«
Beatrice rannte beinahe zum Zimmer ihrer Tochter. Bis zum Sonnenuntergang. Es waren zwar noch ein paar Stunden, doch ein paar Stunden sind nicht viel, wenn man im Begriff ist, ein ganzes Leben hinter sich zu lassen. Sie riss die Tür auf. Ihr kleines Mädchen saß auf dem Boden und spielte mit ein paar Kugeln. Sie zuckte erschrocken zusammen und sah ihre Mutter aus großen, angstvollen Augen an.
»Michelle, zieh dich an und räum deine Spielsachen zusammen«, sagte Beatrice, während sie eine der Truhen öffnete, ein paar Kleider herausnahm und in einen Beutel stopfte.
»Fahren wir weg?«, fragte Michelle, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Sie wirkte wie paralysiert.
»Ja«, antwortete Beatrice und sah sich hastig im Zimmer um, ob sie etwas Wichtiges vergessen hatte. »Wo hast du den blauen Glücksstein?«
»Hier«, sagte Michelle, griff in eine Tasche ihres Kleides und reichte Beatrice den Stein der Fatima. »Fahren wir nach Hause?«
Beatrice betrachtete völlig in Gedanken versunken den Saphir. Dieser Stein hatte Michelle hierher gebracht. Er war der letzte, der noch fehlte, um das Auge zu vervollständigen. Er war traumhaft schön, ebenso wie die anderen. Und doch war er ein Individuum, hatte einen eigenen Charakter und eigene Kräfte - wenn sie Moshe Ben Maimon glauben wollte. Aber sie hatte keinen Grund, es nicht zu tun. Sie drehte den Stein zwischen ihren Fingern. Wie hatte der Rabbi ihn genannt? War das die Erkenntnis, oder war es die Einsicht? Sie hatte es schon wieder vergessen. Ach, wenn sie doch nur die Gelegenheit gehabt hätte, länger mit Moshe zu sprechen.
»Mama!« Erst jetzt merkte sie, dass Michelle ungeduldig an ihrem Ärmel zog. »Fahren wir wieder nach Hause?«
»Nein, Kleines, wir machen einen Ausflug«, sagte Beatrice und streichelte ihr liebevoll über den Kopf. »Beeil dich, Michelle, wir haben nicht viel Zeit.«
Sie half ihrer Tochter beim Anziehen des Reisemantels, räumte hastig noch ein paar Spielsachen in einen zweiten Beutel, und dann liefen sie gemeinsam den Flur zum Schlafgemach entlang, wo Ali ebenfalls damit beschäftigt war, Kleidungsstücke zusammenzupacken.
»Bitte warte draußen auf uns, Schatz«, sagte Beatrice und gab Michelle einen hastigen Kuss auf die Stirn. Die Kleine hatte sie auf eine Idee gebracht. Natürlich war es eine tollkühne, völlig verrückte Idee, aber vielleicht war es ihre einzige Chance, das Auge der Fatima wirklich in Sicherheit zu bringen. »Ali und ich müssen noch etwas miteinander besprechen. Wir kommen gleich.« Sie wartete, bis Michelle die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann wandte sie sich an Ali. »Wohin wollen wir fliehen?«
»Nach Isfahan«, antwortete Ali, während er ein paar Bücher zwischen die Kleidungsstücke packte. »Saddin sagte mir, dass der Herrscher dort ein weltoffener, vernünftiger Mann sei, zu dem ich jederzeit flüchten könnte, sobald mir Gefahr droht.« Er warf Beatrice einen kurzen Blick .zu. »Hast du die Steine?«
»Ja«, sagte sie ungeduldig und deutete auf den Kasten, der auf ihrem Bett lag. »Und den von Michelle habe ich auch. Aber hältst du es wirklich für richtig, nach Isfahan zu gehen? Ich meine, wie sicher sind wir - und das Auge der Fatima - dort wirklich? Die Fidawi können uns überall aufspüren. Und der Herrscher kann jederzeit sterben oder gestürzt werden.
Was ist, wenn sein Nachfolger nicht so tolerant ist, sondern ein Fanatiker? Willst du dann wieder weiterziehen und um dein Leben fürchten?«
Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?«
Beatrice setzte sich auf das Bett. Ihre Wangen glühten vor Aufregung.
»Wir können dorthin fliehen, wo uns die Fidawi niemals finden werden, dorthin, wo wir wirklich sicher sind«, sagte sie und klopfte auf den Kasten. »Wir haben die Steine, Ali. Und wir können sie benutzen.« Ali sah sie an, als ob er kein Wort verstanden hätte. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber warum sollten wir nicht ...«
»Du meinst, wir sollten zusammen irgendwo anders hingehen?«
Beatrice ergriff seine Hände.
»Nein, Ali, nicht irgendwo anders«, sagte sie, »sondern nach Hause. Dorthin, wo Michelle und ich herkommen.«
Ali wurde bleich, und Beatrice war nicht ganz klar, ob es nun daran lag, dass er noch nie die Macht der Steine am eigenen Leib erfahren hatte, oder ob ihm der Gedanke an die Zukunft Angst machte.
»Und wie sollen wir das anfangen? Ich meine, wie kannst du sicher sein, dass die Steine uns genau dorthin bringen, wo wir hinwollen?«
»Jeder von uns nimmt einen Stein in die Hand. Und der Rest ist Gottvertrauen. Glaube ich wenigstens.«
»Hm.«
»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Ali. Ich bin bei dir. Ich werde dir alles erklären, was nötig ist, um sich bei uns zurechtzufinden. Außerdem weiß ich, dass es im 21. Jahrhundert keine Fidawi mehr gibt. Das Auge der Fatima wäre vor ihnen in Sicherheit. Und glaube mir, in meiner Zeit könnten wir den Frieden, den das Auge der Fatima verspricht, wirklich gut gebrauchen.«
Ali antwortete nicht gleich.
»Dein Vorschlag klingt wirklich verrückt, und doch scheint er der einzige wirklich Erfolg versprechende zu sein«, sagte er schließlich und schüttelte den Kopf. »Leg eure beiden Steine zu den anderen. Und dann lass uns erst einmal sehen, was passiert, bevor wir uns zu einem derart gewagten Schritt entscheiden.«
Vielleicht hegte Ali die kindliche Hoffnung, dass aus dem wieder zusammengefügten Auge Blitze hervorschössen, die alles Böse in der Welt vernichten und sich somit ihre Probleme mit einem Schlag in nichts auflösen würden. Sie würden ihr Leben weiterführen können und eine ganz normale Familie unter tausenden von normalen Familien sein. Eine wunderbare Vorstellung, doch Beatrice glaubte nicht daran. Das wäre zu einfach. Und wenn Gott sich alles so einfach gedacht hätte, hätte er seinen Sohn nicht ans Kreuz nageln und drei Tage später auferstehen lassen müssen. Trotzdem stimmte sie Alis Vorschlag zu und öffnete den Kasten.
Vor ihren Augen lagen die Steine der Fatima. Fünf Saphire von so unvergleichlicher Schönheit, dass einem beinahe die Augen wehtaten, wenn man sie ansah. Beatrice öffnete ihre Faust und legte den sechsten dazu. Nun fehlte nur noch einer. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie den kleinen Beutel hervorholte, in dem sie ihren Stein aufbewahrte. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Bald, nur noch wenige Sekunden, dann würde das Auge vollständig sein. Ein Märchen würde wahr werden und dann ...
Dann setzte ihr Herzschlag aus - vor Schreck, vor maßlosem Entsetzen. Der Beutel war leer. Sie durchwühlte den Beutel, die Geheimtasche, in die sie den Beutel gesteckt hatte, krempelte beides um, suchte alle anderen Taschen ab, die sich an ihrer Kleidung befanden, tastete die Wäsche ab. Vielleicht hatte sie den Saphir in ihrer Verwirrung woanders hingesteckt, vielleicht war er durch das Futter in die Kleidung gerutscht und hatte sich dort verfangen. Vielleicht ...
... hatte sie ihn verloren? War der Stein, das kostbarste Kleinod, das es auf dieser Welt gab, gestohlen worden?
Beatrice wurde schwarz vor Augen. Ihr war schlecht. Alles drehte sich um sie, und sie spürte, wie ihr Kreislauf versagte und sich das Blut in ihren Beinen sammelte. Fünf Liter Blut. Das Volumen schien ihre Waden sprengen zu wollen, während ihr Kopf sich leicht und hohl anfühlte wie ein mit Gas gefüllter Luftballon.
»Beatrice, was ist los?«
Erst jetzt begriff sie, dass Ali mit ihr sprach, dass er sie auf das Bett gelegt hatte, ihr Wangen tätschelte und ihr Wasser ins Gesicht sprengte. »Was ist mit dir? Hast du ...«
»Ich habe ihn nicht mehr, Ali«, flüsterte sie und war selbst erschrocken, wie geisterhaft ihre Stimme klang. »Ich habe den Stein der Fatima verloren.«
Sie saßen nebeneinander auf dem Bett, eng aneinander geschmiegt wie zwei Menschen, die soeben vom Schicksal mit einer Hiobsbotschaft geschlagen worden waren. Ali hatte seine Kleidung ebenfalls durchsucht, sie hatten das Schlafgemach auf den Kopf gestellt, Decken und Kissen durchwühlt - vergeblich. Sie hatten hin und her überlegt, wo und wie Beatrice den Stein verloren haben könnte. Oder hatte ihn vielleicht Mustafa gestohlen? War die Warnung nur vorgetäuscht und alles bloß Theater gewesen, um sich erneut an sie heranzuschleichen und ihr den Stein wegzunehmen? Doch egal, was sie auch überlegten, das Ergebnis blieb immer dasselbe - der Stein der Fatima, das fehlende siebte Stück, war weg.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Beatrice wohl schon zum zwanzigsten Mal. »Was sollen wir nur machen?«
Ali schüttelte den Kopf, langsam und bedächtig.
»Vielleicht können wir nichts dafür. Vielleicht sollte das Auge noch nicht vollständig sein. Vielleicht ist die Zeit noch nicht gekommen. Und wir ...«
Beatrice sah ihn an. Sie ahnte bereits, was er sagen wollte, noch bevor er weitersprach. Natürlich. Es war logisch, vernünftig, die einzige sinnvolle Konsequenz, die man aus den Ereignissen ziehen konnte. Trotzdem, sie wollte es nicht hören. Sie schüttelte den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Doch Ali fuhr unbeirrt fort. Wie konnte er nur so unbarmherzig sein?
»Wir müssen uns trennen, Beatrice«, sagte er leise und ruhig, mit einer Stimme, als würde er ihr bloß erzählen, dass für morgen Regen angekündigt war und ihr geplanter Ausflug zur Ostsee wahrscheinlich ausfallen musste.
»Nein, Ali, wir werden einen anderen Weg finden. Es muss einen anderen Weg geben. Wir können vielleicht doch ...«
»Nach Isfahan gehen? Nur um, wie du vorhin selbst gesagt hast, nach wenigen Wochen wieder fliehen zu müssen?« Er lächelte. »Du hattest Recht, Beatrice. Hier in diesem Land, unter den Augen der Fidawi sind die Steine der Fatima nicht sicher. Und ihr beide auch nicht. Geh zurück. Bring Michelle und die Saphire zu dir nach Hause, in deine Welt.«
»Und was ist mit dir? Willst du etwa nicht mitkommen?« Beatrice war wütend, empört, verzweifelt. Und doch kannte sie die Antwort. Kannte sie ebenso wie das Ende von Der mit dem Wolf tanzt, einem Film, den sie mindestens fünfzehnmal gesehen hatte. Einem Film ohne Happyend.
»Du weißt genau, dass es nicht geht«, sagte Ali leise und legte ihr gleich einen Finger auf den Mund, um jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. »Jemand muss den verlorenen
Stein suchen. Wir können kaum erwarten, dass Moshe Ben Maimon das tut. Der alte Mann liegt im Sterben. Vielleicht ist er sogar in diesem Augenblick schon tot. Und abgesehen von ihm und uns beiden weiß niemand, wo sich die restlichen Steine der Fatima befinden.«
»Du willst also wirklich ...«
»Ja.« Ali schluckte, und für einen Augenblick sah es so aus, als würde er die Beherrschung verlieren. Und sich vielleicht doch anders entscheiden. Für sie. Für eine gemeinsame Zukunft. »Ich gestehe, dass es mir genauso wenig gefällt wie dir, aber es ist die einzige Möglichkeit. Ich muss es tun.«
Beatrice schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie konnte und wollte es einfach nicht glauben, dass dies wirklich das Ende sein sollte, dass sie Ali verlassen sollte, wieder nach Hause gehen sollte ohne ihn. Das war brutal, unverantwortlich.
»Kommst du nach, sobald du den Stein gefunden hast?«, fragte Beatrice. Doch sie wusste, dass sie sich diese Frage hätte schenken können. Es war die Frage eines kleinen Mädchens nach dem Weihnachtsmann, dem Sandmann und den Wichtein.
»Ich liebe dich, Beatrice«, sagte Ali mit heiserer Stimme. Er war in diesem Augenblick offensichtlich stärker als sie. Und klüger. Er gab keine Versprechen, die niemand einhalten konnte. »Und ich werde dich immer lieben.« Er küsste sie sanft und zärtlich und umfasste ihr Gesicht. »Versprich mir glücklich zu werden, wenn du wieder in deiner Welt bist. Ich meine ...« Er schluckte erneut. Es klang, als ob er an einem Stück Fleisch würgen würde, so schwer fiel es ihm, weiterzusprechen. »Du musst mir dein Wort geben, dass du nicht allein bleibst um meinetwillen. Du musst auch an Michelle denken. Sie braucht einen Vater. Natürlich nicht den erstbesten, der dir über den Weg läuft. Du solltest dir schon mit der Wahl Zeit lassen. Es gibt so viele unanständige, verantwortungslose Männer ...«
»Ja, Ali«, erwiderte Beatrice heftig. Noch wollte sie sich nicht geschlagen geben, noch wollte sie kämpfen. Die Lage war zwar aussichtslos, es stand sieben zu null gegen sie, und das Spiel würde jeden Augenblick abgepfiffen werden, aber sie wollte nicht kampflos untergehen. Und vielleicht geschah ja doch noch ein Wunder. »Und deshalb brauchen wir dich. Ich liebe dich. Du bist Michelles Vater, und deshalb ...«
»Nein, Beatrice. Mein Platz ist hier. Und das weißt du.« Er streichelte zärtlich ihr Gesicht. »Geh. Wir müssen uns beeilen. Bis zum Sonnenuntergang haben wir nicht mehr viel Zeit.«
»Ali, ich ...«
»Geh. Es ist besser, wenn wir uns hier und jetzt verabschieden, glaube mir. Je länger es dauert ...« Seine Stimme brach, und er drückte sie an sich.
»Gut, Ali, ich werde mein Versprechen halten«, sagte Beatrice nach einer Weile. »Aber nur unter einer Bedingung. Du musst mir schwören, das Gleiche zu tun. Suche dir eine Frau, heirate sie und werde glücklich mit ihr.«
Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, dann nickte er.
»Gut«, sagte er schließlich. »Ich verspreche es dir, auch wenn es mir schwer fällt.«
Sie küssten sich noch einmal. Dann stand Beatrice auf, nahm den Kasten mit den sechs Saphiren an sich und verließ das Schlafgemach, ohne sich umzudrehen.
Mustafa lief hinter Meister Osman her. Obwohl die Sonne erst vor kurzem untergegangen war, war es schon ziemlich dunkel. Wolken verdeckten den Himmel, und es sah aus, als würde es in der Nacht anfangen zu regnen - eine Seltenheit zu dieser Jahreszeit. Mustafa hatte Meister Osman bisher nur bei der Ausbildung in Alamut zugesehen und ihn immer wegen seiner Geschicklichkeit bewundert. Doch nie zuvor hatte er ihn bei der Ausführung eines Auftrags beobachten dürfen - und er war stumm vor Staunen. Er konnte den Meister kaum sehen. In seiner dunkelgrauen Kleidung verschmolz er fast mit der Nacht und den Dächern, war kaum mehr als ein huschender Schatten, lautlos und nur für geübte Augen sichtbar. Geschickt wie eine Katze sprang er über Abgründe, kletterte lautlos und geschmeidig die steilsten Dächer empor oder ließ sich an einem Seil eine Wand hinab wie eine Spinne an ihrem Faden. Mustafa hatte erhebliche Mühe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren und ihm schnell genug zu folgen. Er dachte daran, dass seine Ausbildung noch nicht beendet war, dass er noch viel lernen musste, um eines Tages ebenso geschickt zu sein wie Meister Osman.
Und dann fiel ihm ein, dass er seine Ausbildung gar nicht mehr beenden würde, dass er, wenn die Sonne wieder aufging, kein Fidawi mehr war, selbst wenn Allah gnädig sein und Meister Osman niemals erfahren würde, was er getan hatte. Er konnte nicht mehr nach Alamut zurück. Er hatte seinen Auftrag verraten. Er hatte die Fidawi verraten. Er hatte den Großmeister selbst verraten. Doch auch wenn das nicht gewesen wäre, würde er nicht mehr nach Alamut zurückkehren können. Er hatte hinter den Vorhang der Bruderschaft geblickt, den dichten aus Glauben und Frömmigkeit gewobenen Schleier gelüftet. Und da hatte er Härte, Selbstherrlichkeit und sogar gemeinen Mord gesehen. Nein, er konnte nicht zurück. Er hatte für sich entschieden, dass er Allah nicht dienen konnte - wenigstens nicht auf die Weise der Fidawi, nicht mit gemeinem Mord. Wie er sich von Meister Osman trennen sollte, wusste er noch nicht. Er würde es auf sich zukommen lassen. Und falls Meister Osman ihn durchschauen sollte, war ohnehin alles egal. Dann war er noch bevor die Sonne wieder aufging tot.
»Komm, beeil dich!«, zischte Meister Osman ihm zu. »Es ist nicht mehr weit. Hast du alles bei dir?«
Mit steifen Fingern tastete Mustafa seinen Gürtel ab und nickte. Ja, da hingen sie, die Gegenstände, über deren Besitz er noch vor wenigen Tagen so unendlich stolz gewesen war - das Würgeseil, der Dolch, die Phiole mit dem tödlichen Gift. Jetzt wurde ihm bei dem bloßen Gedanken an sie übel.
»Gut. Wir gehen vom Turm aus ins Haus und prüfen zuerst die Lage. Lautlos, wir wollen nicht die ganze Dienerschaft auf dem Hals haben. Du übernimmst das Mädchen. Ich kümmere mich um die Frau und den Mann.«
Mustafa nickte. »Wie soll ich ...«
»Nimm das Würgeseil. Dann schreit das Balg nicht so.« Meister Osman sprach über den Mord, als würden sie nichts anderes tun als eine Melone vom Feld ernten. Eisige Kälte kroch über Mustafas Rücken und ließ ihn erzittern. »Hast du noch Fragen?«
»Nein, es ist nur ...«
Der Meister nickte kurz. »Beim ersten Mal ist jedem etwas unwohl«, erklärte er ernst und tätschelte Mustafa kurz den Kopf. »Aber du darfst nie vergessen, dass du es für Allah tust. Es ist deine heilige Pflicht. Und Allah wird dich - und gegebenenfalls deine Familie - für diesen Dienst reich belohnen.«
»Ja, Meister«, erwiderte Mustafa und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Er konnte sich nicht vorstellen, weshalb er jemals den Wunsch gehabt hatte, ein Fidawi zu werden. War er etwa die ganze Zeit über mit Blindheit geschlagen gewesen?
Sie liefen noch über zwei weitere Dächer, dann erreichten sie den Turm, der zum Haus des Arztes gehörte. Niemand schien sie zu bemerken, Wachen gab es keine. Mustafas Herz klopfte schneller. Hatte der Arzt die Stadt bereits verlassen, oder hatte er seine Warnungen ignoriert? Nicht mehr lange, und sie würden es wissen.
Sie kletterten über die Mauer und ließen sich lautlos auf die Plattform gleiten. Während Meister Osman zur Tür huschte, um zu prüfen, ob sie verschlossen war, und sie zu öffnen, betrachtete Mustafa den Himmel. Die Wolken schoben sich ein wenig zur Seite, und er konnte ein paar Sterne sehen. Er musste zweimal hinschauen, bis er begriff, dass das, was er dort oben sah, die Form eines Auges hatte.
»Meister!«, flüsterte Mustafa und deutete nach oben. »Seht nur. Was ist das? Was hat das zu bedeuten?«
Meister Osman blickte kurz von seiner Arbeit auf.
»Dies ist das Auge der Fatima«, sagte er, und im schwachen Licht der Sterne konnte Mustafa sein Lächeln erkennen. »Das ist ein gutes Zeichen. Allahs Segen ruht auf uns. Schon bald werden wir die Frevler bestrafen, und der Stein der Fatima wird uns gehören. Uns, den rechtmäßigen Erben des Auges.«
Er widmete sich wieder dem Türschloss, und mit wenigen geschickten Handbewegungen hatte er es geöffnet.
»Ich gehe hinein. Warte hier, bis ich dir ein Zeichen gebe oder zurückkomme.«
Mustafa war allein - allein mit seinen Gedanken, seinen Gewissensbissen und seinen Zweifeln. Wenn der Arzt und seine Familie sich nun doch noch im Haus befanden? Hätte er nicht lieber schon viel eher Meister Osman zurückhalten sollen? Vielleicht sollte er jetzt selbst die Gelegenheit nutzen und fliehen? Doch er konnte sich nicht rühren. Unablässig starrte er das Auge an, das klar und deutlich über ihm stand und ihn anzusehen schien - freundlich, gütig, tröstend. Vielleicht würde doch noch alles gut werden. Vielleicht ...
In diesem Moment begann sich das Auge zu drehen. Zuerst glaubte Mustafa, ihm wäre schwindlig und er würde gleich ohnmächtig werden, doch ein Blick in die Umgebung sagte ihm, dass alles in Ordnung war. Die Welt stand still, so wie es sich gehörte. Nur das Auge aus Sternen über ihm am Himmel drehte sich um sich selbst - schneller und immer schneller. Die Sterne waren keine einzelnen Punkte mehr. Sie verschmolzen miteinander zu Linien und Kreisen aus Licht, sich kringelnden Schlangen gleich, nur dass diese Schlangen schneller waren als alles, was er in seinem bisherigen Leben gesehen hatte. Und dann öffnete sich mitten in den hellen Kreisen ein schwarzes Loch, ein riesiger Schlund, der alles in sich hineinzusaugen schien, was ihn umgab. Ein heftiger Wind kam auf und zerrte an Mustafas Kleidern und Haaren. Er hielt sich fest, um nicht ebenfalls hochgerissen zu werden und für immer in dem düsteren Loch zu verschwinden. Und dann war alles vorbei, ebenso plötzlich und unerwartet, wie es begonnen hatte.
Mustafa schüttelte verwundert den Kopf. In diesem Augenblick drang Lärm zu ihm herauf - das metallische Klirren von gegeneinander prallenden Säbeln und Schwertern, dumpfe Schläge, wütende Schreie. Was war dort unten los? Hatte der Arzt den Fidawi eine Falle gestellt und Meister Osman mit einer Schar von bewaffneten Soldaten erwartet? Noch während er darüber nachdachte und sich fragte, ob er lieber auf den Meister warten oder ihm vielleicht doch folgen sollte, verstummte der Lärm. Und dann näherten sich ihm Schritte. Sie kamen die Treppe herauf.
»Vielleicht ist der andere Fidawi noch oben auf dem Turm. Diese Kerle kommen meistens zu zweit.«
Mustafa erstarrte. Das war nicht Meister Osmans Stimme. Und im selben Augenblick wusste er, dass der Meister tot war. Die Soldaten hatten ihn, der in der Bruderschaft als unbesiegbar galt, getötet. Und jetzt suchten sie nach ihm.
Sie würden auch ihn töten, so viel stand fest. Und trotzdem gelang es Mustafa nicht, auch nur ein Glied zu rühren. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren aus, und doch schaffte er es nicht, auch nur einen Schritt auf die Mauer des Turms zuzugehen. Er stand da wie gelähmt.
Allah, hilf mir! Was soll ich tun?, flehte er, während er wie versteinert seinem drohenden Schicksal entgegensah.
Zu spät fiel ihm ein, dass Meister Osman es leicht mit fünf Soldaten hätte aufnehmen können. Viel zu spät dachte er daran, dass lediglich eine Hand voll Menschen von der Existenz der Fidawi wussten. Wer oder was auch immer gerade die Treppe emporstieg, war also mehr als gefährlich. Es war tödlich. Und er hatte nichts, um sich zu verteidigen. Nichts außer al-Husseins Wort, dass er ihn vor dem Angriff des Meisters gewarnt hatte. Und wenn der Arzt die Stadt bereits verlassen hatte? Wenn niemand mehr hier war, der seine Stimme zu seiner Verteidigung erheben konnte? Dann war er schutzlos. Dann war dies hier sein Ende.
Die Tür öffnete sich - langsam, vorsichtig. Und plötzlich waren zwei Männer auf der Plattform. Sie waren so schnell, dass sie Mustafa bereits gegenüberstanden, bevor er sie wirklich bemerkt hatte. Ihre scharfen, schlanken Säbel blitzten einmal kurz auf, und dann spürte er auch schon das kalte, scharfe Metall an seiner Kehle. Auf ihren entblößten Unterarmen prangte ein Symbol, ein mit dunkler Tinte in die Haut geritztes Zeichen. Es hatte die Form eines Auges. Es gab keinen Zweifel mehr, diese beiden Männer gehörten zu den »Hütern des Auges der Fatima«, den erbitterten Gegnern der Fidawi. Meister Osman hatte die Brüder immer wieder vor ihnen gewarnt. Und jetzt standen sie hier, direkt vor ihm, und die Spitzen ihrer Klingen bohrten sich in seinen Hals. Mustafa schluckte. Er war verloren.
»Sieh mal an, ein Junge«, sagte der eine und lächelte grimmig. »Diese verfluchten Fidawi kennen keine Scheu. Selbst Kinder verseuchen sie schon mit ihren Irrlehren. Aber ...«
»Lass gut sein. Darüber können wir zu einem anderen Zeitpunkt reden.« Der zweite Hüter wandte sich an Mustafa. »Wie ist dein Name, Sohn?«
»Mustafa.« Seine Stimme war kaum zu hören, und er zitterte jetzt wie ein Kaninchen vor der Schlange.
»Mustafa?« Er nickte und steckte seinen Säbel wieder in die Scheide zurück. Doch Mustafa zweifelte keinen Augenblick daran, dass der Mann die Waffe schneller als ein Wimpernschlag wieder ziehen konnte. Meister Osman hätte es gekonnt. Und diese beiden waren besser als er, sonst hätten sie ihn niemals töten können. »Wir haben nicht die Absicht, dich zu töten oder dir ein Leid zuzufügen. Ali al-Hussein hat uns von dir erzählt. Wir wissen, dass du ihn und seine Familie gewarnt hast.«
»Wo sind sie? Sind sie ...«
Der Hüter lächelte. Es war ein freundliches Lächeln.
»Sie haben deine Warnung beherzigt und Gazna rechtzeitig verlassen.«
Mustafa schloss erleichtert die Augen.
»Allah sei Dank.« Und dann fiel ihm etwas ein, etwas, an das er bisher noch gar nicht gedacht hatte. Was wurde nun aus ihm? Sollte er wieder in sein Dorf zurückkehren? Oder ...
»Komm mit uns«, sagte der andere Mann. »Du kannst weder in dein Dorf zurückkehren noch zu den Fidawi gehen.«
»Egal, wohin du fliehst, sie werden dich suchen und töten. Dein Name steht jetzt auch auf ihrer Todesliste, denn du hast sie verraten. Und es wird nicht lange dauern, bis sie es wissen.«
»Aber ...«
»Komm«, sagte der Hüter mit einem freundlichen Lächeln und streckte ihm seine Hand entgegen. »Wir werden überall verbreiten lassen, dass wir zwei Fidawi getötet haben. In ein paar Jahren wird niemand mehr glauben, dass du doch am Leben bist. Dann kannst du frei entscheiden, wohin du gehen willst.«
»Außerdem brauchen wir gute Männer, die bereit sind, ihrem Gewissen zu folgen.«
Mustafa sah von einem zum anderen. Irgendwie konnte er es noch nicht so recht glauben. Sollte er wirklich kurz nachdem er sich von den Fidawi losgesagt hatte die Seiten wechseln und zu den »Hütern des Auges« gehen? Und doch, die beiden Männer hatten ihm gerade ein neues Leben angeboten, eine zweite Chance.
»Ja«, sagte er, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich frei. »Ich komme mit euch.«
Die- beiden Männer gingen zur Tür. Doch Mustafa folgte ihnen nicht gleich. Er blieb stehen und sah noch einmal in den Himmel. Über ihm stand wieder das Auge, ruhig, klar und freundlich. Es schien zu lächeln und ihm zuzuzwinkern, und Mustafa wusste plötzlich, dass alles sich zum Guten wenden würde. Für den Arzt, seine Familie - und für ihn selbst. Er hatte sich richtig entschieden. Und auf diesem Weg würde er bleiben. Dann schoben sich die Wolken vor die Sterne. Das Auge war verschwunden.