Epilog
Ich glaube, er wacht auf.«
»Meinst du wirklich?«
»Doch, er hat eben mit den Lidern gezuckt. Und siehst du, seine Hand? Sie bewegt sich.«
Das aufgeregte Flüstern kam näher. Und obwohl er es eigentlich nicht wollte, obwohl er nichts mehr herbeisehnte als seine Ruhe, seinen Frieden, konnte er nicht anders.
Solange auch nur ein Funke Leben einen Menschen beseelt, verliert er nicht seine Neugierde, dachte Moshe Ben Maimon und versuchte die Augen zu öffnen, obwohl er es eigentlich gar nicht wollte. Er wollte nicht sehen, wohin der Stein ihn jetzt schon wieder gebracht hatte. Er wollte sich nicht wieder in eine andere Zeit, eine andere Umgebung eingewöhnen, nicht wieder lieb gewonnene Menschen zurücklassen müssen. Er wollte ein für alle Mal seinen Frieden haben. Und trotzdem konnte er nicht anders.
Moshe Ben Maimon öffnete die Augen. Über ihn gebeugt stand ein Mann. Ein Mann mit rabenschwarzem Haar und dunklen Augen. Daneben stand eine Frau. Sie war alles andere als jung, aber trotzdem war sie schön mit ihrer hellen, faltigen Haut, den schlohweißen, langen Haaren, den blassblauen Augen und der aristokratischen Nase. Von allen Menschen, denen er auf seinen ungezählten Reisen begegnet war, liebte er dieses Gesicht am meisten. Es war Sarah, seine Frau.
Und er wusste, wo er sich befand. Er war zu Hause. In Kairo. Endlich.
Moshe Ben Maimon schloss die Augen wieder und weinte - vor Freude darüber, zu Hause zu sein, und vor Scham, weil er, wenn auch für einen kurzen Augenblick, gezweifelt und nicht mehr an Gottes unendliche Güte geglaubt hatte.
Als er die Augen erneut öffnete, beugte sich Sarah über ihn. Sie streichelte sein Haar, küsste seine Stirn, seine Wangen, seinen Mund.
»Ich bin so froh, dass du wieder bei uns bist«, sagte sie, und er spürte ihre heißen Tränen auf seiner Haut. »Wir fürchteten schon, du würdest uns für immer verlassen, ohne dass du noch einmal das Bewusstsein wiedererlangst.«
Moshe Ben Maimon nahm die Hände seiner Frau, küsste sie und legte sie auf seine Brust.
»O nein, wie könnte ich das tun.« Er lächelte. »Ein wenig Zeit ist mir noch vergönnt. Gerade noch so viel, um einige wichtige Angelegenheiten wie zum Beispiel mein Begräbnis zu regeln.«
»Dein Begräbnis? Du darfst so etwas nicht sagen, Moshe«, entgegnete Sarah, und Empörung und Angst schwangen gleichermaßen in ihrer Stimme mit. »Du wirst sehen, wenn du erst wieder zu Kräften gekommen bist, wirst du wieder in der Synagoge predigen. So war es doch bisher immer.«
»Ja, aber diesmal wird es anders sein.«
Sarah schüttelte den Kopf. Er wusste, dass sie eigentlich weinen wollte, doch sie war stark und tapfer. Sie unterdrückte die Tränen und lächelte - für ihn.
Herr, ich danke Dir, dass Du mir diese Frau an meine Seite gestellt hast. In all den Jahren war sie mein Trost und meine Kraft.
»Ali al-Zadeh, komm näher.« Er winkte den jungen Mann zu sich ans Bett, den Mann, der sein Freund und Assistent war, obwohl es vielen traditionellen Juden in Kairo und ganz Ägypten ein Dorn im Auge war, dass gerade er, ihr Vorsteher und Rabbi, einen Muslimen zum Gehilfen hatte. »Ich möchte dich bitten, nach meinem Tod meine Schriften zu verwalten und sie vor denen zu beschützen, die immer noch an den Buchstaben des Gesetzes festhalten und mich als Ketzer beschimpfen. Du bist mein Schüler, meine rechte Hand - und mein Freund.«
Der Araber verneigte sich voller Ehrfurcht.
»Rabbi, es war mir eine Ehre, Euch bei Eurer Arbeit behilflich gewesen zu sein. Ich danke Euch, dass Ihr mir Eure Gedanken mitgeteilt habt, dass ich es war, der Eure Gedanken niederschreiben durfte. Dass ich ...«
»Schon gut, schon gut«, sagte Moshe. »Wenn du weitersprichst, werde ich noch eingebildet. Doch ich habe noch zwei Anliegen. Habe ein Auge auf Sarah. Sie wird dich nach meinem Tod brauchen. Die Juden hier in Kairo werden sie noch ganz verrückt machen mit Trauer- und Gedächtnisfeiern. «
»Lange Zeit war sie für mich wie eine Mutter. Und es wird mir und meiner Familie eine Freude und Ehre sein, sie auch als solche bei uns aufzunehmen.«
»Und nun das Zweite. Nimm diesen Stein, Ali, und bewahre ihn gut.« Er drückte Ali den Saphir in die Hand.
»Aber das ist ...« Der junge Mann starrte ungläubig auf seine Handfläche, von der ein blaues Licht.ausging und die Decke des Zimmers leuchten ließ. »Das ist doch ...«
»Ja, du hast Recht, Ali. Es ist u-bina. Gib ihn weiter in deiner Familie wie ein besonders kostbares Erbe, ein sorgsam gehütetes Geheimnis, denn viele gieren nach u-bina, und viele sind bereit, dafür zu töten. Doch er muss in deiner Familie bleiben, bis eines fernen Tages einer deiner Nachkommen eine Frau trifft, deren Name Beatrice Helmer ist. Dieser Frau könnt ihr den Stein ohne Sorge geben. Sonst niemandem. Hast du verstanden?«
Ali nickte. Seine Augen waren weit aufgerissen. Voller Ehrfurcht und mit ungläubigem Staunen hielt er den kostbaren Saphir in seiner Hand und presste ihn an die Brust.
»Rabbi, bei allem, was mir heilig ist, bei Allah und allen Seinen Engeln, ich schwöre, dass ich und meine Familie gut auf u-bina Acht geben werden. Wir werden den Stein der Fatima beschützen und sogar unser Leben opfern, wenn es sein muss, um ihn zu verteidigen. Nie hat es eine größere Ehre gegeben. Die Familie al-Zadeh wird darauf immer stolz sein und Euch danken auf ewig.«
Moshe lächelte. Ali war ein aufrichtiger Mann. Er würde seinen Schwur halten. Ali al-Zadeh. Das Leben verlief in Kreisen.
Er hatte alles geregelt. Sechs Steine der Fatima waren in Sicherheit bei Beatrice. Der siebte wartete geduldig in Alis Hand darauf, irgendwann Beatrice zu begegnen. Sarah war bei ihm. Er fühlte ihre Hand, die Wärme ihrer Lippen. Fast fünfzig Jahre lang hatte sie ihn begleitet durch ein bewegtes Leben voller Widersprüche, Zweifel, Verleumdungen und Ehrungen. Sie hatten sich geliebt. Und sie hatte ihn auch dann nicht im Stich gelassen, wenn er wieder einmal mit einem der Steine der Fatima auf Reisen gewesen war. Seinen Traum, das Auge zusammenzufügen, hatte er nicht mehr verwirklichen können. Doch seine Vision, dass Juden, Christen und Moslems als drei Brüder desselben Vaters miteinander in Frieden leben konnten, hatte ihn nicht verlassen. Zu keiner Zeit, auch jetzt nicht. Das Auge der Fatima würde den Boden dafür bereiten. Irgendwann würde die Zeit kommen.
Moshe lächelte. Ja, jetzt konnte er beruhigt die Augen schließen und endlich schlafen, schlafen, schlafen ...