6

 

 

 

»Ich komme wieder, sobald ich kann«, hatte Maffeo gesagt. Doch anscheinend wurde er an der Erfüllung dieses Versprechens gehindert, denn den ganzen Tag lang bekam Beatrice ihn nicht mehr zu Gesicht. Vielleicht hatte der Mongole ihm den Kontakt mit ihr verboten? Beatrice starrte aus dem Fenster, dann wieder ging sie ruhelos in dem Zimmer auf und ab. Ihre Gedanken kreisten um all jene Fragen, die sie Maffeo noch stellen wollte – und um seine möglichen Antworten. Schließlich hielt sie diese innere Spannung nicht mehr aus. Wenn sie schon allein bleiben musste, konnte sie wenigstens Li Mu Bais Ratschlag befolgen und einen Spaziergang machen. Bewegung und frische Luft würden ihr sicher gut tun. Und es würde sie auf andere Gedanken bringen.

Nach dem Mittagessen, das wieder aus Reis und Gemüse bestanden hatte, beschloss Beatrice, auf Entdeckungstour zu gehen. Nachdem Ming sie verlassen hatte, öffnete sie die Tür und trat hinaus auf einen Gang, der um einen runden Innenhof herumführte. Zierliche Säulen aus hellem Marmor trugen das weit überhängende Dach, sodass man selbst bei schlechter Witterung trockenen Fußes von einer Seite des Hauses zur anderen gehen konnte. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Kreuzgang eines katholischen Klosters. Zahlreiche Diener, die meisten von ihnen Chinesen, eilten geschäftig hin und her. Sie trugen Krüge, Wäsche, Körbe mit Obst und Gemüse oder hatten ihre Hände sittsam in den weiten Ärmeln ihrer Hemden verborgen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, als hätten sie alle ein Schweigegelübde abgelegt. Oder hatte man ihnen verboten, miteinander zu sprechen? Beatrice blieb stehen und sah dem stummen Treiben einen Augenblick zu.

Die Diener huschten an ihr vorbei, als wäre sie nicht vorhanden. Keiner von ihnen schien sie zu bemerken. Dann ging sie weiter, langsam und bedächtig. Sie hatte keine Eile.

Beatrice bewunderte die reich verzierten Schränke, die Kommoden mit Dutzenden kleiner Schubladen und die schweren eisenbeschlagenen Truhen, die überall an den Wänden des Gangs standen. Sie hielt immer wieder inne und berührte vorsichtig die kunstvollen Einlegearbeiten aus Gold und Elfenbein, die exotische Blumen und Fabelwesen aus der chinesischen Mythologie darstellten. Sie fragte sich, ob die kostbaren Möbelstücke wohl das ganze Jahr über hier auf dem Gang stehen blieben. Wie hielten diese empfindlichen Kostbarkeiten Kälte, Hitze, Feuchtigkeit und Trockenheit aus, ohne dass das Holz aufquoll und die Intarsien ihre Schönheit einbüßten? Oder wurden sie einfach jedes Jahr durch neue Möbel ersetzt? Möglich war es. Denn vermutlich spielte Geld am Hof des Khans keine Rolle. Und wenn die Staatskasse doch mal leer war, zog Khubilai eben mit seinen Soldaten los und raubte sich, was sein Herz begehrte.

Als Beatrice etwa die Hälfte des Innenhofs umrundet hatte, kam sie zu einem Tor. Durch die weit geöffneten Flügel konnte sie einen riesigen Platz und weitere, größere Gebäude mit Kuppeln und Türmen sehen. Sie schaute sich um. Da sich immer noch niemand um sie zu kümmern schien, fasste sie sich ein Herz und spazierte geradewegs durch das Tor hindurch.

Die plötzliche Kälte überraschte Beatrice und trieb sie beinahe wieder in den geschützten Innenhof zurück. Hier auf dem großen Platz gab es nichts, was den eisigen Wind aufhielt. Er zerrte an ihrer Kleidung und ihren Haaren und ließ sie frösteln. Schwer beladen mit Körben und Krügen, liefen die Diener und Dienerinnen über den Platz, als könnten sie es kaum erwarten, wieder in den Schutz eines der warmen Häuser zu gelangen. Nur den kriegerisch aussehenden Männern, die mit blitzenden Rüstungen und Waffen stolz auf ihren bunt geschmückten Pferden saßen, wichen sie aus, oft erst in letzter Sekunde. Mancher Diener musste sogar einen Tritt oder einen Schlag mit der Peitsche hinnehmen, wenn er nicht schnell genug zur Seite gesprungen war.

Es ist doch überall das Gleiche, dachte Beatrice und erinnerte sich daran, wie in Buchara die Diener und Sklaven behandelt worden waren. Auch dort waren Schläge an der Tagesordnung gewesen.

Sie überquerte den Platz, ohne dass jemand sie beachtete. Und da sie nicht genau wusste, wohin sie eigentlich gehen sollte, wandte sie sich dem Gebäude zu, das zu ihrer Rechten lag. Auch hier stand das Tor weit offen. Beatrice sah sich nach links und rechts um, ob es jemanden gab, der sie zurückhalten wollte. Da aber offenbar niemand Anstoß nahm, trat sie durch das Tor.

Wie es schien, war sie in einer Kaserne gelandet, denn in dem großen, zu allen Seiten hin offenen Innenhof stand etwa ein Dutzend Männer einander gegenüber. Sie trugen kleine runde Schilde und hieben mit hölzernen Schwertern und Krummsäbeln aufeinander ein. Und etwas entfernt von ihnen schossen zwei Männer mit Pfeilen und Bogen auf eine Strohpuppe. Auf einem Podest saß ein Mann. Er sah streng und grimmig aus, hatte lange graue Haare und einen wirren grauen Schnurrbart. Vermutlich war er der Ausbilder, denn von seinem erhöhten Platz aus beobachtete er alles ganz genau. Ohne dass Beatrice ihn je zuvor gesehen hatte, wusste sie, dass den Augen dieses Mannes nicht die kleinste Bewegung oder der geringste Fehler der Soldaten entging. Seine tiefe, raue Stimme dröhnte über die Köpfe und Schreie der Männer hinweg. Und was er den schwitzenden Soldaten zubrüllte, klang mehr nach Kritik als nach Lob.

Langsam schlenderte Beatrice den Gang an den Säulen entlang und beobachtete die Soldaten bei ihren schweißtreibenden Übungen. Plötzlich blieb sie stehen. Direkt vor ihr gingen zwei Männer. Der Kleidung nach waren es ein Mongole und ein Araber. Die beiden gingen so langsam, dass selbst Beatrice in ihrem gemächlichen Schneckentempo sie leicht hätte überholen können. Sie wollte gerade ihre Schritte beschleunigen, um rasch an ihnen vorüberzugehen, als sie feststellte, dass einer der beiden Männer Arabisch sprach, und zwar nicht irgendeinen Dialekt, sondern den der Einwohner von Buchara. Eigentlich war es nicht ihre Art, zu lauschen, aber der unerwartete, vertraute Klang dieser Sprache und der Anblick des Mannes, der wie ein vornehmer arabischer Kaufmann gekleidet war, übte auf sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. So ähnlich musste es den Hamelner Ratten ergangen sein, nachdem der Rattenfänger begonnen hatte, auf seiner Flöte zu spielen. Ohne über Anstand und Höflichkeit nachzudenken, verlangsamte Beatrice wieder ihre Schritte, um – wenigstens für eine Weile – dem Wohlklang des ihr bekannten Dialekts zu lauschen.

»…hat mir geschrieben. In dem Brief deutete er an, dass der Mann etwas ahnt«, sagte der Araber gerade. »Sein Vater hat es ihm gegenüber erwähnt. Ich kann mir zwar nicht erklären, wie es dazu kommen konnte, aber…«

»Tatsächlich?«, unterbrach ihn der andere. »Du warst nicht unvorsichtig?«

»Allerdings habe ich schon immer gewusst, dass man ihn nicht unterschätzen darf«, fuhr der Araber fort, ohne auf die Worte des anderen einzugehen. »Der Kerl ist viel klüger, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Hinter der Fassade des älteren, freundlichen und harmlosen Mannes verbirgt sich ein scharfer Verstand. Er hat Kenntnis über Dinge, die er eigentlich nicht wissen sollte. Und deshalb brauchen wir jetzt deine Hilfe, mein Freund.«

»Ich weiß«, erwiderte der andere Mann und nickte. Er sprach mit starkem Akzent. »Ich habe schon lange gewusst, dass es dazu kommen würde. Die Zeichen waren überall so deutlich, dass jeder Narr sie hätte lesen können. Aber sei unbesorgt. Es gibt genügend Mittel und Wege…« Er lachte leise, ein Geräusch, bei dem Beatrice ein Schauer über den Rücken lief. »Ich habe sogar schon eine Idee. Ich schätze, deine Erwartungen werden nicht enttäuscht werden. Es bedarf natürlich einiger Vorbereitungen, wir dürfen nichts überstürzen. Wie du weißt, lauern die Spione überall. Gedulde dich noch eine Weile. Ich werde dir eine Nachricht schicken, sobald alles bereit ist. Und wenn dieses Problem gelöst ist, können wir uns endlich der großen Aufgabe widmen.«

»Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann«, sagte der Araber. »Hast du dir wegen der anderen Sache bereits etwas überlegt?« Der andere Mann schwieg, und so fuhr der Araber fort. »Und, ist es auch sicher?«

Sein Gegenüber schnaubte verächtlich. »Natürlich, sonst hätte ich es gar nicht erst in Erwägung gezogen.«

»Großartig! Kannst du mir mehr darüber erzählen?«

»Geduld, mein Freund, Geduld. Bald wirst du alles erfahren, was du darüber wissen musst«, sagte der Mann mit einer Stimme, die Beatrice erneut einen Schauer über den Rücken jagte. Es erinnerte sie fatal an eine der letzten Szenen aus dem Film Vermisst mit Kiefer Sutherland. Eine Einstellung später findet sich Kiefer Sutherland unter der Erde in einem Sarg wieder.

Ich wäre vorsichtig, wenn ich du wäre, dachte sie.

»Aber wir sollten nicht jetzt darüber reden«, fuhr der Mann fort. »Lass uns umkehren, bevor jemand aufmerksam wird.«

Der Araber nickte. »Du hast recht. Dschinkim wird mich bereits erwarten.«

Die beiden Männer blieben stehen. Noch schienen sie Beatrice nicht bemerkt zu haben. Und mit einem Mal war sie davon überzeugt, dass es besser wäre, wenn das auch so bliebe. Sie hatte das unerfreuliche Gefühl, dass sie sich sonst unter der Erde wiederfinden würde – eine Vorstellung, die ihr den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Hastig sah sie sich nach einem Versteck um. Da, links von ihr, nur etwa zwei Meter entfernt, befand sich eine Tür. Natürlich musste sie sehr schnell sein. Sollte die Tür allerdings verschlossen sein – nun ja, dann half wohl nur noch beten. Ohne noch mehr wertvolle Zeit mit Grübeleien zu vergeuden, huschte sie hin. Das Schicksal war gnädig, die Tür war offen, und Beatrice verschwand – unbemerkt, wie sie hoffte – in dem angrenzenden Raum.

 

 

Dschinkim stand am Fenster seines Audienzzimmers und starrte nachdenklich hinaus. Die Abenddämmerung setzte ein, und überall wurden Fackeln angezündet. Direkt vor ihm, zum Greifen nahe, lag der Platz, auf dem in der wärmeren Jahreszeit die Paraden und Reiterwettkämpfe zu Ehren des Großen Khans stattfanden. Hier brannten in den lauen Sommernächten die Feuer, an denen sich Khubilais Untertanen versammelten, um sich die Geschichten der Ahnen zu erzählen und die schönen alten Lieder zu singen über Liebe und Tod, die Weisheit der Götter und die ruhmreichen Taten der Helden. Tagsüber wärmte die Sonne die fest gestampfte, duftende Erde auf, und der selbst an windstillen Tagen deutlich spürbare Luftzug brachte wohltuende Abkühlung. Nachts stand über dem Platz der klare Sternenhimmel und sandte Grüße von den Göttern ihrer Ahnen. Im Frühjahr und Herbst, wenn der Wind mit den Wolken sein tollkühnes Spiel trieb und sie wie eine wilde Herde über den Himmel jagte, weichte der Regen die Erde auf. Die Pferde versanken dann knöcheltief im Schlamm, der in rotbraunen Krusten in ihrem Fell trocknete. Jeder, der es sich leisten konnte, ließ sich von Dienern über den Platz tragen. Jetzt, kurz vor Einbruch des Winters, war der Platz weitgehend verlassen. Er war ein unwirtlicher, zugiger Ort, den man so schnell wie möglich überquerte, um wieder in die schützende Wärme eines Hauses zu gelangen. Trotzdem war er schön. Zu jeder Zeit im Jahr. Wie die Steppe.

Nicht mehr lange, dachte Dschinkim, dann wird der Platz des Himmels weiß sein, und die Pferde werden knietief in den Schneeverwehungen versinken – zum letzten Mal.

Shangdou mit seinen Plätzen und Gärten, dem Park, in dem die herrlichen Schimmelstuten des Kaisers umherliefen, und den runden, an Jurten erinnernden Häusern aus Stein würde schon bald verlassen sein. Schon bald würden die Karawanen aufbrechen, beladen mit Möbeln, dem Hausrat des kaiserlichen Hofs und all jenen Schriftstücken, die nicht zurückgelassen werden durften. Es war so weit. Die Regierungsgeschäfte sollten nun endgültig nach Taitu verlegt werden. Die Baumaßnahmen waren beendet, nach fast zwanzig Jahren Bauzeit war die »Große Stadt« fertig. Ein Bote hatte ihm an diesem Morgen die Nachricht überreicht. Und obgleich er Khubilais Pläne schon lange kannte, Taitu bereits seit vielen Jahren offizielle Hauptstadt des Reiches war und er jederzeit mit dem endgültigen Umzug gerechnet hatte, hatte ihn diese Neuigkeit doch getroffen. Sie war wie ein Faustschlag ins Gesicht.

Taitu… Dschinkim war bisher noch nicht selbst dort gewesen, aber er kannte die Modelle der Baumeister. Seit Jahren standen sie in Khubilais Gemächern, und oft hatte er sie betrachtet – die quadratischen Häuser, die mit Steinen gepflasterten Plätze und Höfe, die sprießenden Gräsern und feuchter Erde keine Chance mehr ließen, die Gärten, in denen jeder Grashalm, jeder Baum und jede Blume genau dort wuchsen, wo Menschen sie gepflanzt hatten. Taitu war eine durch und durch chinesische Stadt, geplant von chinesischen Baumeistern, gebaut von chinesischen Arbeitern, bewohnt von chinesischen Händlern, Beamten und Edelleuten. Khubilais Wunsch entsprechend war Taitu die Hauptstadt des mongolischen Reiches geworden, gedacht als ein gewaltiges Symbol der Einheit und der Stärke, das durch den Umzug des ganzen kaiserlichen Hofstaats noch bekräftigt werden sollte. Dschinkim befürchtete allerdings, dass Taitu gerade aus diesem Grund dem chinesischen Widerstand Flügel verleihen würde. Es war eine chinesische Stadt. In ihren eigenen Adern jedoch floss kein Tropfen chinesisches Blut. Sie waren Mongolen. Vielleicht hatte Khubilai das im Laufe seiner Regentschaft und durch seine Bestrebungen, alle Völker, alle Kulturen in seiner Person zu vereinen, vergessen. Aber wenn ein Baum seine Wurzeln durchtrennt, stirbt er. Wie sollte Khubilai die Kraft haben, das Reich zusammenzuhalten, wenn er versuchte, Chinese zu sein? In Dschinkims Augen war Taitu eine Ungeheuerlichkeit, eine manifeste, aus Holz und Stein errichtete Beleidigung der Götter ihrer Ahnen. Und er war nicht allein mit dieser Ansicht. Viele der Alten und fast alle Soldaten waren, sofern sie es überhaupt wagten, darüber zu sprechen, seiner Meinung. Dschinkim hatte seinem Bruder vorgeschlagen, lediglich die Verwaltung nach Taitu zu verlegen, alle anderen Regierungsgeschäfte jedoch weiterhin von Shangdou aus zu führen. Oder besser noch wieder nach Karakorum zu gehen, der Stadt ihres Großvaters Dschingis Khan, dem Zentrum der Kraft der Mongolen. Doch Khubilai ließ sich nicht überzeugen, sooft er auch auf ihn einredete. Unerschütterlich und dickköpfig wie ein Maultier hielt er an seinem Plan fest. Und Khubilai war der Khan. Sein Wort galt, im Guten wie im Schlechten. Dschinkim blieb also nichts anderes übrig, als die Götter auf Knien darum zu bitten, ihre schützende Hand auch weiterhin über Khubilai und das mongolische Volk zu halten.

Die Tür in seinem Rücken öffnete und schloss sich so leise, dass man es kaum hören konnte, doch Dschinkim entging es trotzdem nicht. Er konnte selbst im wildesten Sturm das Rascheln einer Maus im Gras hören und vom Geräusch des Windes unterscheiden. Dennoch blieb er mit dem Rücken zur Tür stehen und wartete. Wer war in sein Gemach eingedrungen? Ein Diener? Wohl kaum. Keiner von ihnen hätte es je gewagt, ohne seine Erlaubnis abzuwarten, seine Gemächer zu betreten. War es ein Freund oder Khubilai selbst? Möglich. Doch ein Freund hätte ihn sofort begrüßt, und Khubilai… Sein Bruder war schon seit vielen Jahren kein Jäger mehr. Er hatte es verlernt, sich lautlos zu bewegen. Also blieb nur noch eine Möglichkeit, unerfreulich, aber nicht unerwartet. Es musste ein Feind sein.

Es näherten sich jedoch keine Schritte. Wer auch immer der geheimnisvolle Eindringling sein mochte, er stand regungslos da. Worauf wartete er? Dschinkim spürte, wie sein Herzschlag sich allmählich beschleunigte. Es gab nicht viel, wovor er sich fürchtete. Drachen und Dämonen gehörten dazu, aber selbst diesen entsetzlichen Kreaturen würde er beherzt entgegentreten, wenn das Schicksal ihm keine andere Wahl ließe. Wovor er sich jedoch am meisten fürchtete, waren Bosheit und Heimtücke. So wie gerade jetzt, mit dem Rücken zu einem unsichtbaren, unerkannten Feind zu stehen, der ein Blasrohr mit einem vergifteten Pfeil lud und nur darauf lauerte – reglos, still und geduldig, wie eine Spinne in ihrem Netz –, dass er sich eine Blöße geben und mit einer unbedachten Bewegung seinen Nacken freilegen würde. Um ihn dann, noch bevor er überhaupt die Chance hatte, die Hand zur Gegenwehr zu erheben, mit einem winzigen Dorn, kaum größer als dem Stachel einer Biene, zu töten. Doch die Vorstellung, gemeuchelt zu werden, ohne seinem Gegner ins Auge geblickt zu haben, erfüllte ihn plötzlich mit Zorn.

So nicht, Elender!, dachte er. Wenn du glaubst, du könntest mich einfach ermorden, so hast du dich getäuscht. Ich werde dir zuerst den Bauch aufschlitzen. Und wenn es das Letzte sein sollte, was ich in dieser Welt tue.

Dschinkim spannte seine Muskeln an, unmerklich und lautlos wie ein Tiger. Und dann warf er sich zurück, fing den Sturz mit einer Rolle ab, sprang wieder auf die Füße und hielt dem Feind seinen Dolch an die Kehle.

Doch zu seiner großen Überraschung sah er nicht in das Gesicht eines chinesischen Verräters, wie er angenommen hatte, sondern in die weit aufgerissenen blauen Augen einer Frau. Er spürte ihren heftigen Atem, ihr schwangerer Bauch presste sich gegen seine Hüfte, sodass er deutlich die Bewegungen des ungeborenen Kindes spüren konnte. Es war jene Frau aus dem Norden des Abendlandes, die er und Maffeo mitten in der Steppe gefunden hatten. Dieser unerwartete Anblick irritierte ihn derart, dass er entgegen alle Vernunft seinen Dolch sinken ließ.

»Was willst du hier?«, fragte er.

Die Frau starrte ihn an, als wäre er ein Geist. Sie schien tatsächlich ihre Sprache verloren zu haben und zitterte am ganzen Körper. Trotzdem regte sich ein schrecklicher Verdacht in ihm.

Ein kluger Mann würde niemals einer Frau vertrauen, noch dazu einer schönen Fremden mit Augen in der Farbe des Himmels und Haaren aus gesponnenem Gold, die wie aus dem Nichts erschienen war. War sie etwa geschickt worden, um ihn zu überlisten?

»Was willst du hier?«, wiederholte er seine Frage, diesmal in barscherem Ton. »Was fällt dir ein, dich hinterhältig an mich heranzuschleichen?«

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, berührte er erneut mit der Klinge ihren weißen Hals.

»Es tut… Ich wollte mich nicht anschleichen«, stotterte die Frau. »Ich bin spazieren gegangen und habe mich verlaufen.«

»So, so, verlaufen«, sagte Dschinkim. »Und dabei dringst du ausgerechnet in meine Gemächer ein?«

»Ich sagte doch schon, dass es mir leid tut«, entgegnete sie heftig. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass…«

Sie schluchzte nicht, und sie flehte ihn nicht an. Vermutlich hätte ihn das auch nicht gestört. Aber da war etwas in ihren Augen, das ihn anrührte. Er wusste plötzlich, dass er sie, was auch immer sie getan hatte, nicht töten wollte.

»Du hättest in Maffeos Gemächern bleiben sollen«, sagte Dschinkim und steckte seinen Dolch wieder in den Gürtel.

Von dieser Frau ging keine Gefahr aus. Tränen ließen sich vortäuschen, Worte konnte man erfinden, aber sie hatte Angst, echte, abgrundtiefe Angst. Er konnte es förmlich riechen.

»Du hättest dir viel Ärger ersparen können. Ich lasse dich zurückbringen.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Frau sollte sich niemals ohne Begleitung im Palast bewegen. Wärst du einem Chinesen oder gar Araber in die Hände gefallen, wer weiß, was mit dir geschehen wäre.« Er berührte kurz ihre Wange. »Hör auf meinen Rat, und bleib in Zukunft in deinen Gemächern.«

Dschinkim öffnete die Tür, um zwei Wachen herbeizurufen, welche die Frau wieder zurückbringen konnten. Doch das Wort blieb ihm fast im Halse stecken, denn vor ihm, keine zwei Schritte entfernt, stand Ahmad, der Finanzminister von Khubilai. Für Dschinkim war er, von den Chinesen abgesehen, einer der ärgsten Feinde seines Bruders – neben Senge, dem Unheimlichen, den das Gerede der alten Weiber mit Zauberei und schwarzer Magie in Verbindung brachte.

»Der Friede sei mit dir, edler Dschinkim, Bruder und Thronfolger des großen Khans«, sagte Ahmad, verneigte sich und berührte Brust, Mund und Stirn mit seiner rechten Hand. »Du wünschtest mich zu sprechen?«

Die Begrüßungsformel kam dem Araber leicht von den Lippen. In seiner schon an Dummheit grenzenden Naivität hielt Khubilai viel von Ahmads kaufmännischen Fähigkeiten und vertraute ihm in allen finanziellen Angelegenheiten. Doch Dschinkim ließ sich nicht so leicht durch eine freundliche Fassade und schöne, blumige Worte täuschen. Er war fest davon überzeugt, dass der Finanzminister sein eigenes, undurchsichtiges Spiel spielte und Khubilai dabei nach Strich und Faden betrog. Natürlich hatte er ihm bisher nichts nachweisen können. Der Kerl war schlau und glatt wie eine Schlange und wand sich aus jeder Anschuldigung schnell heraus. Ahmad war ein Meister der arabischen Kunst, Worte zu verdrehen und die Wahrheit in einem anderen, für ihn günstigen Licht erscheinen zu lassen. Aber mit Maffeos Hilfe würde es ihm hoffentlich bald gelingen, eindeutig zu beweisen, welch üblen Geschäften Ahmad hinter dem Rücken des Khans nachging.

»Ja, Ahmad, in der Tat. Die Rückkehr des großen Khans steht kurz bevor. Ich wollte mit dir über die Feierlichkeiten zu seiner Begrüßung sprechen.«

Ahmad verneigte sich leicht. »Und wer ist dieses… dieses Weib?«, fragte er und deutete mit erhobenen Augenbrauen auf Beatrice. »Soll es etwa auch an unserer Besprechung teilnehmen? Oder soll ich später wiederkommen, nachdem du dein Verlangen an ihr gestillt hast?«

»Nein«, sagte Dschinkim und unterdrückte nur mühsam seinen Zorn. Nie hatte er die Geringschätzung verstanden, die viele Araber ihren Frauen entgegenbrachten. Manche von ihnen behandelten sogar ihre Diener besser. Aber diesmal machte es ihn besonders wütend. Er hatte das unbändige Verlangen, der scharfen, gebogenen Nase des Arabers mit seiner Faust ein anderes Aussehen zu verleihen. Und eines Tages würde er das auch tun. Ganz gewiss. Doch nicht heute. »Sie ist Maffeos Gast und hat sich im Palast verirrt.« Dschinkim winkte zwei Soldaten herbei. »Bringt die Frau auf der Stelle zu Maffeos Gemächern zurück.«

Dschinkim sah, dass sich Beatrice zum Dank stumm verneigte, bevor sie den beiden Soldaten folgte. Doch der Ausdruck ihrer Augen, als sie sich verabschiedete, verwirrte ihn erneut.

Sie schien Ahmad ebenfalls nicht zu mögen und ihn warnen zu wollen. Oder bildete er es sich nur ein? Nachdenklich sah er hinter ihr her, als sie mit den Soldaten davonging. Für eine Frau war sie erstaunlich groß. Ihr Gang war aufrecht und stolz. Wie der einer Kriegerin. Nur unter großer Willensanstrengung gelang es Dschinkim, sich von ihrem Anblick abzuwenden.

In den folgenden Tagen verließ Beatrice das Zimmer nicht mehr. Sie traute sich nicht. Einmal war sie mit dem Schrecken davongekommen. Noch mal wollte sie ihr Glück nicht herausfordern. Und wer konnte schon sagen, in welche gefährliche Lage ihre Unwissenheit sie das nächste Mal bringen würde? Die Männer hier schienen aufbrausend und unberechenbar zu sein. Vermutlich würde mancher von ihnen nicht zögern, die Schärfe seines Krummsäbels an ihr zu testen. Abgesehen davon wollte sie es nicht riskieren, diesem Ahmad ein weiteres Mal zu begegnen. Sie glaubte zwar nicht, dass er sie gesehen hatte, als sie ihn und den anderen Mann belauscht hatte, aber man konnte nie wissen. Sein Verhalten bei Dschinkim war irgendwie merkwürdig gewesen. Da war etwas in der Stimme und in den Augen dieses Mannes, das ihr überhaupt nicht gefiel.

Also blieb sie in ihrem Zimmer. Ming brachte ihr zwar regelmäßig das Essen und ihren Arzneitee, kleidete sie an und wusch sie, doch die alte Chinesin behandelte Beatrice wie ein unwissendes, dummes Ding. Sie sagte zwar nichts, aber sie hatte eine Art, ihre Mundwinkel verächtlich herabzuziehen, die Beatrice deutlich ihre Geringschätzung zeigte. Mittlerweile trieb dieser Gesichtsausdruck sie zur Weißglut. Gern hätte sie Ming in den Festen ihrer Überheblichkeit erschüttert, aber ihr fiel nichts ein – kein Spruch von Konfuzius oder Buddha, kein geeignetes Sprichwort, nichts, was zu dieser Situation passen könnte. So schwieg sie und genoss den einzigen Vorteil, den sie zurzeit gegenüber der alten Chinesin hatte – sie war es, die Ming Befehle erteilen konnte. Ob die Alte merkte, dass Beatrice sich insgeheim für diese niederen Gefühle schämte, blieb offen.

Die Stunden zogen sich unerträglich hin, sodass sie ihr vorkamen wie Tage oder Wochen. Sie war ein Mensch des 20. und 21. Jahrhunderts, gewöhnt an die Errungenschaften der Technik, an Medien und Entertainment. Oft hatte sie bedauert, dass ihre Arbeit ihr viel zu wenig Zeit zum Lesen oder fürs Kino ließ. Hier hatte sie zwar die Zeit, allerdings gab es kein Fernsehen, kein Kino, kein Radio, keine Bücher, nicht einmal einen vernünftigen Gesprächspartner. Ihre Langeweile ging so weit, dass sie sich sogar nach ihrem sonst ungeliebten Bügelbrett sehnte, nur um endlich etwas tun zu können. Oft stand sie am Fenster, blickte hinaus und wünschte sich, anstatt des kaiserlichen Palastes in Shangdou die vertrauten Kuppeln und Dächer der Häuser und Moscheen von Buchara vor sich zu sehen. Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, dass sie dort war, in Buchara. Ali kam herein. Der vertraute, warme Geruch von Kräutern umwehte ihn. Er legte ihr seine Hände auf die Schultern und küsste ihren Nacken, flüsterte liebevolle Worte in ihr Ohr… Mehr als einmal musste sie sich die Tränen von den Wangen wischen. Es war immer noch schwer für sie zu begreifen, dass Ali al-Hussein tot war – seit langer, seit sehr langer Zeit. Er hatte nicht einmal erfahren, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Die Wehen setzten wieder ein, aber nicht so oft und so heftig wie im Krankenhaus. Außerdem hatte sie keine Schmerzen dabei; eigentlich spürte Beatrice nur, dass ihr Bauch in regelmäßigen Abständen hart wie ein Brett wurde. Dennoch war es kein gutes Zeichen. Sie befand sich im Mittelalter. Es gab hier mehr als eine Myriade gefährlicher Bakterien und Mikroben, die überall herumschwirrten – in der Luft, im Wasser, auf jedem Gegenstand und jedem Stoff, den sie berührte. Hier, in Shangdou, irgendwann im 13. Jahrhundert, waren Pest und Lepra mehr als nur ein paar Seiten in einem Lehrbuch, das man zum Staatsexamen auswendig lernte. Diese Seuchen waren eine reale Bedrohung. Und wer konnte schon sagen, welche schrecklichen, von der modernen Medizin längst ausgerotteten und vergessenen Krankheiten es hier außerdem noch gab. Eine grässliche Vorstellung ohne die Hilfe von schützenden Desinfektionsmitteln oder heilenden Antibiotika. In dieser Umgebung waren die Überlebenschancen eines zu früh geborenen Kindes gleich null.

Beatrice lief im Zimmer auf und ab, gefangen in ihrer eigenen, düsteren Fantasie. Immer entsetzlichere Bilder tauchten aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins auf. Augenrollende, schwertschwingende Mongolen fielen über sie her, schlitzten ihr den Bauch auf oder ließen sie von Pferdehufen zertrampeln, nur weil sie ihre Schale Reis nicht leer gegessen oder ein anderes, ähnlich belangloses Vergehen begangen hatte. Diese Bilder ängstigten sie, nahmen ihr den Atem und beschleunigten ihren Herzschlag.

Du bildest dir das alles nur ein, ermahnte sie sich immer wieder selbst. Du verarbeitest auf diese Weise nur ein Kindheitstrauma oder deine Beziehung zu Vater und Mutter oder wie auch immer der gute alte Sigmund Freud das erklären würde.

Aber konnte sie es so genau wissen?

Dann, als Beatrice schon fast am Verzweifeln war und befürchtete, sie würde wieder in eine tiefe Depression versinken so wie damals in Buchara, kam Maffeo endlich. Diesmal war er in Begleitung von Li Mu Bai.

Der chinesische Arzt fühlte ihr wieder den Puls und stach ihr dann Akupunkturnadeln ins Handgelenk. Es waren nur zwei, aber die hatten es in sich. Die beiden Nadeln waren nicht mit denen zu vergleichen, die ein Pfleger, der neben seinem Job im Krankenhaus eine Ausbildung zum Heilpraktiker machte, ihnen auf der Notaufnahme gezeigt hatte – hauchdünne silberne Nadeln, die sich schon fast beim Hinsehen verbogen. Jene Nadeln, die Li Mu Bai benutzte, waren aus Gold, waren dick und waren stumpf. Obwohl Li Mu Bai sie vor ihren Augen noch einmal mit einem Schleifstein bearbeitete, hatte Beatrice den Eindruck, er rammte ihr Nägel in das Handgelenk. Zudem waren sie gewiss nicht steril, da sie lose in einer kleinen, mit Seide ausgeschlagenen Schatulle lagen. Auch von Desinfektion oder wenigstens Säuberung der Haut schien man hier nichts zu wissen. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien.

Dem schmerzhaften Einstich folgte ein heißer, sengender Schmerz, einem Elektroschock nicht unähnlich, der ihren Arm hochschnellen ließ wie ein Peitschenhieb. Im ersten Augenblick glaubte sie, Li Mu Bai hätte aus Unkenntnis der Anatomie einen Nerv getroffen. Aber dann merkte Beatrice, dass dies ein anderes Gefühl war, ein Gefühl, das sie nur aus Mangel an passenden Worten im ersten Moment als Schmerz bezeichnet hatte. Es ließ kurze Zeit später nach und wich einem Kribbeln und einer Wärme, die sich von der Einstichstelle ausgehend im ganzen Körper ausbreitete, unabhängig von jedem Nervenstrang, der in den modernen Anatomieatlanten beschrieben wurde. Die Nadeln in ihrem Handgelenk zitterten und bebten wie zwei Antennen oder Stimmgabeln. Als sie sich schließlich beruhigt hatten, geschah etwas Seltsames. Beatrice spürte, dass sich die gesamte Muskulatur ihres Unterleibs entspannte – der Beckenboden, die Bauchdecke, sogar die Muskulatur der Gebärmutter. Ungläubig legte sie ihre freie Hand auf den Bauch. Tatsächlich, die Bauchdecke war wieder weich. Doch bevor sie Li Mu Bai fragen konnte, ob er diese Wirkung beabsichtigt hatte, zog er die Nadeln heraus, verbeugte sich und ging. Sein Lächeln, sanft, kryptisch und allwissend, als könnte er ihre Gedanken lesen und wüsste genau, welche Fragen ihr auf der Seele lagen, brachte Beatrice auf die Palme. Wenn er so viel wusste oder erahnte, warum verschwand er dann einfach, ohne ihr auch nur ein Wort zu sagen?

»Wie geht es dir?«, fragte Maffeo und half Beatrice beim Aufstehen.

»Gut, danke der Nachfrage«, entgegnete Beatrice und gab sich keine Mühe, höflich oder gar freundlich zu sein. Sie war jetzt in der richtigen Stimmung, sich zu streiten. »Ich habe mich wirklich glänzend amüsiert in den vergangenen Tagen. Die Decke dieses Zimmers ist ebenso anregend wie die langen ausgiebigen Gespräche mit Ming. Ich glaube, bisher haben wir etwa dreißig Worte miteinander gewechselt.«

Beatrice merkte wohl, dass Maffeo vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht schoss. Aber sollte er doch ein schlechtes Gewissen haben. Er hatte sie schließlich die ganze Zeit allein gelassen.

»Verzeih, ich hatte jedoch leider keine Gelegenheit…«

»Keine Gelegenheit?«, rief Beatrice aus. »Ich saß hier fest. Allein. Als ich freundlich sein wollte und Ming nach ihrem Namen fragte, sprang sie mir fast ins Gesicht. Ich weiß, Li Mu Bai hat mir Spaziergänge empfohlen. Aber kannst du mir mal sagen, wie ich spazieren gehen soll? Ich traue mich ja noch nicht einmal vor die Zimmertür, weil ich Angst habe. Ich habe Angst, dass ich mich verlaufen könnte oder jemanden hier tödlich beleidige, weil ich gegen irgendwelche obskuren Bräuche verstoßen habe.«

»Es tut mir leid, Beatrice. Wirklich. Aber…« Maffeo seufzte und hob hilflos die Schultern. »Ich hatte viel zu tun. Dschinkim bat mich, einige Dinge für ihn zu erledigen, die keinen Aufschub duldeten.«

Beatrice lehnte sich gegen den Schrank mit den vielen Schubladen und holte tief Luft. Allmählich begann ihre Wut zu verrauchen.

»Es tut mir auch leid«, sagte sie und strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich habe wahrlich kein Recht, so mit dir zu reden. Ich bin dein Gast. Dafür sollte ich dir dankbar sein. Bin ich ja auch. Wenn du mich nicht bei dir aufgenommen hättest, wäre ich vermutlich tot – in der Steppe erfroren oder getötet von einem Mongolen, der mich für die Inkarnation des Bösen hält.«

»Du meinst Dschinkim?« Maffeo lächelte. »Vor Dschinkim brauchst du dich nicht zu fürchten. Er ist ein kluger, gottesfürchtiger Mann. Niemals würde er einen Menschen ohne Not töten.«

Beatrice lachte auf. »Tatsächlich? In der kurzen Zeit, die ich ihm gegenüberstand, habe ich einen ganz anderen Eindruck von ihm gewonnen.«

Maffeo senkte verlegen den Blick. »Ich habe von diesem unerfreulichen Zwischenfall gehört. Dschinkim hat es mir erzählt. Trotzdem bitte ich dich um Nachsicht. Der große Khan wird morgen in Shangdou zurückerwartet. Die bevorstehende Ankunft seines Bruders macht Dschinkim Fremden gegenüber besonders misstrauisch. Er befürchtet einen Anschlag auf ihn.« Er seufzte. Von einem Augenblick zum nächsten wirkte er alt und müde. Dann fuhr er fort: »Gerne würde ich ihn als übervorsichtig bezeichnen, aber leider hat er recht. Der Mächtige versammelt nicht nur gehorsame Untertanen, sondern auch Widersacher um sich. Und Khubilai Khan ist mehr als nur mächtig, er ist der Beherrscher der Welt. Seine Feinde sind zahlreich. Und viele von ihnen verbergen ihr wahres Gesicht hinter der Maske der gehorsamen Untertanen.«

Maffeo nahm auf einem der beiden Stühle Platz und deutete auf den anderen.

»Setz dich, Beatrice. Wenn der Khan morgen hier in Shangdou eintrifft, will er alle Angehörigen des Hofs um sich versammelt sehen – und dazu gehörst jetzt auch du. Deshalb muss ich mit dir reden. Das Protokoll für die Ankunft und die Audienz beim großen Khan ist sehr streng und überaus kompliziert. Um Missverständnisse und Unannehmlichkeiten zu vermeiden, muss es genau eingehalten werden. Aber ich werde dir alles erklären, was du wissen musst, um den Unmut des Khans und die Aufmerksamkeit seiner Wachen nicht zu erregen.«

Beatrice seufzte. Das konnte ja heiter werden. Andererseits war es eine Abwechslung vom ansonsten mehr als eintönigen Alltag. Gehorsam setzte sie sich neben Maffeo und hörte aufmerksam zu.