18
Das war am Mittwoch. Am Donnerstag saß Cardinal am Frühstückstisch und trank seine zweite Tasse Kaffee, als die Lokalnachrichten im Radio kamen. Die erste Meldung war der Mord an Winter Cates.
»Ist das nicht die neue Ärztin deines Vaters?«, sagte Catherine.
Cardinal lehnte sich über den Tisch und drehte das Radio lauter. Der Nachrichtensprecher hatte nur spärliche Informationen. Dr. Cates, zweiunddreißig, war irgendwann Montagnacht in einem Waldstück im Norden der Stadt vergewaltigt und anschließend erdrosselt worden. Die Polizei hatte noch keine Verdächtigen.
»Mein Gott«, sagte Cardinal. »Ich kann’s nicht fassen. Wir waren am Montag bei ihr.«
»Das ist ja schrecklich«, sagte Catherine.
»Ich bin ihr nur das eine Mal begegnet, aber sie war mir auf Anhieb sympathisch. Und sie schien eine erstklassige Ärztin zu sein.«
Cardinal ging zum Telefon und wählte Delormes Privatnummer. Als sich der Anrufbeantworter einschaltete, legte er wieder auf.
Auf der Fahrt in die Stadt dachte Cardinal an die junge Ärztin, die seinen Vater so gut zu nehmen verstand und so schnell dafür gesorgt hatte, dass er behandelt wurde. Sie schien so klug, so entschlossen zu helfen.
Es war noch früh, als Cardinal ins Büro kam, doch Delorme war schon da.
»Ich hab gerade das mit Winter Cates im Radio gehört«, sagte Cardinal. »Ich kann es noch immer nicht fassen. Sie wurde auch vergewaltigt?«
»Es gab Anzeichen von sexueller Gewalt, aber, nein, der Pathologe ist ziemlich sicher, dass sie nicht vergewaltigt wurde. Umso sicherer ist es allerdings, dass sie jemand umgebracht hat«, sagte Delorme. »Und ich hab nicht den blassesten Schimmer, wer.«
»Ich dachte, Sie hätten sich auf Corporal Simmons konzenriert. Wie hat Musgrave das übrigens aufgenommen?«
»Musgrave war großartig. Hat mir sogar gesagt, wo ich ihn finde. Hat mir auch gesagt, Simmons sei nicht unser Mann, was sich als richtig erwiesen hat.«
»Er hat ein Alibi? Welches?«
Delorme zuckte zurück. »Ich möchte nicht darüber sprechen – ich hab’s versprochen –, aber glauben Sie mir, es lag nicht in seinem Interesse, mir davon zu erzählen.«
Delorme brachte Cardinal auf den neuesten Stand. Sie legte besonderen Nachdruck auf Dr. Cates’ Praxis. »Die Sprechstundenhilfe ist sicher, dass die Papierauflage auf der Untersuchungsliege erst nach Praxisschluss am Montag benutzt worden sein muss. Natürlich warten wir auf die DNA-Ergebnisse, aber das Blut, das wir daran gefunden haben, ist AB negativ, also selten.« Sie schloss ihren Bericht, indem sie aussprach, was Cardinal dachte. »Wissen Sie, zwei Leichen im Wald innerhalb von drei Tagen – das schreit nach einer Verbindung.«
»Sieht allerdings danach aus. Aber wo ist die Verbindung? Am besten sage ich Ihnen erst mal, wo ich mit Matlock stehe, und vielleicht fällt uns dann was ein. Er heißt gar nicht Matlock, so viel schon mal vorweg. Und er war auch kein Steuerberater.«
Cardinal wurde vom Telefon unterbrochen.
»Cardinal, Kriminalkommissariat.«
»Ed Beacom, Beacom Security. Wir werden wohl wieder zusammenarbeiten, wie’s aussieht.«
»Ist ja großartig. Wovon reden Sie, Ed?« Ed Beacom war ein ehemaliger Cop, der es nie weit gebracht hätte. Es lag nicht an Unvermögen; Beacom hatte einfach einen Groll gegen die ganze Welt, und das machte es schwierig, mit ihm zu arbeiten.
»Der Mantis-Fundraiser?«
Cardinal hielt die Hand über die Sprechmuschel. »Hat Chouinard Ihnen von diesem Fundraiser erzählt, für den wir den Polizeischutz machen sollen?«
»Diese Sache bei den Konservativen«, sagte Delorme. »Ja, hat er mir erzählt. Genau das, worauf ich mitten in einem Mordfall ganz versessen bin.«
»Hören Sie, Ed«, sagte Cardinal ins Telefon. »Bei uns ist schwer was los im Moment. Kann ich Sie zurückrufen?«
»Ja, sicher. Ich weiß, wie wichtig ihr Jungs seid. Würde nicht wagen, die Mühlen der Gerechtigkeit aufzuhalten.«
»Und geben Sie mir Ihre Nummer?«
Beacom gab sie ihm und legte auf.
»Wo waren wir stehen geblieben?«
»Sie sagten gerade, dass Matlock nicht Matlock ist.«
Cardinal berichtete Delorme über Squiers Täuschungsmanöver, über Shackleys wahren Background und über seinen eigenen New-York-Besuch. Delorme hörte ihm gespannt zu, ihre braunen Augen unverwandt an sein Gesicht geheftet.
»Quebec? 1970?«, sagte Delorme, als er fertig war. »Das ist ja Steinzeit. Glauben Sie wirklich, das bringt uns weiter?«
»Geben Sie mir andere Anhaltspunkte, und ich gehe ihnen auf der Stelle nach.«
»Und dieser Witzbold von Squier«, sagte Delorme. »Wieso hat der uns in Bezug auf Shackleys Identität belogen? Wieso will der CSIS ein Riesengeheimnis daraus machen? Wieso versuchen die, Sie absichtlich in die Irre zu führen?«
»Ganz offensichtlich will der CSIS, dass der Fall begraben bleibt.«
»Ja, aber warum?«
»Gute Frage. Ich schlage vor, wir stellen sie Calvin Squier.«
Als sie am Wachtisch vorbeikamen, brüllte Mary Flower Cardinal hinterher: »Kommen Sie, Detective, ich muss mit Ihnen reden.«
Cardinal winkte ab. »Bin gleich zurück.«
Er und Delorme steuerten den Zellentrakt an.
»Ich glaube, wir sollten uns erst mal darauf konzentrieren, woher der CSIS wusste, dass er Miles Shackley am Flughafen finden konnte«, sagte Cardinal. »Als Nächstes, wieso Shackley Code Rot war. Es könnte etwas ganz und gar Einfaches sein, was eine Verbindung mit Algonquin Bay ausschließt, oder es könnte uns Anhaltspunkte geben, die uns bei Dr. Cates voranbringen.«
Sie gingen an der rosa Zelle vorbei, in der ein Betrunkener ausnüchterte, und hatten den Schimmelgeruch in der Nase, den eine kürzliche Überflutung der Zelle hinterlassen hatte. Dahinter kamen die Zellen, in denen Paul Bressard und Thierry Ferand gesessen hatten, bis sie Kaution stellten, und schließlich standen sie vor der letzten Zelle rechts, in der Calvin Squier vom Canadian Security Intelligence Service untergebracht worden war. Sie war leer.
»Muss mit nem Anwalt in einem Vernehmungszimmer sein«, sagte Cardinal. »Gehen wir zurück.«
Sie gingen zum Wachtisch.
»Was ist mit Squier?«, fragte Cardinal Mary Flower. »Er ist nicht in seiner Zelle.«
»Das wollte ich Ihnen ja sagen«, erwiderte Flower. »Calvin Squier ist weg. Calvin Squier hat sich aus dem Staub gemacht. Calvin Squier ist frei wie ein Vogel. Der Staatsanwalt hat ihn gestern Abend, kaum dass Sie gegangen waren, auf freien Fuß gesetzt.«
»Sagen Sie nur, Sie hätten da nicht gegenüber dem Staatsanwalt klein beigegeben«, sagte Cardinal zu Chouinard. »Sagen Sie nur, Sie hätten sich nicht beim ersten Winseln des CSIS unter Ihrem Schreibtisch verkrochen.«
»Kommen Sie mir nicht so, Cardinal. Die hatten den Chef vorgeschickt, die Staatsanwaltschaft, die haben nichts ausgelassen. Das lag nicht in meiner Hand, auch wenn ich nicht allzu lautstark protestiert habe. Sich an die Vorschriften zu halten macht einen noch lange nicht zum Schlappschwanz. Und sie zu verletzen, macht Sie noch lange nicht zum Helden.« Sie waren im Büro des Detective Sergeant. Hinter seinem Schreibtisch hatte er einen großen Kalender von den Montreal Canadiens aufgehängt.
»Vielleicht reden Sie mal mit Calvin Squier ein paar Takte über die Vorschriften«, sagte Cardinal. »Calvin Squier hat eine Morduntersuchung torpediert, indem er so getan hat, als ob er mit den nächsten Angehörigen gesprochen und weitere Ermittlungen zur Person angestellt hätte, während er in Wahrheit nichts dergleichen getan hat. Calvin Squier hat eine von vorn bis hinten erstunkene Geschichte aufgetischt, die sich um die CADS-Basis und amerikanische Terroristen rankte. Und Calvin Squier hat es außerdem versäumt, eine Information von zentraler Bedeutung sowohl an uns als auch an die RCMP weiterzugeben, nämlich die wahre Identität des Opfers. Wenn das keine Behinderung der Rechtspflege ist!«
»Der CSIS ist ein Geheimdienst. Das wissen Sie so gut wie ich. Als solcher unterliegt er nicht denselben Vorschriften wie alle anderen.«
»Zumindest nicht in Algonquin Bay, wie man sieht.«
»Sie haben einen Agenten einer Bundesbehörde verhaftet, ohne mich oder den Polizeichef oder die Staatsanwaltschaft zu fragen. Reginald Rose ist stinksauer, und wenn ich Sie wäre, würde ich auch dem Chief ne Weile aus dem Weg gehen. Sie können von Glück sagen, wenn Sie nicht selber ein paar Beschwerden an den Hals kriegen. Ich sag Ihnen, Rose hat getobt. Und dazu hatte er allen Grund.«
»Das gibt Squier noch lange nicht das Recht, Ermittler irrezuführen. Wenn er damit durchgekommen wäre, würden wir immer noch versuchen rauszubekommen, wer Howard Matlock getötet hat, der quicklebendig ist, statt Miles Shackley, der ausgesprochen tot ist.«
»Meinetwegen. Squier hat Beweise zurückgehalten. Das ist kein Delikt, für das Sie einen Beamten ohne Haftbefehl von der Straße holen. Wieso sind Sie nicht erst zur Staatsanwaltschaft?«
»Weil es schon spät war. Calvin Squier hielt Informationen zurück, die für meine Ermittlungen relevant waren.«
»Das macht ihn zu einem Zeugen, nicht zu einem Kriminellen. Cardinal, Sie und ich haben schon an einer Menge Fälle zusammengearbeitet. Ich bin, ehrlich gesagt, erstaunt.«
»Dito.«
»Ach ja?« Chouinard stand auf, und einen Moment lang dachte Cardinal, er würde zuschlagen; sein Vorgänger hätte nicht gezögert. Doch Chouinard umklammerte lediglich die Kante seines Schreibtischs und atmete ein paarmal tief durch.
»Wen haben die wohl auf Sie angesetzt?«, sagte Cardinal. »Ich nehme mal an, jemanden mit ziemlichem Gewicht.«
»Hier geht es nicht um Personen, hier geht es darum, wer das Recht auf seiner Seite hat.«
»Wen haben die auf Sie angesetzt?«
»Sie haben Ihre Befugnis überschritten, indem Sie einen CSIS-Agenten verhaftet haben, und das Büro in Ottawa hielt es für angezeigt, mich darauf hinzuweisen.«
»Ottawa. Nun ja, das sollte Ihnen zu denken geben. Squier arbeitet von Toronto aus. Und somit stellt sich die Frage, was Ottawa zu verbergen hat.«
»Sie bestehen nur auf ihrer Zuständigkeit in Fällen, die mit Terrorismus zu tun haben. Das ist nicht nur ihr Recht, das ist ihre Pflicht. Sie scheinen die CADS-Basis zu vergessen.«
»Ich sagte Ihnen bereits, dass der Sicherheitsdienst von CADS nichts von irgendeinem Unbefugten auf ihrem Gelände weiß. Das ist eine reine Erfindung von Squier. Und ich glaube auch nicht, dass Shackley mit irgendwelchen amerikanischen Gruppierungen in Verbindung stand. Wenn dieser Fall in irgendeiner Weise mit terroristischen Aktivitäten zu tun hat, dann haben sie vor über dreißig Jahren in Quebec stattgefunden. Unsere Pflicht, Mörder zu schnappen, dürfte demgegenüber ja wohl den Vorrang haben.« Cardinal machte die Tür auf. »Wenn ich mich beeile, kann ich ihn vielleicht gerade noch wieder einfangen, bevor er die Stadt verlässt.«
»Daran dürfen Sie nicht einmal denken, Cardinal! Wenn Sie das tun, kriegen Sie es mit mir zu tun, dass es kracht! Schon mal was von Freiheitsberaubung gehört?«
Cardinal konnte die Stimme des Detective Sergeant bis zum Erdgeschoss hinunter hören.
In Wahrheit hatte er nicht die Absicht, Squier noch einmal zu jagen. Er fuhr zum nächstbesten Country Style und besorgte sich einen Kaffee, setzte sich dann ins Auto und versuchte, während er ihn schluckweise trank, sich zu beruhigen. Der Regen der letzten Nacht hatte alles, worauf er fiel, mit einer neuen Eisschicht überzogen. Alle Wagen auf dem Parkplatz sahen aus wie laminiert, mit Ausnahme der Stellen, wo Schaber ein kleines Guckloch freigekratzt hatten.
Ein Mann mit riesigem Brustkorb und keinerlei Haar auf dem Kopf stieg aus einem allradangetriebenen Auto und steuerte den Eingang zum Country Style an. Für einen Moment dachte Cardinal, es wäre Kiki B., und alle seine Reflexe gingen auf Alarmstufe Rot. Doch der Mann drehte sich, als er die Tür aufmachte, ein wenig zur Seite, und Cardinal sah, dass es nicht Kiki war. Er versuchte, seine Angst ebenso zu vergessen wie seine Wut auf Chouinard und sich stattdessen auf die Dinge zu konzentrieren, die als Nächstes anstanden.
Delorme schrieb an ihrem Bericht über Craig Simmons. Das Problem war, ihn so zu formulieren, dass der Corporal vollständig entlastet war, ohne die sexuelle Geschichte erwähnen zu müssen.
»Buh!«
»Sehr witzig, Szelagy! Irgendwann machen Sie das mal, und jemand erschießt Sie.«
»Sie wirkten so ernst, dass ich nicht widerstehen konnte.« Szelagy hängte sein Jackett über seine Stuhllehne und ließ sich schwer auf den Sitz fallen. Delorme mochte Szelagy, aber manchmal wünschte sie, er hätte seinen Schreibtisch in einem anderen Raum.
»Wollte Ihnen nur sagen«, sagte er, »dass ich bei Dr. Cates’ Nachbarn spitzenmäßig vorankomme. Ich schwör Ihnen, in dem Häuserblock ist jeder entweder in Ferien oder auf Geschäftsreise. Ziemlich exklusive Wohngegend, würde ich sagen. Der Hausverwalter sagt, die Hütte gehört Paul Laroche.«
Delorme drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zu ihm um. »Wirklich? Paul Laroche?«
»Klar doch. Wieso ›wirklich‹?«
»Na ja, Laroche ist ein ziemlich großer Fisch – zumindest unter den Frankophonen. Hat schon jemand mit ihm geredet?«
»Meinen Sie, wir sollten? Immerhin wohnt er nicht selber da.«
Delorme wählte Cardinals Handynummer. Als er sich meldete, fragte sie: »Ergehen Sie sich immer noch in Selbstmitleid?«
»Ja, eigentlich schon.«
»Also, wie wär’s, wenn wir mal bei Paul Laroche vorbeischauen würden? Ihm gehört das Haus, in dem Winter Cates gewohnt hat.«
»Deshalb muss er sie nicht gekannt haben.«
»Das wissen wir erst, wenn wir ihn fragen.«
»Sie scheinen zu vergessen – ich arbeite nicht am Fall Cates!«
»Nein, aber Sie machen Polizeischutz für Laroches Fundraiser. Kann nicht schaden, mit dem Mann zu plaudern.«
Sie trafen sich vor dem Firmensitz von Laroche Real Estate, einem sehr schön restaurierten edwardianischen Haus auf der MacIntosh mit kleinen Sprossenfenstern und einer L-förmigen Veranda.
Eine junge Frau wie aus einer Hochglanzbroschüre geleitete sie zur Mantis-Wahlzentrale ein paar Häuser weiter, einem umfunktionierten Ladenlokal, das jahrelang leer gestanden hatte. Drinnen wimmelte es von alten Metalltischen und Telefonapparaten. Viele davon waren mit Hausfrauen im mittleren Alter besetzt, doch daneben gab es auch noch einen Trupp junge Männer in Hemdsärmeln. Einer davon, ein Junge kaum über achtzehn, ging Laroche holen. So jung, dachte Cardinal, und schon so konservativ.
»Detective Cardinal«, sagte Laroche, als er herauskam. »Wie nett, Sie wiederzusehen.« Er reichte seinem pickelgesichtigen Assistenten einen Stapel Papiere und sagte: »Die sind gut.«
Cardinal stellte Delorme vor.
»Die berüchtigte Detective Delorme«, sagte Laroche mit einem Lächeln. »Ich muss aufpassen, was ich sage.«
Er führte sie nach hinten zu einer hässlichen kleinen Kabine mit billiger Kieferverkleidung und Metallregalen voller Videobänder. An einer Wand prangte ein Poster mit dem lächelnden Premier Mantis vor der Flagge von Ontario. Auf der Fensterbank lief in einem Fernseher ein Video, auf dem Mantis vor der Queen’s-Park-Kulisse mit Reportern scherzte; der Ton war abgestellt. Auf einem Schnappschuss im Bücherregal posierten Laroche und Mantis in Jagdkleidung grinsend inmitten strahlenden Herbstlaubs.
Die einzigen Sitzgelegenheiten bestanden aus billigen Drehstühlen vor einem Schreibtisch mit drei Computern und ebenso vielen Telefonapparaten.
»Nehmen Sie Platz«, sagte Laroche. »Vermutlich sind Sie solchen Luxus nicht gewöhnt.«
»Ich fühle mich ganz zu Hause«, sagte Cardinal.
»Ich nehme an, Sie haben sich schon mit Ed Beacom zusammengesetzt. Haben Sie die Sicherheitsvorkehrungen schon ausgearbeitet?«
»Wir werden uns bald mit Ed in Verbindung setzen«, sagte Cardinal. »Deswegen sind wir eigentlich nicht hier.«
»Ach so?«
Cardinal sah Delorme an: Es ist Ihr Fall.
»Mr. Laroche«, sagte Delorme. »Haben Sie Winter Cates gekannt?«
»Die junge Frau, die ermordet wurde? Ich vermute, Sie fragen mich, weil sie in einem meiner Häuser gewohnt hat.«
»Haben Sie sie gekannt?«
»Ich bin ihr einmal begegnet. Das war rein zufällig, am Twickenham, an dem Tag, als sie einzog. Reizende junge Frau. Gute Ärztin obendrein, hab ich mir sagen lassen. Ein schrecklicher Verlust.«
»Als Sie ihr begegnet sind, war da irgendetwas mit ihr, das Anlass zur Sorge gegeben hätte?«
»Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.«
»Vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches mit ihrem Mietvertrag. Oder vielleicht war jemand bei ihr …«
»Nur ein paar Möbelpacker, soviel ich weiß.«
»Und Sie haben sie nie wiedergesehen?«
»Mir gehören eine Menge Häuser. Ich verwalte sie nicht selber.«
»Ich weiß«, sagte Delorme. »Ich war mal eine Ihrer Mieterinnen.«
»Tatsächlich?«, sagte Laroche. »In welchem Gebäude?«
»Im Balmoral, drüben auf der MacPherson. Allerdings nicht lange.«
»Nun ja, tut mir leid, dass wir Sie nicht halten konnten.«
»Zu teuer, die Stadt zahlt mir nicht genug.«
Laroche lachte. Er sagte etwas auf Französisch, das Cardinal nicht verstand, und Delorme erwiderte etwas. Cardinal spürte, dass sie Laroche attraktiv fand, obwohl er mindestens zwanzig Jahre älter sein musste als sie. Vielleicht war es das sonnengebräunte gute Aussehen, die grauen Schläfen. Vielleicht war es auch die Selbstsicherheit, die er wie ein teures Aftershave verströmte.
»Ich bin froh, dass Sie vorbeigekommen sind«, sagte Laroche. »Ich wollte schon R. J. anrufen und eine Idee bei ihm austesten, die mir in den Sinn kam. Das ist das erste Mal, dass einer meiner Mieter ermordet wird, und ich muss sagen, dass mir das kein bisschen gefällt. Ich hab mich gefragt, ob eine Belohnung vielleicht von Nutzen sein könnte. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er und legte Delorme leicht die Hand auf den Ärmel. »Ich will mich unter gar keinen Umständen aufdrängen, wo ich nicht erwünscht bin. Ich weiß nur, dass Belohnungen schon mal helfen können, und falls das in diesem Fall zuträfe, wäre ich bereit, zwanzigtausend oder so auszusetzen.«
Delorme sah Cardinal an. Cardinal zuckte die Achseln; es lag bei ihr.
»Das ist sehr großzügig von Ihnen«, sagte Delorme. »Aber dafür ist es noch ein bisschen zu früh. Wie kommen Sie darauf, dass wir den Mörder nicht ohne eine Belohnung schnappen?«
»Ich zweifle keinesfalls an Ihrer Kompetenz, Detective. Wer könnte das wagen – nach Bürgermeister Wells, ganz zu schweigen vom Fall Windigo? Es ist nur, dass Dr. Cates eine überaus vielversprechende junge Frau war.«
»Und sie war Ihre Mieterin.«
»Es wäre selbstverständlich ganz und gar anonym. Aber wie gesagt, ich möchte mich nicht einmischen, falls Sie es nicht für hilfreich halten.«
Delorme warf Cardinal einen Blick zu und wandte sich wieder an Laroche. »Ich habe das Gefühl, dass es noch zu früh dafür ist. Wir haben es hier nicht mit einem Fall zu tun, bei dem wir eine Gruppe von Leuten verdächtigen. Wenn es um eine Gang oder um Drogen oder so etwas ginge, würde ich sagen, wir versuchen’s mal. Wenn Sie einen dazu bringen, gegen die anderen auszusagen, haben Sie Ihren Fall schnell gelöst. Aber wir haben es mit einem Einzeltäter zu tun. Daher glaube ich nicht, dass es viel bringt – es sei denn, Sie würden die Belohnung dem Mörder anbieten, dafür, dass er sich selber stellt.«
Laroche lächelte. »Nicht ganz, woran ich gedacht hatte, Detective. Muss Ihnen in Ihrem Beruf gut zu Pass kommen, diese Art von Humor.«
Delorme zuckte die Schultern. »Sie haben mich um meine Meinung gebeten«, sagte sie.
»Na, jedenfalls, geben Sie mir Bescheid, wenn Sie es sich anders überlegen«, sagte Laroche. »Das Angebot steht.«
»Finden Sie es seltsam, dass er eine Belohnung aussetzen will?«, fragte Cardinal, als sie draußen waren.
»Nicht unbedingt. Es passt zu ihm. Unter den Frankophonen spielt er eine wichtige Rolle – sehr aktiv in der Kirche, bei gemeinnützigen Organisationen und so weiter. Was mir an ihm imponiert, ist, dass er, egal, was er tut, es nie an die große Glocke hängt.«
»Sie finden ihn einfach nur sexy«, sagte Cardinal.
»Sie haben keine Ahnung, was ich finde«, sagte Delorme. Doch Cardinal registrierte, dass sie es nicht bestritt.
Zurück im Präsidium, ging Cardinal sofort in die Asservatenkammer, wo er sich die Kiste mit Matlock-Shackleys persönlicher Habe aushändigen ließ, die aus der Hütte des Loon Lodge stammte. Er nahm sie mit zu seinem Schreibtisch, wo er nacheinander die einzelnen Gegenstände in beliebiger Reihenfolge herausnahm. Er wusste nicht so recht, wonach er eigentlich suchte; er dachte nur, dass jetzt, wo der Tote sich als jemand anders erwiesen hatte, die Dinge, die er zurückgelassen hatte, vielleicht auch irgendwie anders wirkten, vielleicht in eine neue Richtung verwiesen.
Cardinal zog das Rasierzeug heraus, eine feste Silberschatulle, die man zu einem Spiegel aufklappen konnte. Ein kleiner Metallgriff ließ sich jeweils zu einem Rasierkopf oder einer Zahnbürste aufschrauben. Das Ding bestach durch Präzision, wie die Teile eines Gewehrs. Er hätte nicht sagen können, ob das Etui teuer war oder nicht; er hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Das Hersteller-Logo war in die Schatulle eingraviert, über dem Schriftzug: Made in France. Natürlich hatte das nicht unbedingt zu bedeuten, dass Shackley es auch dort gekauft hatte.
Die Frage des Preises brachte ihn darauf, sich die Kleider einmal genauer anzusehen. Er zog einen Brooks-Brothers-Blazer heraus, der an den Ellbogen glänzte und an den Ärmelenden fadenscheinig war. Die beiden Hemden trugen ebenfalls gute Markenetiketten und waren extrem abgetragen, als ob Shackley sich seit zwanzig Jahren nichts Neues mehr gekauft hätte. Cardinal zog eine Socke mit einem Loch an der Ferse heraus. Offensichtlich knauserte die CIA bei ihrer Altersversorgung.
Erneut wünschte er sich, sie würden den verdammten Wagen finden. Er konnte entscheidende Hinweise bergen. Tatsächlich war es durchaus denkbar, dass Shackley in diesem Auto ermordet wurde. Wieso hätte der Mörder sich sonst die Mühe gemacht, ihn zu verstecken oder zu entsorgen? Roter Escort? Avis-Aufkleber? Wieso war er immer noch nicht aufgetaucht?
Er zog das Flugticket des Toten aus der Kiste: Rückflugschein New York–Toronto, American Airlines, fünfhundert Dollar. Shackley hatte den Flug vor einem Monat gebucht, also lange im Voraus; wieso hatte er dann so viel für Economy Class bezahlt?
Cardinal sah sich die Codes genauer an. Ach so, ja, keine Beschränkungen. Shackley wollte sich die Möglichkeit offen lassen, das Datum seines Rückflugs zu ändern. Was vermutlich besagte, dass er sich nicht sicher war, wie lange er bleiben würde. Das, woran er arbeitete, hatte für ihn einen ungewissen Ausgang.
Und wieso hatte er mit Montreal telefoniert? Hatte es dort irgendetwas gegeben, das ihn nach Algonquin Bay führte?
Cardinal rieb sich die Stirn. Er hatte das Gefühl, dass an dieser Stelle ein wichtiger Schluss nahe lag, den jemand mit einer schnelleren Auffassungsgabe längst gezogen hätte. Aber er kam nicht drauf. »Ich weiß es nicht«, murmelte er.
»Führen Sie wieder Selbstgespräche?«, fragte Delorme. Sie setzte sich neben ihn.
»Hmm, aber es hilft nicht.«
»Was ist mit den Telefonrechnungen? Sagten Sie nicht, dass er ein paar Anrufe nach Montreal gemacht hat?«
»Sie waren allesamt nicht verzeichnet. Die einzige Nummer, zu der ich durchgekommen bin, war etwas, das sich Beau-Soleil-Tagesstätte nannte.«
»Ein dreiundsechzigjähriger New Yorker, der eine Tagesstätte in Montreal anruft?«
»Ich weiß. Musgrave hat seine Leute in Montreal auf die anderen angesetzt.«
Er erzählte Delorme von dem Negativ, das er in Shackleys Wohnung gefunden hatte, als Paul Arsenault hereinkam. Cardinal rief quer durchs Büro: »Hey, Arsenault, haben Sie meine Negative entwickelt?«
»Was ist los mit Ihnen? Sehen Sie nie in Ihr Postfach?« Arsenault schnappte sich einen braunen Umschlag aus Cardinals Fach für bürointerne Post und warf ihn gezielt auf seinen Schreibtisch. »Und bevor Sie fragen: Nein, es waren keine Fingerabdrücke auf dem Negativ.«
Cardinal öffnete die Lasche des Umschlags und zog zwölf Abzüge desselben Fotos heraus, von denen er einen Delorme in die Hand drückte. Schwarzweiß. Ein Gruppenbild mit Dame, alle jung, eine Frau, drei Männer. Zwei der Männer trugen lange Koteletten und Schnurrbärte; der dritte einen Vollbart. Cardinal hielt es ans Licht. Die vier sahen glücklich und selbstbewusst aus. Sie standen vor zwei gardinenlosen Fenstern und grinsten breit in die Kamera. Durch die Fenster waren Bäume und ein Kirchturm zu erkennen, der in der Sonne glitzerte.
»Ganz schön lange Haare«, bemerkte Delorme. Sie blinzelte kurzsichtig auf ihren Abzug. »Und sehen Sie sich mal die Hemden der Kerle an, diese Kragen.«
»Könnte aus den Siebzigern stammen«, sagte Cardinal.
»Außer dem Mädchen sehen sie aus wie Holzfäller.«
»Hey, alle mal herhören!« Ken Szelagy steckte den Kopf in die Tür und brüllte quer über die Kabinen hinweg. Er hatte ein Handy an einem Ohr. »Sattelt die Pferde! Wie’s aussieht, haben wir den Wagen.«
Der rote Ford Escort befand sich am Grund eines ehemaligen Steinbruchs ganz in der Nähe des Highway 17. Ein begeisterter Radsportler namens Vince Carey hatte ihn gefunden. Er hatte einen völlig kahl rasierten Schädel und ein kleines Adlertattoo am Halsansatz.
»Ich war empört«, erzählte er Cardinal. »Also, man schmeißt doch nicht einfach ein Auto mitten im Wald weg, nicht mal in einen ehemaligen Steinbruch.«
»Wieso fahren Sie hier mitten im Winter mit Ihrem Fahrrad durch die Gegend?«
»Na ja, es sieht so schön aus, alles mit Eis überzogen. Und ich fand diese Gegend irgendwie cool. Muss so vor drei Jahren gewesen sein, da hatte ein Abfluss ein natürliches Wasserbecken gebildet, fast einen kleinen See, bis ungefähr dort.« Er zeigte auf einen moosgrünen Streifen an der Granitklippe.
»Haben Sie heute in dieser Gegend noch irgendjemanden gesehen?«
»Keine Menschenseele. Wunderbar ruhig.« Carey fuhr sich mit der Hand über den Kahlschädel. »Als ich sah, dass das Wasser weg war, hab ich gedacht, ich fahr mal den Felsrand hoch. Konnte ja nicht ahnen, dass da unten ein verdammtes Auto liegen würde. Fand ich ehrlich zum Kotzen. Deshalb hab ich nachher, als ich wieder zum Highway zurück bin, den Naturschutz angerufen, um ihnen Bescheid zu sagen, aber die haben gesagt, wenn es ein Fahrzeug ist, soll ich bei Ihnen anrufen. Und das hab ich gemacht.«
»Okay, danke, Mr. Carey«, sagte Cardinal. »Wir rufen Sie an, wenn wir noch was brauchen.«
»Gern geschehen.« Er sah den Steilhang hinunter, wo Szelagy, Arsenault und Collingwood um den umgekippten Wagen herumkletterten, und wandte sich wieder zu Cardinal um. »Ziemlicher Aufstand für ein Schrottauto, oder?«
»Wir arbeiten gerne gründlich.«
Cardinal stieg äußerst vorsichtig die eisglatte Felswand hinab und hoffte nur, dass sich das hier als eine Goldmine erweisen würde. Endlich wendete sich jetzt vielleicht das Glück zu seinen Gunsten.
Der Wagen lag umgekippt, mit der Kühlerhaube zuunterst, in knapp einem Meter Wasser. Das Dach war größtenteils flach eingedrückt, und ein Rad fehlte vollständig.
»Sieht vielversprechend aus«, sagte Arsenault. »Wir haben hier ein Austrittsloch, wo eine Kugel durch die Beifahrertür gedrungen ist.«
»Und drinnen?«, fragte Cardinal. »Hat das Wasser alles vernichtet?«
»So, wie es jetzt liegt, ist kaum Wasser eingedrungen. Wir wollen uns nur nicht allzu nahe dranwagen, damit wir nicht das Gewicht verlagern und das Prachtstück umkippen. Gut möglich, dass das Wasser Haare oder Fasern weggespült hat, aber falls sich an diesem Austrittsloch Blut befindet, müsste es eigentlich noch trocken sein. Das Schwierige wird sein, den Wagen überhaupt da rauszukriegen. Mit einem Abschleppwagen ist das nicht zu machen.«
Cardinal sah von dem Wrack zum Klippenrand hoch – eine zwanzig bis fünfundzwanzig Meter hohe Wand aus zerklüftetem Granit. »Don Deckard«, sagte er. »Das ist unser Mann.«
Sie hörten den Kran, bevor sie ihn sahen: zuerst das dumpfe Grollen im Untergrund, dann das Knirschen der Gänge und schließlich das Knattern eines gewaltigen Verbrennungsmotors, der den Berg hochächzte. Dann erschien die Maschine selbst, ein kolossales Fahrzeug, das fast vollständig aus Rädern bestand. Auf seiner Ladefläche trug es die Stahlpfeiler eines Krans, jetzt wie im Modellbaukasten eines Jungen zusammengeklappt. Der Koloss blieb auf der Kuppe stehen, und Don Deckard sprang aus der Kabine.
Er sah wie ein Dinosaurier aus den Sechzigern aus, der irgendwie gegen seinen Willen ins nächste Jahrhundert katapultiert worden war. Er trug schwarze Jeans mit Silberbeschlägen an den Außennähten und eine perlenbesetzte Wildlederjacke mit aufwändigen Fransen. Sein angegrautes Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und seine Augen waren knallrot, als hätte er gerade einen Joint geraucht.
»Hey, Mann.« Er klatschte Cardinal ab; sie hatten über die Jahre schon ein paarmal zusammengearbeitet. »Lange nicht gesehen. Was liegt an?«
Cardinal führte ihn zu dem Wagen hinunter.
»Wo habt ihr den denn aufgegabelt?«, sagte Szelagy zu Arsenault. »Woodstock?«
»Kennen Sie etwa Deckard nicht? Der Kerl ist eine Legende. Sehen Sie das niedliche Ding da?« Arsenault wies auf den Kran. Selbst zusammengeklappt konnte er es fast mit einem kleinen Hochhaus aufnehmen. »Das ist eine halbe Million Dollar wert. Ist vor zehn Jahren im Lake Superior versunken – weiß nicht mehr, was sie damit gemacht haben. Na jedenfalls, die Firma, der es gehörte, hat es als Verlust abgeschrieben. Selbst die Versicherung hat es abgeschrieben. Aber Deckard ist mit ungefähr sechs Jungs und einem Lastkahn da rausgefahren und hat das Ding aus hundert Meter tiefem, eiskaltem Wasser geborgen.«
Deckard brauchte knapp eine Stunde, um seinen Kran aufzustellen. Dann schwenkte der Arm weit über den Steinbruch und ließ ein Stahlseil mit einer Segeltuchschlinge hinunter. Gigantische Airbags, ursprünglich dazu gedacht, gesunkene Schiffe zu heben, wurden zwischen Auto und Felswand verkeilt und anschließend aufgeblasen, damit der Wagen nicht verrutschte. Die Schlinge wurde an die richtige Stelle geschoben, und Minuten später hing der Wagen über dem Abgrund hoch in der Luft.
In der Kabine des Krans zog Deckard an seinen Hebeln und drehte an seinen Steuerrädern, bis der Wagen – immer noch auf dem Kopf – sachte auf einem Flachlader landete.
Deckard trat aus seiner Kabine, und alle vier Polizisten klatschten Applaus. Er verbeugte sich tief und sprang vom Kran. Er klatschte Cardinal noch einmal ab. »Ging wie geschmiert, Mann, wie geschmiert.«
Arsenault und Collingwood standen schon auf dem Flachlader. Mit Hilfe eines Rettungsspreizers brachen sie zwischen dem eingedrückten Dach und den Sitzen ein Stück auf.
»Die Fenster standen alle offen, als er über die Klippe stürzte«, sagte Arsenault. »Wie’s aussieht, hat der Bursche geglaubt, er würde ihn versenken. Kam wahrscheinlich in der Nacht her und hat ihn hier über Bord gehen lassen, weil er dachte, das Wasser wäre tiefer.«
Arsenault und Collingwood fanden den einen oder anderen Gegenstand von begrenztem Interesse: einen verwischten Mietvertrag auf den Namen Howard Matlock, eine Fliegersonnenbrille zum Hochklappen, eine leere Coladose, die noch im Becherhalter steckte. Sie würden zusammen mit dem gesamten Auto nach Fingerabdrücken abgepinselt, sobald der Wagen trocken war.
»Eigentlich wollen wir uns auf den Beifahrer konzentrieren«, sagte Cardinal. »Wir wissen ein bisschen was über das Opfer, aber rein gar nichts über den Mörder.«
Collingwood untersuchte die Rückenlehne des Beifahrersitzes mit einer Pinzette. Er drehte sich zu Cardinal um und gab ein einziges Wort von sich. »Blut.«
»Auf dem Beifahrersitz? Sicher?«
Collingwood antwortete nicht. Er zog einen Teppichschneider aus seiner Werkzeugbox und schälte den Sitzbezug zurück, bis das Polster freilag. Der braune Fleck, der darunter zum Vorschein kam, sprach für sich.
»Wir wollen keine zehn Tage warten, bis wir die DNA-Ergebnisse haben«, sagte Cardinal. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie wir uns vorher Klarheit verschaffen können, ob das hier vom Beifahrer und nicht vom Fahrer ist?«
»Wir können hier und jetzt die Blutgruppe bestimmen«, sagte Arsenault. »Gut möglich, dass sie dieselbe haben, aber ist immerhin einen Versuch wert, nicht?«
Arsenault holte ein tragbares Gerät aus dem Van der Spurensicherung. Die nächste Viertelstunde arbeiteten er und Collingwood an den Flecken. Cardinal wartete und starrte über den See und in den bleigrauen Himmel. Am Horizont türmten sich Wolken auf und drohten mit noch mehr Regen, was gleichbedeutend war mit noch mehr Eis.
Arsenaults Tritte knirschten hinter ihm auf dem vereisten Boden. »Der Fahrer ist 0 negativ«, sagte er.
»Und der Beifahrer?
»Den haben wir auch. AB negativ.«
Cardinal zog blitzschnell sein Handy heraus und rief Delorme an. »Haben Sie nicht gesagt, das Blut aus Dr. Cates’ Praxis sei AB negativ?«
»Allerdings. Wir haben es von dem Papier der Untersuchungsliege.«
»Das könnte der Beweis sein, dass die beiden Fälle zusammengehören«, sagte Cardinal. »Der Mörder schießt auf Shackley, aber er bekommt auch selber einen Schuss ab. Die Kugel steckt noch, aber er kann in kein Krankenhaus gehen, weil sie Schusswunden melden müssen. Also schnappt er sich Dr. Cates und zwingt sie, ihn zu behandeln.«
»Dann tötet er sie, um sie zum Schweigen zu bringen. Das sieht gut aus. Und ich hab auch was für Sie.«
»Tatsächlich?«
»Musgrave ist vorbeigekommen. Sie werden nicht glauben, wen Shackley angerufen hat.«
Chouinard hörte sich Cardinals Vorschlag an, ohne irgendeine Gefühlsregung oder auch nur Interesse zu zeigen. Als Cardinal mit seinen Ausführungen fertig war, antwortete er mit dieser ruhigen, sonoren Stimme, die ihn intelligenter erscheinen ließ, als er war: »Dass Sie nach Montreal müssen, steht außer Frage. Bei Delorme bin ich mir nicht so sicher.«
»Detective Delorme«, sagte Cardinal, »wie schätzen Sie mein Französisch ein?«
»Was für Französisch? Ich hab Sie schon reden gehört, aber das war kein Französisch. Das ist eher so ein Frankenstein-Kauderwelsch –«
»Wieso machen Sie sich darüber Gedanken, Cardinal? In Montreal spricht jeder Englisch, wissen Sie.«
»Das ist nicht ganz richtig«, sagte Delorme. »Das ist nicht einmal annähernd richtig.«
»Na ja, vielleicht hat sich das geändert, seit ich das letzte Mal da war. Nehmen Sie ein Wörterbuch mit. Ich bin einfach noch nicht davon überzeugt, dass Sie denselben Mörder haben.«
»D.S., überlegen Sie bitte noch mal«, sagte Cardinal. »Cates ist innerhalb von drei Tagen die zweite Leiche im Wald. Sollten wir nicht so lange davon ausgehen, dass es eine Verbindung zum Shackley-Mord gibt, bis wir Grund haben, das Gegenteil anzunehmen?«
»Wir haben einigen Grund, das Gegenteil anzunehmen«, sagte Chouinard. »Die eine Leiche ist ein Mann, die andere eine Frau. Eine wurde von Bären gefressen, die andere nicht. Der eine ist von auswärts, die andere hat hier in der Stadt gelebt …«
»Warten Sie mal«, sagte Delorme. »Wie groß ist die Chance, dass zwei Mörder, die in dieser Stadt leben, AB negativ sind?«
»Die Blutgruppe ist kein eindeutiger Beweis.«
»Nehmen wir mal an, er schießt auf Shackley und wird selber verwundet«, sagte Cardinal. »Eine kleine Wunde. Es war nicht viel Blut auf der Beifahrerseite.«
»Hab ich schon verstanden. Er braucht einen Arzt. Aber wieso verfüttert er Shackley an die Bären und die Ärztin nicht?«
»Dafür gibt es eine Reihe von Erklärungen. Nummer eins: Ich denke, wir sind uns darin einig, dass der Mord an Dr. Cates keinen Mafiahintergrund hat. Falls sie von derselben Person getötet wurde, das heißt Bressard nicht von Leon Petrucci den Auftrag bekam, Shackleys Leiche verschwinden zu lassen, dann wurde er von jemand anderem angeheuert, der sich für Petrucci ausgab. Petrucci ist in der Stadt gut bekannt. Eine Menge Leute wissen, dass er nicht reden kann, dass er über schriftliche Botschaften kommuniziert. Das kam alles vor Jahren an die Öffentlichkeit, als Bressard wegen schwerer Körperverletzung vor Gericht stand – der Algonquin Lode hat die Geschichte damals in allen Einzelheiten ausgebreitet. Vielleicht geht unser Mörder davon aus, dass er Bressard nicht zweimal hereinlegen kann. Vielleicht will er ihn auch nicht zweimal bezahlen.«
»Jedenfalls«, sagte Delorme, »wird er Samstagabend bei der Auseinandersetzung mit Shackley verwundet. Er denkt möglicherweise, er kann es aussitzen. Er glaubt vielleicht, er kann damit leben. Bis Montag tut es höllisch weh oder es hört vielleicht nicht auf zu bluten. Jetzt weiß er, dass er nicht um einen Arzt herumkommt.«
»Wieso Dr. Cates?«
»Das wissen wir noch nicht«, räumte Delorme ein.
»Aber Sie haben doch ihre Patienten überprüft. Sie haben ihre Kollegen überprüft.«
»Und deshalb sollte ich mit Cardinal nach Montreal. Zusammen können wir viel schneller diesen Telefonnummern nachgehen. Und wenn wir rauskriegen, hinter wem Shackley her war, wissen wir, wer der Mörder ist.«
»Gott, ich hasse Entscheidungen«, sagte Chouinard. »Wartet nur, bis ihr euch selber mit Budgets herumzuschlagen habt, dann wisst ihr, wie das ist.«
»Dann kann ich also mit, ja?«
»Und dass Sie nicht eine Minute länger dableiben als nötig.«