Eine Juninacht

Nachdem er den schwarzen Vorhang der Pappeln überstiegen hatte, überquerte der Mond den Fluß, eine golden schimmernde Spur hinterlassend, und gewann nun langsam am klaren Himmel an Höhe.

Er stieg ohne Eile hoch, denn er mußte Stück für Stück die Garbenbündel zählen, die auf den vor kurzem gemähten Getreidefeldern verstreut waren, und er mußte auch jedes Bündel durch einen schwarzen Schatten kennzeichnen, der wie ein kräftiger Pinselstrich aussah.

Vom Zimmerfenster aus, das auf den Garten hinausging, betrachtete Don Camillo das Schauspiel, das hinsichtlich Regie und Aufführung auch in jenem Jahr makellos war. Aber es machte ihn zugleich auch sehr traurig, denn wenn das Getreide einst alles bedeutet hatte, so bedeutete es jetzt wenig oder gar nichts.

Den Weizenbau reduzieren. Den Weizen durch anderes ersetzen. Die Wirtschaft des Landes ist durch die Überproduktion an Getreide aus dem Gleichgewicht geraten. Die staatlichen Sammelstellen sind bis zum Dach mit Getreide vollgestopft, schrieben die Zeitungen und erklärten die Redner in den Versammlungen.

Aber die alten Bauern in der Bassa, die dreißig Jahre lang geschuftet hatten, um die Getreideproduktion von sechzehn auf zweiunddreißig und manchmal auf vierzig Doppelzentner pro Hektar zu bringen, weigerten sich, den Experten und Politikern zu glauben, und säten weiterhin stur den Weizen aus.

Gras statt Weizen. Fleisch statt Weizen. Die Tiere aus den ungesunden und mühsam zu bewirtschaftenden Ställen hinauswerfen. Laßt ab vom Maisanbau! Weniger Tomaten, weniger Rüben anbauen! Reißt die Ulmen aus den Weingärten!

Reißt die Reben heraus! Macht dem Auto den Weg frei! Wir haben zuviel Wein. Wir haben zuviel Zucker. Wir haben zuviel Tomatenmark. Wir haben zuviel Käse. Wir haben zu viele Schweine. Aber nein, wir haben wenig Schweine, aber wir haben zuviel Butter, bis daß wir dann einmal zuwenig Butter haben werden.

Das Ausland will erlesenes Obst und Gemüse: Es muß nicht gut sein, solange es nur schön aussieht. Säubert die Höfe von den Hennen und züchtet die Hühner im Stall! Setzt auf ausgewogenes Futter, auf gepreßtes Trockenfutter, auf Kunstdünger, auf Unkrautvertilgung, auf Insektizide! Vergiftet die Erde und die Pflanzen!

Schneidet die Hecken! Pappeln braucht es, denn wenn ihr zehn Jahre wartet und dann die Pappeln verkauft, werdet ihr, wenn ihr nachrechnet, feststellen können, daß jeder halbe Hektar statt zehnmal zehntausend euch dann zehnmal achtzig- oder neunzigtausend eingebracht haben wird.

Die alten Bauern der Bassa hatten nicht die Zeit, zehn Jahre zu warten. Sie waren gewohnt, die Abrechnung jedes Jahr zu machen, wenn die Milch verkauft war, und so blieben sie dabei, Getreide auszusäen. Manch einer, der älter und dickköpfiger war, baute noch Mais an und pflanzte auch noch Kichererbsen dazwischen.

Wenn Don Camillo an die Kichererbsen dachte, fielen ihm die fernen Tage seiner Kindheit ein, und er spürte wiederum den säuerlichen Geschmack der Erbsenschalen in seinem Mund und auf den Händen und Wangen die ländliche Liebkosung der noch zarten, frischen und kleinen Pflanzen, die aus der trockenen und rissigen Erde der Maisfelder herausgezogen wurden. Die Erinnerung an den Schlehdorn und die halb grünen, halb blauen Früchte ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er seufzte, schloß das Fenster und drehte das Licht an. Trotz des Dunkels war irgend so eine verdammte Stechmücke ins Zimmer geraten. Der Vater fiel ihm ein, der an den Sommerabenden vor dem Schlafengehen die kalkweißen Wände des Kinderzimmers inspizierte: Zentimeter für Zentimeter bei Kerzenschein.

Die Stechmücke ist teuflisch und dumm zugleich. Ihr werdet sie niemals mit Gewalt fangen können, und wenn ihr, nachdem ihr euch zweitausend Mal auf Stirn, Wangen oder Hals geschlagen habt, dabei zufällig eine Stechmücke erwischt, dann kann man von einem Wunder reden. Die Stechmücke muß hinterrücks gefangen werden. Wenn sie an der Wand ruht, dann nähert ihr euch vorsichtig, so daß ihr die Flamme an ihren Rücken bringt: Kaum hat die Mücke die Wärme gespürt, macht sie einen Sprung nach hinten und verbrennt. Die Sache klappt, als ob die Mücke von der Flamme aufgesogen würde. Vielleicht geschieht das auch, weil das Tier aus rein technischen Gründen nur eine Art von Flugstart kennt. Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß die Stechmücke, wenn man sie richtig hinterrücks erwischt, darauf reinfällt.

Don Camillo fand an jenem Abend noch keinen Schlaf und las wieder vor dem ausgelöschten Kamin in seiner Zeitung. Das tat er etwa eine halbe Stunde lang, dann spitzte er die Ohren, weil Ful winselte. Ein leises Winseln, fast wie eine Klage.

Don Camillo löschte das Licht, ging aus dem Zimmer und gelangte langsam und vorsichtig durch den Flur zur Tür, die auf den kleinen Hof hinausging. Dort blieb er stehen. Er hatte sich wie ein Geist benommen, aber Ful hörte ihn trotzdem und winselte jetzt ein bißchen klagender und lauter. Dann kratzte er mit der Pfote an der Tür. Ful war ein wohlerzogener Hund, und er wäre auch nicht, nicht einmal mit einem Maschinengewehr im Nacken, bereit gewesen, seinem Herrn eine Falle zu stellen. Don Camillo zögerte also keinen Augenblick, drehte das Licht an und öffnete die Tür.

Ful war allein, aber er kam nicht ins Haus. Er blieb vielmehr an der Türschwelle, bellte leise, kehrte daraufhin Don Camillo den Rücken zu und begab sich zum Eingang des Holzschuppens. Als er die Mitte des kleinen Hofs erreicht hatte, blieb er stehen und drehte sich um. Da ging Don Camillo zu ihm hinaus. Der Hund begleitete ihn bis zum Eingang des Holzschuppens und winselte. Don Camillo machte die Taschenlampe an und öffnete weit die Tür. Das Licht der kleinen Lampe ließ etwas in einer Ecke des großen Raums glänzen; dabei handelte es sich, wie man sogleich erkennen konnte, um zwei mit Tränen überströmte Augen.

»Was machst du hier um diese Zeit?« schrie Don Camillo.

Ful versuchte, die Situation, so wie sie nun einmal war, zu erklären, aber als er sah, daß Don Camillo sich drohend auf den Besitzer der tränenüberströmten Augen zubewegte, erreichte er jene Ecke mit einem Sprung, machte schnell kehrt, knurrte und zeigte Don Camillo die Zähne.

Wenn Ful sich seinem Herrn gegenüber so benahm, mußte er seine guten Gründe haben, und Don Camillo stoppte seinen Vormarsch.

»Also gut«, brummte er. »Folge mir, wir sprechen im Haus darüber.«

Die Erklärung erfolgte im Wohnzimmer, in Fuls Gegenwart. Der Besitzer der tränennassen Augen war genau zehn Jahre, sechs Monate und zwei Tage alt, und Don Camillo wußte dies ganz genau, nicht weil er jenes Bündel einst getauft hatte, sondern weil es sich damals um eine wirklich außergewöhnliche Taufe gehandelt hatte.

»Hör auf zu weinen und rede«, schüchterte Don Camillo den Jungen ein. »Was ist geschehen?«

»Vorige Woche«, stotterte der Junge mit gesenktem Kopf, »habe ich die Aufnahmeprüfung für die Mittelschule in der Stadt abgelegt… Heute morgen habe ich mir das Ergebnis angesehen…«

Der Unglückliche brach in Schluchzen aus. Ful schaute zu Don Camillo auf, knurrte und zeigte die Zähne. Don Camillo fuhr hoch:

»Du«, brüllte er Ful an, »hättest, anstatt jetzt eine solche Szene zu machen, deine Pflicht tun und ihn daran hindern sollen, in den Holzschuppen hineinzugehen.«

»Ich bin ein Hund, aber nicht ein Hundsfott, der einen Freund verjagt, der ihn in einem schwierigen Augenblick um Hilfe bittet«, erwiderte auf seine Weise Ful. »Man kann einem Kind nicht die Tür vor der Nase zuschlagen.«

»Das ist kein Kind!« entgegnete Don Camillo. »Das ist der Sohn des Bürgermeisters, und ich will mit dem Unglücksraben keine Scherereien haben!«

»Wenn du ihn in die Kirche aufgenommen hast bei der Taufe, dann wirst du ihn jetzt, da er getauft ist, auch in dein Haus aufnehmen können«, stellte Ful in strikter hündischer Logik fest.

Der Junge hatte sich ein wenig beruhigt, und Don Camillo setzte sein Verhör fort:

»Du hast dir also die Ergebnisse der Prüfung angesehen. Du bist heute morgen mit dem Bus gefahren, und warum bist du nicht mittags zurückgekehrt?«

»Ich bin zu Fuß zurückgegangen«, seufzte das Kind. »Vor einer halben Stunde bin ich angekommen, und dann bin ich hierher gekommen.«

»Und warum gerade hierher und nicht woandershin?«

»Ich wollte in die Kirche, aber die war zu… «

»Das versteht sich!« brüllte Don Camillo. »Die Kirche ist kein Gasthof. Aber wäre es nicht einfacher gewesen, zu dir nach Hause zu gehen, statt hierher zu kommen?«

»Das konnte ich nicht«, antwortete der Junge und fing wiederum verzweifelt an zu schluchzen. »Ich bin in Italienisch und in Geschichte durchgefallen… «

Ful blickte Don Camillo fragend an:

»Ist das schlimm?« brummte er.

»Was heißt da schlimm!« meinte Don Camillo ungeduldig: »Er muß ganz einfach nur zwei Fächer im Oktober wiederholen.«

Auf alle Fälle mußte der Junge schrecklichen Hunger haben, wenn er um sieben Uhr von zu Hause weggegangen war. Don Camillo stöberte im Speiseschrank herum und holte Brot, Käse und ein Stück Salami hervor und legte es vor den Unglücksraben hin:

»Iß jetzt und denk an nichts«, sagte er.

Die großzügige Geste Don Camillos gefiel Ful sehr, er begann fröhlich zu lärmen und stand dann dem Freund moralisch bei, indem er ihm half, sich der Haut der Salami und der Käserinde zu entledigen. Der Junge bekam auch ein halbes Glas Wein, und das brachte ihn wieder auf Touren.

»Ich verstehe nicht, was die Jungs heutzutage in ihren Schädeln haben«, rief Don Camillo, als der Unglückliche wieder seine natürliche Gesichtsfarbe zurückgewonnen hatte. »Sie machen eine sehr schwierige Prüfung wie jene beim Übertritt von der Volks- in die Mittelschule, sie schaffen es hervorragend mit zwei dummen Prüfungen im Oktober, und anstatt Freudensprünge zu machen, tun sie, als wäre alles eine Tragödie. Hör jetzt auf, den Wirrkopf zu spielen. Kehr nach Hause zurück, und Schluß damit!«

»Ich kann nicht!« schrie der Junge voller Angst.

»Und warum?«

»Mein Papa… «

»Dein Vater wird, auch wenn er Bürgermeister und Chef der Kommunisten ist, doch irgend etwas in seinem Hirn haben!«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Mein Papa hat immer gesagt, daß der Sohn des ersten Bürgers auch der erste Schüler sein muß. Ich aber…«

»Das ist eben ein Mißverständnis!« brüllte Don Camillo. »Du bist nicht der Sohn des ersten Bürgers, sondern des ersten Trottels der Gemeinde, und das erklärt alles… Auf alle Fälle: beruhige dich. Geh jetzt zu Bett. Im kleinen Zimmer links ist alles hergerichtet. Morgen früh werde ich mit deinem Vater reden.«

Der Junge ging, und Ful folgte ihm. Als er an der Schwelle zum Flur war, blieb der Hund stehen und drehte sich um.

»Schon gut«, brummte Don Camillo. »Ich habe verstanden. Angesichts der außergewöhnlichen Situation darfst auch du hinaufgehen.«

Es war schon elf Uhr nachts, und Don Camillo beschloß, schlafen zu gehen. Vorher wollte er die Reste der Mahlzeit verschwinden lassen und das Wohnzimmer in Ordnung bringen. Aber das gelang ihm nicht, denn jemand klopfte an die Tür. Natürlich war es Peppone.

Peppone war finster:

»Hochwürden, ich hoffe, daß es Euch in einem Augenblick wie diesem gelingen wird, Eure politische Aufwiegelei zu vergessen und Euch daran zu erinnern, daß Ihr ein Priester seid.«

»Um was für einen besonderen Augenblick soll es sich da handeln?« erkundigte sich Don Camillo und zündete sich einen Zigarillo an.

»Mein Jüngster ist seit sieben Uhr früh von zu Hause weg. Man hat ihn in den Bus einsteigen sehen, und dann hat man nichts mehr von ihm gesehen und gehört. Wir haben überall wie verrückt gesucht, und wir wissen nicht mehr, was wir jetzt noch tun könnten.«

Don Camillo zuckte die Achseln:

»Er ist mit dem Bus in die Stadt gefahren?«

»Ja, man hat ihn in der Stadt aussteigen sehen.«

»Die Tage zuvor ist er vielleicht etwa nicht in die Stadt gefahren, um die Aufnahmeprüfung in die Mittelschule zu machen?«

»Ja.«

»Dann kann man sich leicht vorstellen, was geschehen ist«, erklärte Don Camillo mit schamloser Gleichgültigkeit. »Er wird sich nach dem Ausgang der Prüfung erkundigt haben. Und da er der Sohn eines Dummkopfs mit einer Birne voller Sägemehl ist, wird er durchgefallen sein und wird – wie man dauernd in den Zeitungen liest –, statt nach Hause zurückzukehren, wer weiß wohin davongerannt sein. Das passiert eben, wenn die Kinder einen gewalttätigen Vater haben, der sie terrorisiert.«

Peppone tat einen Sprung:

»Ich ihn terrorisieren? Wo ich doch niemals mit ihm geschimpft habe!« brüllte er verzweifelt.

»Nein? Und die Sache mit dem ersten Bürger, der der erste Schüler des Orts sein muß?«

Peppone erblaßte:

»Ich«, stotterte er, »das habe ich ihm so gesagt… ein wenig zum Scherz und ein wenig, um ihm Mut zu machen…«

»Kinder verstehen keine Scherze«, stellte Don Camillo fest und breitete die Arme weit aus. »Man muß auf die Worte achten. Wenn ein Vater, der das Unglück hat, Kommunist zu sein, mit seinem Sohn spricht, dann muß er für einen kurzen Augenblick das Gehirn von dem darin abgelagerten Parteigerümpel frei machen und versuchen, wie ein normales Lebewesen zu denken… Aber nun ist es viel zu spät. Es könnte ja auch sein, daß der arme Kerl sich in den Po oder unter einen Zug gestürzt hat… «

Peppone krachte aufs Sofa, und Don Camillo hatte für einen Moment Angst, etwas übertrieben zu haben.

»Es könnte auch sein«, setzte er eilig fort, »daß er im Dorf ist, in einem Haus von irgend jemandem versteckt.«

»Und wo?« brüllte Peppone. »Wo, wenn ich die Häuser eins nach dem anderen habe aufsuchen lassen? Hochwürden, warum, anstatt mich zu foltern, helft Ihr mir nicht, ihn zu suchen?«

»Aus dem einfachen Grund, weil ich ihn bereits gefunden habe«, erklärte Don Camillo.

»Hochwürden, gebt mir etwas zu trinken, oder mir bleibt die Luft weg!« keuchte Peppone.

Don Camillo reichte ihm schnöde die Wasserflasche, die auf dem Tisch stand.

»Nein«, keuchte Peppone nochmals. »Etwas zu trinken!…«

Don Camillo stand widerwillig auf und stöberte in der Kommode.

»Ich sehe nicht ein«, protestierte er, »warum ich meine letzte Flasche Lambrusco opfern sollte, weil der Sohn eines tausendmal verdammten Kommunisten im Oktober Wiederholungsprüfungen hat!«

Nach drei Gläsern fand Peppone seine Ruhe wieder:

»Wiederholungsprüfungen, nicht durchgefallen?« erkundigte er sich.

»Wiederholungsprüfungen im Oktober.«

»In wie vielen Fächern?«

»In zwei.«

»In wichtigen?«

»Nein. In Italienisch, das er überhaupt nicht braucht, weil er der Sohn von jemandem ist, der für die Russen arbeitet. Und in Geschichte, was er noch weniger braucht, weil er der Sohn von jemandem ist, der als Kommunist sich die Geschichte nach den Direktiven der Partei zurechtzimmert.«

Peppone hatte heute keine Lust zu polemisieren.

»Hoffen wir, daß er sich nicht eine fixe Idee daraus macht«, sagte er. »Ich möchte nicht, daß er sich wie ein Verrückter auf die Bücher stürzt und mir etwa noch krank wird.«

»Ich werde schon das meine tun, um ihn zu überzeugen, daß er die Dinge in aller Ruhe angehen soll«, versicherte ihm Don Camillo.

»Gott möge mir beistehen«, kommentierte Peppone.

»Das hat er schon getan«, behauptete Don Camillo kategorisch.

Peppone stand auf und ging, ohne etwas zu sagen.

Und Don Camillo ließ ihn gehen und sah, wie er in den Feldern verschwand.