25
Da ist jemand im Haus, den wir nicht kennen.«
»Gut. Tut sich was.« Am Telefon war der Boss noch wortkarger als bei persönlichen Begegnungen.
»Ist in einem Shelby Mustang aufgetaucht, Baujahr 67, absolute Schönheit«, fuhr William fort. »Der mit dem breiten Kühlergrill, mit dem er aussieht, als würde er einen böse angucken.«
Er ließ sich aufs Bett plumpsen, und eine Staubwolke stieg aus der durchgewetzten Decke auf. Hanley saß ihm gegenüber wie ein Spiegelbild. Ihre Knie berührten sich beinahe. Die Lichter im Motelzimmer waren aus, aber das blinkende FÜNF ERWACHSENENSENDER!!-Schild warf von draußen seinen Neonschein durch die Vorhänge und beleuchtete Teile ihrer Gesichter, ihrer Körper und der tristen Möbel. Dodge saß neben dem Badezimmer auf dem Boden. Er lehnte an der Wand und blätterte in einem seiner Comics, irgendeine brutale Erzählung, in der ein Kerl mit Hofnarren-Tattoos auf beiden Schultern mitspielte. Die Badezimmertür stand einen schmalen Spalt offen und das Licht fiel auf das aufgeschlagene Heft. In der Luft hing penetranter Schimmelgeruch.
»Wann ist er angekommen?«, wollte der Boss wissen.
»Wir haben ihn am Nachmittag bemerkt, aber kann sein, dass er schon früher gekommen ist.«
»Beeindruckend«, sagte der Boss.
»Ja.«
»Wir werden uns drum kümmern. Wie lief es mit unserer Testamentsvollstreckerin und der Immobilie?«
»Wingate hat nicht angebissen.«
»Hatte ich mir schon gedacht. Wir brauchen bald eine Bestätigung, bevor die Dinge außer Kontrolle geraten.«
William hörte seinen Atem leise durch die Nase pfeifen.
»Was treibt der Neue so?«, fragte der Boss weiter.
»Schlösser austauschen. Die Zäune überprüfen. Sieht so aus, als würden sie warten.«
»Worauf?«
»Auf uns.«
»Name«, sagte der Boss. Das war eine Aufforderung, keine Frage.
»Hab ich noch keinen«, sagte William. »Wir haben heute Nachmittag das Nummernschild überprüft, aber hat sich rausgestellt, dass es gefälscht ist.«
»Schau mal an.«
»Aber Hanley ist hingegangen und hat die Fahrzeug-Identifizierungsnummer auf dem Armaturenbrett notiert, die können wir dann morgen checken.« William nickte seinem Bruder beruhigend zu. »Hanley hat bis jetzt echt gute Arbeit geleistet. Er hilft uns, unser Ziel zu erreichen.«
»Wie lautet die VIN?«
William sagte ihm die Nummer.
»Ich werd nicht bis morgen warten. Ich werd mir jemand besorgen, der das jetzt gleich erledigen kann.«
Klick.
»Okay, Sir, werd ich auf jeden Fall machen«, sagte William zur toten Leitung. Dann klappte er sein Handy zu und sagte zu Hanley: »Er findet auch, dass du deine Sache gut machst.«
»Echt? Was hat er gesagt?«
»Dass du deine Sache gut machst.«
Dodge gab ein Geräusch von sich. William nahm an, dass er amüsiert war, aber ob das an seinem Comic lag oder an ihrer Unterhaltung, wusste er nicht. Dodge und er kamen so gut miteinander klar, weil sie nie versuchten, den anderen zu durchschauen. Williams Talente ergänzten sich perfekt mit denen von Dodge – Redegewandtheit und rohe Gewalt, zwei ineinandergreifende Teilchen, die ein perfektes Ganzes bildeten. Als Dodge fünf Jahre wegen Körperverletzung in Pelican Bay einsaß, hatte er die Zelle mit Williams Onkel geteilt. »Wenn Dodge dir eine verpasst«, hatte Onkel Len erzählt, »dann fühlt sich das so an, als wärst du ein Achtjähriger und er ein Buick.« Onkel Len war schwer beeindruckt, und das wollte was heißen. Er hatte alles eingefädelt und hatte William in seine ganz besondere Philosophie der Brutalität eingeführt. Noch auf seinem Sterbebett im Gefängnisspital hatte Onkel Len an seinem Ehrenkodex festgehalten. Und seine Verpflichtungen weitergegeben. »Burrells erfüllen ihre Pflicht«, hatte er William bei einem Besuch erklärt. »Aber ich hab da noch eine Angelegenheit offen. Der einzige Auftrag, den ich nicht zu Ende gebracht habe.« Er hustete ein paar Mal und spuckte etwas Grünes in eine Bettpfanne. »Ein Auftrag. Der Auftrag.« Das Einzige, was William qua Geburt zustand – abgesehen von seiner zerebralen Lähmung und Onkel Lens zersplitterten Armbanduhr – war die Pflicht, diese Aufgabe zu Ende zu bringen.
Dodge war ein Jahr später entlassen worden, ungefähr zu der Zeit, als Williams Osteoporose einsetzte, die ihn so zerbrechlich machte, dass er fast schon aus dem Rennen war. Doch angesichts seiner steigenden Arztrechnungen konnte William es sich nicht leisten, aus dem Rennen zu fallen. Es passte ihm gut, sich mit Dodge zusammenzutun. Als er Dodge auf die Gehaltsliste des Bosses brachte, war Dodge froh über eine Arbeit. Er war bei dem mit Schindeln verkleideten Haus aufgetaucht, das William und Hanley nach dem Tod ihrer Großmutter bewohnten, und hatte eine Matratze im Keller bezogen, wo er seine Comics las und schweigend meditierte. Irgendwo hatte er eine kranke Mutter in einem Heim – oder vielleicht eine Tante, die ihn großgezogen hatte – und dafür ging sein gesamtes Geld drauf. Aber Dodge war nicht in erster Linie aufs Geld aus. Er war in erster Linie auf den Job aus. William hatte den Verdacht, dass Dodge nicht gewusst hätte, wie er 100 Dollar auf einmal ausgeben sollte, es sei denn er kaufte Werkzeuge. Er und sein Schlosserhammer. Er mochte den Hammer, weil er damit so lange arbeiten konnte, ohne dass sein Opfer das Bewusstsein verlor. Es schien gut zu seiner Geduld und seiner bedächtigen Art zu passen. William dachte sich immer, dass man einen Mann an der Waffe seiner Wahl erkannte. Hanley war unbesonnen, hitzig und direkt und zog ein Messer vor. Was William anging, setzte er nur noch seine Worte als Waffe ein.
Die flackernden Morsezeichen des Motelschilds begannen ihm langsam auf die Nerven zu gehen. William beugte sich vor und bearbeitete den steifen Muskel seines linken Oberschenkels mit einem Fingerknöchel. Wenn die Krämpfe in seinen Beinen zu stark wurden, hatte er durchdringende Schmerzen.
Von Kind an hatte er lernen müssen, mit Schmerz zu leben. Vielleicht war er deswegen auch so gut darin, anderen Schmerz zuzufügen. Er hatte sich zu Anfang nur auf den Knien fortbewegt, bis ihn eine Staphylokokken-Infektion an einer Kniescheibe zum aufrechten Gang zwang. Als er vier war, hatte er endlich eine Technik gefunden, mit der er ohne Schienen gehen konnte. Seine erste Erinnerung war das Bild, wie er einen mit Flickenteppichen ausgelegten Flur entlangschlurfte, und Hanley neben ihm krabbelte, so dass er sich auf ihn stützen konnte, wenn ihm die Beine wacklig werden wollten. Trotz seiner Testergebnisse wurde William von seiner Kindergärtnerin für zurückgeblieben gehalten, weil er eine so undeutliche Aussprache hatte. Bei seinem zweiten Krankenhausaufenthalt wegen Lungenentzündung hatte seine Pflegerin ihm eine Sprachtherapeutin besorgt, um ihm die endlosen Stunden im Bett zu verkürzen. Schon als Siebenjähriger wusste er, dass er ihr für den Rest seines Lebens dankbar sein würde. Zum Zeitvertreib las er auch gerne Groschenheftchen über Soldaten und Kriegshelden und erhob das Militär zum Fetisch, das sich doch niemals für ihn interessieren würde. Er liebte die heldenhaften Aktionen und verwegenen Taten von G.I. Joe, der sich mit muskulösen Schultern und markantem Kiefer in den Kampf stürzte und nicht wich und wankte, wenn er blonden Deutschen oder hinterhältigen Japanern gegenüberstand. Als William entlassen wurde, erfuhr er, dass seine Eltern in eine Wohnung im dritten Stock in einem Block ohne Aufzug gezogen waren. Es dauerte nicht lange, und er landete in einem Heim. Hanley folgte ihm wenig später aus Solidarität.
William knüllte das Papier zusammen, als ihn eine spastische Welle durchlief wie ein verlängertes Niesen. Das Schlimmste an der zerebralen Lähmung war ihre Unvorhersehbarkeit. In manchen Nächten ging er verspannt zu Bett und fühlte sich beim Aufwachen wie ein Athlet. Dann wieder hatte er wochenlang keine Symptome und stürzte jäh ab, wenn ihn ohne jede Vorwarnung ein neuer Schub überfiel.
Wie zum Beispiel jetzt.
»Dodge …« Sein Kehlkopf fühlte sich an wie zugeschnürt. »Kannst du mich kurz allein lassen?«
Dodge stand auf und ging hinaus. Seine Schritte dröhnten auf dem Flur, dann hörte man eine Tür aufgehen und ins Schloss fallen.
»Was brauchst du?«, fragte Hanley.
»Ein Baclofen, ist in meiner Tasche.« William reckte den Kopf vor, als sein Bruder mit dem Medikament kam, und schluckte das muskelentspannende Medikament ohne Flüssigkeit. Es schmeckte bitter wie die Sünde, aber es hatte keine Nebenwirkungen wie Dilantin, das er einnahm, um Krampfanfällen vorzubeugen, und von dem ihm die Augen zuckten wie die einer Bauchrednerpuppe. Er hielt aus, als sich der nächste Krampf durch seinen unteren Rücken und seine Beine fortpflanzte, und dann grub er einen Daumen in den Knoten in seiner linken Wade und drückte fest zu. »Okay«, sagte er zu sich selbst. »Okay.«
Hanley runzelte die Stirn. Zwischen den Brauen hatte er tiefe Furchen. Er holte Williams orthopädische Schiene aus der Tasche und warf sie aufs Bett. Das fleischfarbene Plastikteil mit seiner fußähnlichen Basis und der hohen Schienbeinschiene sah aus wie ein Anachronismus aus den polioverängstigten fünfziger Jahren. Wenn William einen seiner Anfälle hatte, trug er die Schiene in der Nacht, um seine linke Achillessehne zu dehnen.
Feindselig starrte er das Ding an.
»Soll ich dir mit der Hose helfen?«, bot Hanley an.
»Nein«, sagte William verbittert.
Hanley nickte und ging zur Tür. Als er gerade hinausgehen wollte, sagte William leise: »Doch.«
Sein Bruder kehrte um, half ihm, sich auszuziehen und die Schiene anzulegen.
»Und leg das Telefon in meine Nähe. Der Boss wird zurückrufen.«
Hanley legte das Telefon auf die Matratze neben William, dann deckte er ihn zu und machte das Licht aus.
William hörte, wie sein Bruder ins Nebenzimmer ging. Er hörte, wie die Dusche anging, wie die Leitungen in der Wand summten. Er spürte, wie im Rist seines linken Fußes ein Krampf einsetzte, aber sein Rücken war zu verspannt, als dass er sich hätte vorbeugen und die Schiene abnehmen können. Die Verspannung spitzte sich zu, bis er sich wie ein Korkenzieher im Bett wand. Sein Rücken war so durchgebogen, dass nur noch seine Schulterblätter und die rechte Hüfte die Matratze berührten. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er wartete, betete, wartete. Schließlich wurde die Dusche ausgestellt.
Er nahm seine letzte Kraft zusammen, hob eine Faust aus der Decke und klopfte gegen die Wand über seinem Kopfende. Mit zusammengekniffenen Augen hörte er, wie Hanley durch sein Zimmer stolperte, sich rasch etwas überwarf, dann schnelle Schritte und – endlich – kam er durch die Tür gestürmt.
Sein kleiner Bruder rannte zu ihm, riss die Decke weg und zog Williams Bein in verschiedene Richtungen, um die Verkrampfungen zu lösen. Während er die Knoten herausmassierte, verzog William stöhnend das Gesicht und ließ den Schmerz heraus, indem er mehrfach heftig den Atem ausstieß.
Hinterher ließ Hanley ihm ein Bad ein, schüttete Epsom-Salz hinein und trug den nackten William wie ein Baby in die Wanne. Mit einem kleinen Aufschrei der Erleichterung glitt er ins warme Wasser. Und dann schwebte er, war wie gewichtslos, und seine Muskeln gaben endlich nach. Im Wasser war er wie jeder andere. Hanley saß unterdessen auf der Toilette und kratzte sich mit dem aufklappbaren Jagdmesser ihres Vaters den Dreck unter den Nägeln heraus – das Einzige, was er einem seiner Söhne hinterlassen hatte.
»Manchmal frag ich mich, ob das nicht der Himmel ist«, meinte William. »Und dann fällt mir ein, dass sich andere die ganze Zeit so fühlen.«
Die Bettdecke dämpfte das Klingeln des Handys nebenan.
»Hol’s mir mal kurz rüber«, sagte William.
Hanley holte das Telefon und William klappte es auf, während ihm das warme Wasser um Hals und Schultern schwappte. »Ja, Sir?«
»Der Mustang ist auf einen Shepherd White angemeldet. Der war von 1981 bis 1993 in einem Pflegeheim in San Fernando Valley. Da lebte damals noch ein anderer Junge namens Mike Doe. Doe ist irgendwann im Alter von vier Jahren aufgetaucht, ohne sich an allzu viel erinnern zu können. Er war von seinem Vater ausgesetzt worden. Willst du raten, wann?«
»Im Oktober 1980«, sagte William.
»Er ist der, den wir suchen.«
In der folgenden Schweigepause spürte William nach all den Jahren, wie viel dem Boss dieser Auftrag bedeutete.
Aber er brauchte nicht lang, um wieder zum Geschäft zurückzukommen. »Hanley soll sich um die Sache kümmern. Die Familie kennt dein Gesicht und Dodges auch. Ihr zwei könnt dann hinterher wieder die Hausmeister spielen.« Er legte auf.
William klappte das Handy zu, legte es auf den Badewannenrand und lehnte sich zurück in die Wärme. Er inhalierte die salzigen Dämpfe und spürte, wie seine Muskeln schon viel entspannter, schlaffer, bereiter waren.
Hanley lehnte sich vor. Seine Augen quollen vor lauter Aufregung leicht vor. »Und?«
»Wir haben grünes Licht«, sagte William.