Prolog
Der vierjährige Junge sitzt auf dem Rücksitz des Kombis, sein Körper ist kaum mehr als eine kleine Erhebung unter der Decke, die jemand über ihn gebreitet hat. Seine Hüfte tut schon richtig weh an der Stelle, an der ihn die Schnalle des Sicherheitsgurts drückt.
Jetzt setzt er sich auf, reibt sich die Augen im Morgenlicht und schaut sich verwirrt um.
Das Auto ist rechts rangefahren und steht im Leerlauf neben einem Maschendrahtzaun. Sein Vater umklammert das Lenkrad mit zitternden Händen. Im Nacken läuft ihm der Schweiß über die gerötete Haut.
Der Junge schluckt, um seine trockene Kehle zu befeuchten.
»Wo … wo ist Mommy?«
Sein Vater atmet keuchend ein und dreht sich um, so dass man die dunklen Bartstoppeln sieht, die nach einem Tag ohne Rasur seine Wange überziehen. »Sie ist nicht … Sie kann nicht … Sie ist nicht hier.«
Dann senkt er den Kopf und fängt an zu weinen. Zuckend und schluchzend, wie jemand, der das Weinen nicht gewöhnt ist.
Hinter dem Zaun laufen Kinder über den aufgesprungenen Asphalt oder stehen Schlange, damit sie auch mal auf die verrosteten Schaukeln dürfen. Ein Schild am Zaun verkündet: EIN NEUER MORGEN IN AMERIKA: RONALD REAGAN FOR PRESIDENT.
Dem Jungen ist heiß. Er blickt an sich herunter. Er trägt eine Jeans und ein langärmliges T-Shirt, nicht den Pyjama, in dem er schlafen gegangen ist. Er versucht, den Worten seines Vaters irgendeinen Sinn abzugewinnen, dieser fremden Straße, der Decke, die auf seinem Schoß liegt. Aber er kann sich auf nichts konzentrieren als auf seinen knurrenden Magen und das Rauschen in seinen Ohren.
»Du hast überhaupt keine Schuld, mein Großer.« Die Stimme seines Vaters klingt fast schrill und zittert. »Hast du verstanden? Wenn du dir eines merkst … dann das … du musst dir merken, dass nichts von dem, was passiert ist, deine Schuld war.«
Er krallt die Hände nun so fest um das Lenkrad, dass sie ganz weiß werden. Auf der Manschette seines Hemdes sieht man einen dunklen Fleck.
Gelächter dringt zu ihnen herüber. Kinder hängen an Kletterstangen und rennen über den heruntergekommenen Spielplatz.
»Was hab ich denn getan?«, fragt der Junge.
»Deine Mutter und ich haben dich sehr, sehr lieb. Mehr als alles andere auf der Welt.«
Die Hände seines Vaters bewegen sich weiter übers Lenkrad. Rutschen ein Stück weiter, drücken wieder zu. Rutschen ein Stück weiter, drücken zu. Als kurz Licht auf die Manschette des Hemdes fällt, sieht der Junge, dass der Fleck überhaupt nicht schwarz ist.
Sondern blutrot.
Sein Vater krümmt sich und seine Schultern zucken, aber er gibt keinen Ton von sich. Dann richtet er sich mit sichtlicher Anstrengung wieder ganz auf.
»Geh spielen.«
Der Junge schaut aus dem Fenster auf den seltsamen Hof, auf dem die schreienden Kinder herumrennen. »Wo bin ich?«
»Ich bin in ein paar Stunden wieder da.«
»Versprochen?«
Sein Vater dreht sich immer noch nicht um, aber er hebt den Blick zum Rückspiegel und sieht dem Jungen zum ersten Mal in die Augen. Sein Mund ist eine entschlossene, gerade Linie, seine blassblauen Augen sind fest und klar.
»Versprochen«, sagt er.
Der Junge bleibt sitzen.
Auf einmal atmet sein Vater ganz komisch. »Geh«, sagt er. »Geh spielen.«
Der Junge rutscht seitwärts über den Rücksitz und steigt aus. Er geht durch das Tor, und als er stehen bleibt, um sich umzuschauen, ist der Kombi verschwunden.
Kinder sitzen auf Wippen und rutschen Feuerwehrstangen herunter. Sie sehen so aus, als würden sie sich hier bestens auskennen.
Eines der Kinder kommt auf ihn zugerannt und versetzt ihm einen Schlag auf den Arm. »Du bist dran!«, schreit es.
Der Junge spielt also Fangen mit den anderen. Er klettert auf dem Gerüst herum, krabbelt durch den gelben Plastiktunnel, wird von den größeren Kindern angerempelt und gibt sein Bestes, um angemessen zurückzurempeln. Als im Gebäude nebenan eine Glocke ertönt, verlassen alle Kinder fluchtartig die Gerüste und verschwinden im Haus.
Plötzlich steht der Junge allein auf dem Spielplatz. Der Wind frischt auf, das tote Laub kratzt über den Asphalt wie Fingernägel. Er weiß nicht, was er tun soll, also setzt er sich auf eine Bank und wartet auf seinen Vater. Eine Wolke verdeckt die Sonne. Er hat keine Jacke. Er tritt in den Blätterhaufen, der neben der Bank liegt. Immer mehr Wolken ziehen sich da oben zusammen. Er bleibt sitzen, bis ihm der Hintern weh tut.
Schließlich tritt eine Frau mit graubraunmeliertem Haar aus dem Haus. Sie kommt zu ihm und legt ihm die Hände auf die Knie.
»Hallo.«
Er schaut auf seinen Schoß.
»Na«, sagt sie. »Wen haben wir denn hier?«
Sie wirft einen Blick über den verlassenen Spielplatz, dann durch den Maschendrahtzaun, um die leeren Parkplätze am Bordstein zu mustern.
Dann fragt sie: »Zu wem gehörst du denn, Kleiner?«