39
Dr. Cha hatte Mikes gefaxten Antrag auf Verlegung in der Hand, als sie in Annabels Krankenzimmer trat, wo sie den verblüfften Shep zurückgelassen hatte.
»Ich muss mit dem Arzt sprechen, der sie übernimmt. Und dann brauche ich noch eine Unterschrift vom Transportteam für Intensivpatienten.«
»Häh?«, machte Shep.
»Meinen Sie, das könnten Sie für mich erledigen?«
»Was?«, fragte Shep.
»Wunderbar«, sagte Dr. Cha und verschwand.
Shep wandte sich zu Annabel, als wollte er sehen, ob sie vielleicht mehr kapiert hatte als er, aber sie lag reglos auf ihrer Matratze, mit verfilztem Haar und geschlossenen Augen.
Da klingelte das Telefon neben ihrem Bett. Es klingelte. Und klingelte.
Shep ging an den Apparat und nahm den Hörer ab. »Ja?«
»Hier spricht Dr. Cha. Und Sie sind …?«
»Dr. Dubronski«, sagte Shep.
»Dr. Dubronski, haben Sie den Bevollmächtigten über die Risiken einer Verlegung aufgeklärt?«
»Hab ich«, sagte Shep, während er mit den Zähnen einen Fingernagel bearbeitete.
»Sind Sie mit dem Fall von Annabel Wingate vertraut?«
»Bin ich.«
»Möchten Sie den Plan für ihre weitere Behandlung jetzt besprechen oder lieber nach Abschluss des Transports?«
»Lieber nach dem Transport.«
»Prima. Dann schicken Sie also Ihr eigenes Team für den Transport der Intensivpatientin?«
»Nein?« Stille. »Ja.«
Klick. Freizeichen.
Leichte Schritte, dann klopfte es kurz an der Tür und Dr. Cha erschien mit einem Formular auf einem Klemmbrett. Fröhlich tippte sie mit einem Kugelschreiber auf den Zettel. »Hier bräuchte ich bitte eine Unterschrift.«
Shep kritzelte irgendetwas Unleserliches auf die Zeile.
Sie warf einen Blick auf seine Unterschrift. »An dieser Stelle wäre ein Witz über Arzthandschriften sicher angebracht.« Dann trat sie auf das grüne Pedal, rollte Annabels Bett von der Wand weg und übergab an Shep. Sie selbst schob das dazugehörige Nachtkästchen und das Infusionsgestell, während sie mit Shep den Flur hinunterging und ihn bis zum Lift begleitete. Er fuhr hinein, sie beugte sich nur kurz vor und drückte auf den Knopf für den dritten Stock.
Ein Mitarbeiter kam über den Korridor auf sie zugetrabt. »Dr. Cha? Auf Leitung Drei hab ich einen Anwalt, der möchte Sie sprechen. Es geht um Annabel Wingate, und er behauptet, es sei dringend.«
Dr. Cha zwinkerte ihm zu, während die Fahrstuhltüren zuglitten und sie aus seinem Blickfeld wischten.
Bevor Shep protestieren konnte, fuhr er nach oben. Er starrte auf Annabel herab. Flüssigkeiten bewegten sich durch Schläuche. Geräte piepsten. Sie atmete, und unter der zarten, durchscheinenden Haut ihres Halses sah man blaue Venen durchschimmern. Er fragte sich, was zur Hölle als Nächstes passieren würde. Der Fahrstuhl kam zum Stehen, die Türen gingen auf und ein Team in OP-Kleidung stand im Halbkreis vor dem Lift. Eine ernsthaft aussehende junge Frau trat vor.
»Ich bin Dr. Bhatnagar. Ist das die Patientin, die Dr. Dubronski hierher verlegen wollte?«
Die zugleitenden Türen krachten gegen Sheps Schulter, als er Annabels Bett gerade aus dem Aufzug rollte.
Er rieb sich die Schulter. »Genau.«
Die Frau griff sich das Klemmbrett, das Dr. Cha auf Annabels Schienbeine gelegt hatte. Auf dem Krankenblatt waren die persönlichen Angaben zum Patienten geschwärzt wie auf einem CIA-Dokument. »Haben wir für diese Patientin denn keinen Namen?«
Ein älterer Mann im Rollstuhl schob Shep unsanft beiseite und drückte ungeduldig auf den Fahrstuhlknopf. »Nein«, sagte Shep.
Sie kritzelte »UWW 2« auf das Krankenblatt. Als Shep sie ungläubig ansah, erläuterte sie: »Unidentifizierte weibliche Weiße. Ganz genau, eine haben wir nämlich schon von der Sorte. Die fallen heute nur so vom Himmel.« Sie deutete mit einem raschen Nicken auf Annabel. »Wenn ich das richtig verstanden habe, ist sie von ihrem Ehemann so zugerichtet worden.«
»Wahrscheinlich«, sagte Shep.
»Dann verstecken wir sie auf der Kinderintensivstation. Vielen Dank. Ab hier übernehmen wir.«
Sie entließ ihn mit einem Nicken. Shep trat wieder in den Aufzug und wäre beinahe über den Mann mit dem Rollstuhl gestolpert. Die Türen gingen zu, und sie rauschten ins Erdgeschoss. Die ganze Episode hatte sich innerhalb von wenigen Sekunden abgespielt.
Shep räusperte sich und sagte zu dem älteren Herrn oder vielleicht auch nur zu den schweigenden Wänden des Fahrstuhls: »Ich werde intelligente Frauen nie verstehen.«
Kat planschte in der Badewanne, die Mike gründlich ausgespült hatte, bevor er ihr warmes Wasser einließ. Das Motel, eine weitere Variation der anderen, die sie bis jetzt bewohnt hatten, befand sich in einem heruntergekommenen Teil von Van Nuys, einen Steinwurf von dem Park entfernt, wo er damals den waldgrünen Saab mit einem Baseballschläger demoliert hatte.
Er saß auf dem Bett. Auf seinem Schoß stand ein schweres altmodisches Telefon, sein Magen war nur noch Säure und dumpfer Schmerz. Als er sich hingesetzt hatte, waren Staubwölkchen aus der rostorangen Überdecke aufgestiegen, die so taten, als würden sie von Schwerkraft nichts wissen. Sie tanzten an dem breiten Streifen aus Licht entlang, der durch das einzige Fenster hereinfiel. Von hier hatte man einen Ausblick auf die Straße, neben der ein Maschendrahtzaun verlief, in dem sich Plastikverpackungen verfangen hatten. Die Abenddämmerung brach so schnell herein, als hätte jemand auf den Vorspulknopf gedrückt, und der Lichtstreifen wurde zusehends dumpfer, wie bei einer Taschenlampe, deren Batterien langsam leer wurden.
Er hatte schon mehrfach mit Shep geredet. Annabels Verlegung hatte gerade eben noch geklappt. Als Shep sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie stabil gewesen, allerdings hatte sich ihr Zustand auch nicht weiter gebessert. Shep hatte ihm klargemacht, dass jeder Kontakt mit den Ärzten an ihrem neuen Aufenthaltsort sie oder Mike – und damit auch Kat – in Gefahr bringen konnte. Es war ein unnötiges Risiko, und Mike hatte nachgegeben, obwohl es sich für ihn anfühlte, als müsste er Stacheldraht schlucken.
Nun hatte Shep auch wieder freie Bahn, um Kiki Dupleshney ausfindig zu machen. Aber nichts von alldem hatte Mikes Inneres in solchen Aufruhr versetzt.
Daran waren vielmehr die zwei Bordkarten schuld, die auf Kats Namen ausgestellt waren. Nachdem sie in seiner Hosentasche reichlich zerknittert worden waren, lagen sie jetzt neben ihm auf dem Bett. Eine für 17.30 Uhr, eine für 23.45 Uhr.
Auf der Uhr auf dem Nachttischchen war es 17.01 Uhr.
Mit schweißnassen Händen wählte er.
»American Airlines, LAX.«
»Könnten Sie mich bitte zum Gate für Flug 768 durchstellen?«, bat er. »Ich habe eine extrem wichtige Nachricht für einen der Passagiere.«
Die Antwort war Warteschleifenmusik: Cause you had a bad day …
Daniel Powter war immerhin noch besser als der Durchschnitt, aber Mike musste nicht extra daran erinnert werden, dass er einen schlechten Tag hatte. Der Singsang wurde jäh von einer männlichen Stimme unterbrochen.
»Ich habe eine wichtige Nachricht für eine Passagierin auf diesem Flug, Katherine Wingate«, sagte Mike.
Kurze Pause. »Okay. Gut.« Es raschelte, als die Sprechmuschel des Hörers zugehalten wurde, dann hörte er: »Wir haben hier jemand, der Ihnen behilflich sein kann. Ich reiche Sie weiter.«
Eine kühle Frauenstimme. »Hallo?«
Schlau – hatten sie also eine weibliche Polizistin hingeschickt.
»Hallo«, sagte Mike vorsichtig.
»Ich bin die Begleiterin von Katherine Wingate«, sagte die Frau. »Man hat mir gesagt, Sie hätten eine Nachricht für sie?«
Mike legte auf und ließ den Kopf sinken. Wenn sie Annabels PayPal-Account überprüften und nach Flugtickets suchten, die auf ihren Namen gebucht waren, dann bedeutete das auch, dass sie Züge, Grenzen und weitläufige Familienmitglieder überwachten. Was wiederum bedeutete, dass er keine Ahnung hatte, wie er seine Tochter an einen sicheren Ort bringen sollte, abgesehen von den vier Wänden dieses miesen Motels.
Kat planschte in der Badewanne. Die Reflexionen der bewegten Wasseroberfläche waren auf der offenen Tür zu sehen. Sie sang leise vor sich hin, mit derselben schiefen Zartheit, die Mike von Annabels Stimme kannte, wenn er sie über das Babyphone singen hörte.
»Guten Abend, gute Naaacht, mi-hit Röslein beda-hacht – Dad? Was heißt ›bedacht‹? Dad?«
Seine Stimme war heiser. »Geschmückt.«
»Ah. Beda-hacht, mi-hit Näglein besteckt …«
Er riss die Bordkarte für den 17.30-Flug erst in der Mitte durch, dann zerriss er sie immer weiter und weiter, bis hundert winzige Fetzchen wie Schneeflocken auf den Teppich rieselten. Der Kloß in seiner Kehle erschwerte ihm das Atmen.
»Schlu-hupf unter die Deck. Morgen früüüh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt – wieso denn ›wenn Gott will‹?«
»Das will er bestimmt, mein Schätzchen«, brachte er hervor.
Dann zerriss er auch noch die Bordkarte für den 23.45-Uhr-Flieger, in den er sie gesetzt hätte, wenn beim ersten Testlauf die Luft rein gewesen wäre. Dann starrte er auf die Papierfetzen zu seinen Füßen.
Was nun?
»Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wie-hie-hie-der geweckt.«
Mike legte den Kopf in den Nacken, räusperte sich und wischte sich die Nase ab. Kat war jetzt aus der Wanne gestiegen und trocknete sich ab. Ihr rosaroter Körper war dünn, über und unter dem Handtuch sahen ihre Ellbogen und Kniescheiben hervor. Die billige Spanplatte, die als Ablage diente, war von der Feuchtigkeit aufgequollen, rund um die Wasserhähne zeichneten sich Rostspuren ab. Das ist nicht der richtige Ort für sie.
Er dachte an Annabels Bitte, die sie so eindringlich vorgebracht hatte, während ihr das dunkle Blut aus der Wunde zwischen ihren Rippen lief. Er sollte Kat von all dem wegbringen. Er sollte sie in Sicherheit bringen und beschützen.
Mike überlegte, wie die bittere Realität aussehen könnte, wenn er tat, was er tun musste, um sein Versprechen zu erfüllen.
Er klaubte das Konfetti vom Teppich auf, warf es in den Abfalleimer und ging zu Kat. Das Handtuch, das sie sich über die Schultern gelegt hatte wie ein Boxer, teilte sich über ihrem leicht vorgewölbten Bauch. Sie föhnte ihr Haar viel zu lang, die zerzausten Strähnen verfilzten immer schlimmer. Natürlich hatten sie kein Spray dabei, das die Haare leichter zu kämmen machte – Annabel hätte garantiert an so etwas gedacht. Er bürstete ihr die Haare geduldig von oben nach unten, Zentimeter für Zentimeter, aber es ziepte immer noch so sehr, dass Kat wimmerte.
»Steh still, mein Schätzchen, ich muss …«
»Aua. Aua.« Sie stieß ihn weg. Er hielt sie bei den Händen fest, ließ sie langsam sinken und machte weiter. Irgendwann hatte er sein Werk halbwegs vollendet und bemühte sich, ihr einen Pferdeschwanz zu binden. Ihre Augen waren immer noch feucht, und während er versuchte, es endlich richtig zu machen, und sei es mit Gewalt, wuchs sein Frust. »Aua. Nicht so, Dad.« Schließlich machte sie sich von ihm los und zog sich ins Bad zurück. Dort fuhr sie sich mit den Fingernägeln über die Kopfhaut und kratzte so heftig, dass man rote Striemen am Haaransatz sah.
Ihn packte das Grauen. »Lass mich mal sehen.«
»Ich hab keine Läuse.«
»Lass mich mal sehen.«
»Nein.«
»Kat.« Er packte einen ihrer dünnen Arme, zog sie zu sich und drehte ihren Kopf so, dass er ihren Nacken mustern konnte.
Kleine weiße Pünktchen.
Nissen.
Sie las seinen Gesichtsausdruck im Spiegel und kämpfte sich aus seinem Griff. »Nein. Nicht noch mal. Ich will keine Mayonnaise mehr auf meinem Kopf. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.«
»Es bleibt uns aber nichts anderes übrig!«, schrie er.
Sie zuckte zusammen und wich vor ihm zurück.
»Wir können uns das jetzt nicht mehr aussuchen. Außerdem funktioniert das mit der Mayonnaise nicht.« Er biss die Zähne zusammen. »Die sanfte Methode funktioniert nicht, Kat. Wenn wir das wieder in Ordnung bringen wollen, müssen wir härter durchgreifen. Die chemische Spülung brennt vielleicht und es mag dir so vorkommen, als wäre sie nicht gut für dich, aber manchmal ist … ist genau so etwas … genau so etwas nötig, wenn wir dich schützen wollen vor …«
Zu seinem Entsetzen merkte er, dass er den Tränen nahe war.
Kat war so weiß geworden wie das Handtuch, das auf den Boden gefallen war. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Lippen zitterten, die Arme hielt sie in halber Höhe vor den Körper.
Er drückte eine Hand an die Wand, beugte sich etwas vor und versuchte, wieder ruhig zu atmen. Sie blieb in ihrer verkrampften Haltung stehen und wartete. Als er die Arme nach ihr ausstreckte, wich sie zurück.
»Es tut mir so leid. Mir fehlt deine Mom doch auch so. Sie kann solche Sachen viel besser und …« Seine Stimme brach. »Ich vermisse sie auch so sehr.«
Kats Starre löste sich. Erst sanken ihre Schultern herab, dann die Arme. Sie ging in die Hocke, hob das Handtuch auf und wickelte es sich fest um den Körper. Sie ließ den Kopf hängen, und ihre Tränen hinterließen dicke Punkte auf dem ausgetretenen Linoleum. Unsicher streckte er noch einmal die Hände nach ihr aus, und diesmal stieß sie ihn nicht weg, also zog er sie an sich und umarmte sie fest, während sie sich an seinen Arm klammerte.
Danach sahen sie beide schlechte Fernsehsendungen an und aßen ein spätes Abendessen – »Wow, super, Dad! Erdnussbutter und Saft! Mmmm!« Er zwang sich ein Lächeln ab, um der Situation ihre Leichtigkeit zu lassen, aber sein Gesicht fühlte sich ganz hölzern an. Die Minuten, die verstrichen, kamen ihm vor wie der Countdown zu einem finalen Ereignis. Er nahm eine ausgedehnte Dusche und fuhr sich mit dem Einwegrasierer übers Gesicht. Als ich mich das letzte Mal rasiert habe, stand ich noch in meinem eigenen Badezimmer und dachte mir, dass ich demnächst Rasierklingen nachkaufen muss. Annabel lag im Bett, blätterte in einer Zeitschrift und summte schief einen Nina-Simone-Song mit.
Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um Rasierschaum und Stoppeln abzuwaschen, dann ging er zurück ins Zimmer, um den Schluss der Simpsons mitanzuschauen. Schließlich packte er Kat in ihren pastellblauen Schlafsack, überprüfte die Batterien im Babyphone und steckte es zwischen sie und Snowball II. Kat und er taten beide so, als würden sie nicht merken, wie sie sich am Kopf kratzte.
Die Vorhänge ließen sich kaum ganz zuziehen, also stellte er einen Stuhl vors Fenster, um sie in der Mitte an Ort und Stelle zu halten. Als er sich umdrehte, sah Kat ihn intensiv an, und ihm wurde klar, dass sie, als ihm das Hemd beim Vorbeugen etwas nach oben rutschte, die Waffe gesehen haben musste, die er am Rücken in den Hosenbund geschoben hatte.
»Ich hab Angst«, sagte sie. »Vorm Sterben.«
Er kam zurück zum Bett, setzte sich neben sie und fuhr ihr zärtlich mit einem Fingerknöchel über die Nase. »Die hat jeder.«
»Du auch?«
Eine prophetische Frage in Anbetracht seiner momentanen Überlegungen.
»Ein bisschen«, sagte er. »Ist doch klar.«
»Wovor hast du am meisten Angst? Dass du dann tot bist, oder dass du Mommy und mich dann nicht mehr wiedersiehst?«
»Wo ist da der Unterschied?«, fragte er.
Sie dachte kurz, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und sie nickte. Er küsste sie auf die Wange und atmete ihren Geruch ein. Sie kuschelte sich in ihr Kissen.
Er streichelte sie, bis sie eingeschlafen war.
Dann schob er sein Batphone in die Hosentasche, befestigte den Empfänger des Babyphones an seinem Gürtel und schloss Kat ein. Er ging ein paar Schritte auf den Korridor, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ging in die Hocke. Hinter den Parkplätzen sah man den Verkehrsstrom vorbeirauschen. Die Luft war gesättigt mit Dieselabgasen und dem Dunst von Frittierfett. Auf dem Boden lag ein Apfelbutzen, auf dem es vor Ameisen nur so wimmelte. Sein Babyphone-Empfänger gab ein paar Störgeräusche von sich, und er rückte einen halben Meter näher zur Tür, bis der Empfang wieder ganz klar war.
Ein Hausmädchen, das mit gesenktem Kopf auf ihn zukam, schob einen Besen vor sich her über den Korridor. Sie hatte eine schlaffe Haltung, war alt und trug eine altmodische Dienstmädchenuniform. Der reinste Stereotyp, wären nicht die iPod-Kopfhörer gewesen, die man durch ihr drahtartiges graues Haar sah. Der Besen glitt über den Korridor und schob ein Delta aus Schmutz vor sich her. Sie nahm überhaupt keine Notiz von Mike, nicht einmal, als sie sich arthritisch bückte, um den Apfelbutzen aufzuheben und den Schmutz auf ihre Kehrschaufel zu fegen. Sie ging auf den Parkplatz, wobei der über den Boden fahrende Besen ein einschläferndes Geräusch machte – schschp, schschp, schschp.
Shep nahm gleich beim ersten Klingeln ab. »Langsam bewegt sich was«, sagte er. »Mit Kiki Dupleshney, meine ich. Jeder weiß, dass ich auf der Suche nach einer Komplizin für einen Überfall bin. Ihr Name ist schon mehrmals gefallen, früher oder später wird bestimmt jemand den Kontakt herstellen.«
»Annabel erholt sich langsam, oder?«, fragte Mike.
Shep antwortete nicht.
»Kannst du auf Kat aufpassen, bis Annabel wieder auf den Beinen ist?«, bat Mike.
Die alte Frau schritt langsam über den Parkplatz. Schschp, schschp, schschp.
»Was machst du grade, Mike?«
»Sie wollen mich. Nicht Kat. Mich.«
»Und was, wenn Annabel sich nicht erholt? Und du nicht da bist? Wie soll ich deiner Tochter erklären, dass ihr Vater aufgegeben hat und sie deswegen mehr schlecht als recht von einem Tresorknacker großgezogen wird?«
»Ich gebe nicht auf. Ich stelle mich. Vielleicht kann ich ihnen ja doch noch beikommen. Und falls sie gewinnen …«
»Ich hab Dodge gesehen«, sagte Shep. »Der wird gewinnen.«
Der Empfänger an Mikes Hüfte begann zu heulen, und er drehte die Lautstärke herunter. »Dann haben sie eben gekriegt, was sie wollten. In dem Moment brauchen sie auch Kat nicht mehr. Dann ist sie in Sicherheit.«
»Ich werde Kiki Dupleshney finden«, sagte Shep. »Schon bald. Sie wird uns zu ihnen führen. Dann finden wir sie, bevor sie dich finden.«
»Und was passiert unterdessen mit Kat? Die fährt immer schön auf dem Beifahrersitz mit?« Er lief auf dem Flur auf und ab. Der Besen der Frau war auffallend laut, und das Geräusch zerrte an seinen Nerven. SCHSCHP, SCHSCHP, SCHSCHP. Er drehte sich um und wäre um ein Haar über sie gestolpert, aber sie hielt den Kopf weiter gesenkt, als sie in die Hocke ging, um die Kehrschaufel zu benutzen, so dass er nur ihre verschatteten Augenhöhlen sah. Aus ihrem Kopfhörer tönte schwache Musik, ein Mariachi-Schwall aus Geigen- und Trompetenklängen. Er blickte über ihre Schulter und entdeckte in dem Schmutz, den sie auf dem Parkplatz zusammengefegt hatte, zwischen dem ganzen Staub und Zigarettenkippen, eine Unmenge von Sonnenblumenkernschalen, die immer noch speichelfeucht glänzten.
Das Handy fiel ihm aus der Hand und schien wie in Zeitlupe zu Boden zu fallen, wo es auf dem Beton zersprang.
Der Empfänger an seiner Hüfte übermittelte ihm Kats Schrei wie das Summen einer Wespe.
Der panische Zehn-Meter-Sprint bis zu seinem Zimmer wurde untermalt von wildem Rauschen aus dem Empfänger, den er jetzt voll aufgedreht hatte – ein dumpfer Aufprall, Metall, das kreischend über Metall schabte, eine heisere Stimme, die gedämpfte Befehle erteilte.
Die billigen Scharniere leisteten keinen Widerstand, als er die Tür einrannte.
Das Bett war leer.
Kat – und der Schlafsack, in den er sie gepackt hatte – war verschwunden.