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Mike befolgte Anweisungen und stellte keine Fragen. Er nutzte die Fahrt, um seine Gedanken glattzubügeln und sich mit Entschlossenheit zu wappnen, bis sie so einförmig und geradlinig war wie die Straße, die vor ihnen lag. Der Saab rauschte über die Grapevine durch Bakersfield und über den langen, flachen Abschnitt in Mittelkalifornien, Zwiebelfelder und Trucksots, tieffliegende Agrarflugzeuge, die neben der Interstate 5 Angriffe anzutäuschen schienen, als wären sie einem Hitchcock-Film entstiegen. Sie fuhren an San José vorbei, weiter nach Norden durch Sacramento und nahmen Kurs auf Redding. Diese Gegend in Nordkalifornien sieht mir sehr interessant aus, hatte Hank gemeint, und Mike hatte das Gefühl, es konnte nur noch interessanter werden durch das, was Shep hier so zielstrebig ansteuerte. Das Kaskadengebirge kam in Sicht: Lassen Peak erhob sich im Osten, Mount Shasta direkt vor ihnen. Beide Gipfel waren schneeüberzuckert.

Gegen neun Uhr sagte Shep: »Fahr hier mal raus.« Mike fuhr bei Red Bluff ab und ließ sich von Shep durch die altmodische Innenstadt lotsen. »Links. Rechts. Mike, rechts ist da, wo der Daumen links ist. Jetzt noch mal links. Hier kannst du parken.«

Sie standen vor einem einstöckigen Gebäude aus Lehmziegeln, das das Standesamt beherbergte. Der L-förmige Parkplatz war schmal und gesäumt von Zementwänden, die jeweils einen Wohnblock abschirmten. Man konnte den Parkplatz von beiden Seiten befahren, was sich als nützlich erweisen konnte, je nachdem, was ihnen im Inneren dieses Gebäudes gleich widerfahren würde. Mike zog eine Augenbraue hoch und Shep erwiderte nur: »Das Standesamt ist ein guter Arbeitsplatz für eine Betrügerin. Falsche Baugenehmigungen, gefälschte Urkunden, und überall liegen Stempel für notarielle Beglaubigungen rum.«

Im Leerlauf war der Saab so leise, dass man hätte meinen können, der Motor sei aus. Shep hatte vom Beifahrersitz aus einen besseren Blick auf die Glastür. Mike spürte den kühlen Druck der Smith&Wesson am Rücken. Und sie warteten. 17.03 Uhr … 17.07 Uhr …

Shep deutete zur Tür. Tatsächlich kam die Frau heraus, die Mike als Dana Riverton kennengelernt hatte. Sie hatte denselben nichtssagenden Look wie bei ihrem Treffen im Café – Bibliothekarinnenbrille, konservative Bluse, braunes Haar ohne erkennbaren Haarschnitt. Er fragte sich, ob sie das Gefängnistattoo auf ihrem Daumen wohl auch jeden Morgen überpuderte, bevor sie an ihrem Arbeitsplatz erschien.

Als er ausstieg, blieb Shep im Auto sitzen, auch wenn sie das vorher nicht abgesprochen hatten. Die Luft fühlte sich kühl an auf Mikes geschorenem Kopf.

Er fing sie ein paar Schritte vor der Tür ab.

»Kiki Dupleshney?«

Sie drehte sich rasch um. Nach einer halben Sekunde hatte sie ihn eingeordnet. Ein paar Kollegen hasteten an ihr vorbei, und sie warf ihnen ein nervöses Lächeln zu, doch ihre Augen blitzten ihn wütend an. »Sie müssen mich mit jemand verwechseln.« Als die anderen außer Hörweite waren, fummelte sie eine Zigarette aus ihrer Handtasche und steckte sie an. »Was zum Teufel wollen Sie von mir?«

»Wer hat sie angeheuert?«

Sie grinste zuckersüß und blies Mike den Rauch ins Gesicht. Am Filter war ein rosa Abdruck von ihrem Lippenstift zu sehen. Dann erklärte sie mit der übertrieben deutlichen Aussprache eines Menschen, der es gewohnt ist, sich mit Idioten zu unterhalten: »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Warum wollen diese Leute meine Tochter und mich umbringen?«

»Du liebe Güte. Weiß ich doch nicht.«

»Meine Frau liegt auf der Intensivstation«, sagte Mike. »Und meine Tochter und ich sind auf der Flucht. Sie haben in dieser Geschichte eine Rolle gespielt.«

Kiki spielte eine imaginäre Geige zwischen Daumen und Zeigefinger. »So läuft das eben im Darwin-Spiel. Tut mir leid.«

»Ich werde die Männer finden, die uns bedrohen«, sagte Mike. »Ich werde sie aufhalten. Und Sie werden mir dabei helfen.« Kiki wandte sich zum Gehen, doch er hielt sie mit stahlhartem Griff an ihrem dicken Arm fest. »Es ist mir egal, was ich dafür tun muss, ich werde meine Familie wieder zusammenbringen. Haben Sie mich verstanden?«

Sie riss sich los und verstreute dabei den Inhalt ihrer Handtasche auf den Boden. »Ihre Frau geht mir am Arsch vorbei. Und es geht mir auch am Arsch vorbei, ob diese Leute ihre Tochter umbringen. Aber eines kann ich Ihnen versprechen: Wenn Sie mich jetzt nicht sofort in Ruhe lassen, schrei ich nach den Bullen.«

Sie ging in die Hocke und begann, ihre Sachen wieder vom Boden aufzusammeln.

Mike ging zurück zum Saab. Er legte die Hände aufs Lenkrad. Er atmete schwer und spürte das Brennen von Sheps Blick auf seiner Wange.

Inzwischen hatte Kiki alles wieder in ihre Tasche geräumt und ging weiter. Sie deutete mit dem Schlüssel zum anderen Ende des Parkplatzes, und die Scheinwerfer eines braunen Sebring Cabrio blinkten auf. Sie beobachteten, wie die Frau ihre Tasche auf den Rücksitz fallen ließ und die Zigarettenkippe zu den Mülleimern hinter dem Gebäude warf. Der Wind zerzauste ihr die Haare, als sie einstieg. Als sie im Auto saß, zog sie sich im Rückspiegel den Lippenstift nach.

Mike griff nach oben, drückte einen Knopf und das Schiebedach glitt surrend auf.

»Steig aus«, sagte er.

»Was?«, fragte Shep.

»Du hast mich sehr gut verstanden.«

Shep zuckte mit den Schultern und stieg aus.

Mike trat das Gaspedal durch und hinterließ zwei schwarze Gummistreifen auf dem Asphalt. Der Saab schlingerte leicht, hielt aber seinen Kurs, und Kiki fuhr gerade rückwärts aus ihrem Parkplatz, als sie aufblickte und einen Schrei ausstieß. Der Saab traf sie genau im rechten Winkel, machte den Sebring zum T-Bone-Steak und drückte ihn gegen die Mauer. Der Airbag des Saab öffnete sich mit einem Geräusch, als würde eine mit der Öffnung nach unten gedrehte Schüssel auf Wasser treffen. Rund um das Cabrio bröckelte der Zement, Bruchstücke aus der Mauer plumpsten durch das offene Verdeck auf den Rücksitz. Aus der ziehharmonikaartig zusammengeschobenen Motorhaube des Saab stieg zischend Dampf auf.

Mike schob den Airbag beiseite. Seine Tür war verzogen, so dass er durch das Schiebedach aussteigen musste. Die zwei Fahrzeuge waren wie zusammengeschweißt. Ein beständiger zarter Sprühregen aus Scheibenwischerflüssigkeit beschrieb einen poetischen Bogen durch die Luft. Kiki, die ihren Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, lag schlaff auf dem Lenkrad. Die Hupe plärrte, ein Blutrinnsal verdunkelte ihre Oberlippe.

Mike stieg über seinen Saab in ihren Sebring, legte ihr den Arm unters Kinn, riss sie von ihrem Sitz und schleuderte sie auf den Asphalt. Er sprang hinterher, packte sie bei den Haaren und zwang ihr Gesicht herum, so dass sie ihn ansehen musste. Sie war völlig überrumpelt. Der Lippenstift war über ihr ganzes Kinn verschmiert, ihre Strumpfhose war zerrissen und blutig an den Knien, die Hände hielt sie sich unter die laufende Nase. Im Grunde ekelte es ihn an, was er hier tat, aber es reichte nicht, um ihn aufzuhalten. Er zog die Waffe aus dem Gürtel und drückte ihr die Mündung vorne gegen die Schulter, wo ihr Arm an den Rumpf stieß.

»Schauen Sie mich an«, sagte er. »Schauen Sie mich an.«

Ihre Pupillen rollten zu ihm.

»Geht es Ihnen immer noch am Arsch vorbei?«

»Hmm?«, machte sie undeutlich.

»Geht es Ihnen immer noch am Arsch vorbei?«

Sie nickte in seinem Griff. »Oh, Gott, nein. Bitte hören Sie auf.«

Mittlerweile waren ein paar Leute aus ihren Büros herausgelaufen und im Wohnblock hinter der eingestürzten Mauer standen Mieter an ihren Fenstern. Mike war nur überrascht, wie ungerührt er inmitten dieser Szenerie blieb.

»Reden Sie«, befahl er.

»Ich weiß nicht, wer sie sind. Ich schwöre. Das war so ein großer Typ und ein Krüppel. Sie haben mir nie eine Nummer gegeben oder so, die sind einfach nur aufgetaucht wie Gespenster, haben mich durch Mundpropaganda gefunden. Ich bin die Beste hier in der Gegend. Gegen mich läuft ein Verfahren und sie haben gesagt, das könnten sie für mich erledigen, oh Gott meine Nase …«

»Und weiter

»Dann haben sie mir eine Akte gegeben mit den Infos und dem ganzen Drehbuch, wie ich als Testamentsvollstreckerin mit Ihnen Kontakt aufnehmen soll. Sie wollten, dass ich Ihre Identität bestätige, weil sie nicht ganz sicher waren.« Sie atmete schwer, Blut sprühte auf ihre Lippen. »Ich hab alles in meinem Kofferraum. Da, da, nehmen Sie es. Sie können es haben. Ich schwöre bei Gott, das ist alles, was ich weiß.« Sie drehte die Hand und sah, wie das Blut zwischen ihren Fingern auf den Asphalt tropfte.

Der Kofferraum war beim Aufprall aufgegangen, und eine Kiste mit Aktenordnern war umgekippt. Mike fand die Akte mit dem roten Reiter ganz schnell. Auf der Vorderseite stand handschriftlich »4YCH429«.

Er ging zurück zu Kiki. Sie hatte sich inzwischen auf alle viere hochgestemmt und hustete. Er deutete auf die Akte. »Was ist das für ein Autokennzeichen?«

»Ich wollte etwas in der Hand haben, für den Fall, dass sie mich übers Ohr hauen, also hab ich mir ihr Kennzeichen aufgeschrieben, als sie davonfuhren, aber das war, bevor ich kapierte, was das für Leute sind.«

»Ein Pick-up? Kein Van?«

»Ein Pick-up. Aber Sie dürfen ihnen nichts sagen, die bringen mich um.«

Shep war verschwunden. Neben der Tür zum Standesamt hatte sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet, und ein paar von den jüngeren Angestellten flüsterten untereinander. Es sah ganz so aus, als würden sie gerade ihren Mut zusammennehmen, um einzuschreiten. Eine Frau am Fenster einer Penthouse-Wohnung hielt sich einen Telefonhörer ans Ohr. Als sie Mikes Blick bemerkte, wich sie erschrocken zurück. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Polizei eintraf.

»Tja, ich schätze, Sie haben allen Grund, sich Sorgen zu machen.« Mike blickte auf sie herunter. »Wenn Sie denen verraten, dass ich komme, werden Sie mich wiedersehen.«

»Okay.« Sie wischte sich das Blut von der Nase. »Okay. Okay okay okay.«

Mit dem Hängeregister in der Hand stieg Mike durch das Loch in der Mauer und trabte am angrenzenden Mietshaus entlang. Als er einen Wohnblock weiter auf eine Straße gelangte, eierte plötzlich wie auf Stichwort ein schwer mitgenommener Ford Pinto mit rostigem Kühler neben ihm her. Shep kauerte auf dem zerrissenen Vordersitz wie ein Elefant auf einem Dreirad. Die Einkaufstasche mit Mikes Sachen stand im Fußraum vor dem Beifahrersitz. Mike sprang in den Wagen, und sie fuhren los.

»Ich hätte nicht gedacht, dass von den Dingern überhaupt noch welche rumfahren.«

»Nach dem, was du mit dem Saab angestellt hast«, sagte Shep, »kriegst du jetzt nichts Besseres mehr als den hier.«

Über die Rückseite von Mikes Unterarm zogen sich blutige Schmierspuren, und als er sie abwischte, wurde ihm klar, dass sie nicht von ihm selbst stammten. Er spürte, wie das Blut trocknete und seine Haut darunter spannte.

Shep warf einen Blick auf Mikes Arm. »Keine Sorge«, sagte er. »Daran gewöhnst du dich.«