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Sie hatten erst wenige Kilometer zwischen das Auto und den Parkplatz gelegt, auf dem Mike Kiki Dupleshney zurückgelassen hatte. Doch seine Gedanken waren schon wieder bei dem Ausdruck auf Kats Gesicht, als er sie auf der Bank zurückgelassen hatte. Seine Schuldgefühle meldeten sich wie ein Jucken unter der Haut.

Du bist kein Ehemann. Du bist kein Vater. Du bist nur noch ein Mann mit einer Aufgabe.

Das Hängeregister mit dem roten Reiter lag auf seinen Knien. Die Beschriftung »4YCH429« starrte ihn an.

»Wie kriegen wir die Fahrzeugdaten zu diesem Nummernschild raus?«, fragte er.

Sie fuhren weiter. Shep sah lächerlich eingeklemmt aus hinter dem Lenkrad des Pinto. »Hank Danville. Nummernschilder sind für einen Privatdetektiv doch das A und O.«

»Aber sie beobachten ihn doch. Angezapfte Leitungen und alles.«

»Ruf ihn auf dem Handy an, dann kann er dir die Nummer eines Münztelefons geben.«

Mike wählte die Nummer. Als Hank abnahm, sagte Mike nur: »Hey.«

»Hey, Maurice!«, rief Hank. »Du suchst die Nummer von diesem Laden, oder?« Er ratterte zehn Zahlen herunter. »Wenn ich das richtig mitgekriegt hab, machen die in fünf Minuten auf.«

Mike steckte sein Handy wieder ein. Die Mappe auf seinem Schoß schien ein Gewicht angenommen zu haben, das ihrer potenziellen Bedeutung entsprach. Die Luft, die aus dem Gebläse kam, roch nach Haarspray. Autos zischten an ihnen vorbei. Er starrte auf den Boden.

»Jetzt mach’s schon auf«, sagte Shep. »Das Ding beißt nicht.«

Mike gehorchte. Auf dem Hochglanzfoto ganz obenauf, das ihm Dana/Kiki bereits im Café gezeigt hatte, war das Heim seiner Kindheit abgebildet. Darunter lagen noch ein paar mehr Bilder, die aus anderen Winkeln aufgenommen worden waren. Aus einem inneren Drang heraus drehte er eines um, als gelte es den Stempel auf einem Porzellanteller zu überprüfen. Auf dem weißen Rechteck klebte ein Zeitungsausschnitt mit einer Immobilienanzeige. Die Buchstaben waren schon etwas verblichen, aber immer noch deutlich genug lesbar, dass er die Adresse entziffern konnte.

Chico.

Er stammte aus Chico.

Von dort bis zu dem Spielplatz in Los Angeles, auf dem er als Vierjähriger zurückgelassen worden war, war es eine Autofahrt, die sich in einer Nacht bewerkstelligen ließ. Er dachte daran, dass er in seinen ganz normalen Kleidern aufgewacht war, nicht im Schlafanzug.

Shep blickte fragend zu ihm hinüber.

Mike wühlte im Handschuhfach, fand eine Landkarte unter einem Stapel von Kassetten und faltete sie auf dem Armaturenbrett auseinander. »Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, ist nur um die siebzig Kilometer von hier entfernt.«

»Welche Richtung?«

»Südost. Auf der 99

Shep lenkte so jäh nach links, dass Mike sich um ein Haar den Kopf am Fenster gestoßen hätte. Als er aufblickte, sah er das Freeway-Schild an der Auffahrt vorbeifliegen. Innerhalb der nächsten Stunde würde er auf der Veranda des Hauses stehen, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Er konnte es fast nicht glauben.

Ein Pochen in den Schläfen erinnerte ihn daran, dass er aufgehört hatte zu atmen. Im Spiegel der Sonnenblende erhaschte er einen zufälligen Blick auf sein Gesicht. Seine verschiedenfarbigen Augen – eines braun, eines bernsteinfarben – starrten ihm aus einem blassen Gesicht entgegen. Nachdem er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, kam wieder ein bisschen Farbe in seine Wangen.

Er fand einen roten Stift im Handschuhfach und kreiste die Städte ein, die namentlich aufgetaucht waren, seit Dodge und William sich an seine Fersen geheftet hatten. Sacramento mit Rick Grahams Antiterrorismusbehörde. Redding, die letzte bekannte Adresse von William Burrell. Red Bluff, das Revier von Kiki Dupleshney. Chico, die ehemalige Heimat von Mikes Eltern. Alles innerhalb eines Durchmessers von gut 200 Kilometern in Nordkalifornien.

Shep fuhr weiter und schwieg weiter, und Mike war ihm dankbar dafür.

Er schob die Karte beiseite und blätterte weiter in seiner Mappe. Das alte Polaroidfoto von seinem Vater, dessen von der Sonne ausgeblichenes Gesicht seinem so sehr ähnelte. Und dann Unmengen von Daten über Mike und seine Freunde und Bekannten, viele von den Informationen, die er schon in dem Ordner aus dem lädierten Van gefunden hatte.

Auf der Titelseite klebte eine mit Schreibmaschine getippte Notiz. Kein Briefkopf, keine Unterschrift, kein Wasserzeichen.

Namen der Eltern: John und Danielle Trenley.
Ihr Deckname: Dana Gage, die erwachsene Tochter der ehemaligen Nachbarn der Trenleys. Sie sind die Testamentsvollstreckerin der Trenleys. Sie haben ein nicht unbeträchtliches Vermögen zu übergeben, aber das geht erst, wenn Ihnen Michael Wingates Herkunft und Familiengeschichte bestätigt worden ist. Wenn er unser Mann ist, werden seine Reaktionen auf das Thema Eltern emotional und unvorhersehbar sein. Er wurde als Vierjähriger von ihnen ausgesetzt.
Versuchen Sie nicht, Kontakt mit uns aufzunehmen.
Wir werden Sie finden.

Mike umklammerte den Zettel so fest, dass sein Daumen eine Kerbe im Papier hinterließ. Er entspannte seine Hand und las die Nachricht ein zweites Mal.

Die Formulierungen waren zu klar, als dass sie von William oder Dodge stammen konnten. Mike tippte eher, dass dieses Dokument aus Rick Grahams Behörde mit dem beeindruckenden Namen stammte. Was »Trenley« anging, so hatte Hank keinerlei Angaben zu einem John oder einer Danielle Trenley gefunden. Hatte Graham Kiki einen falschen Namen gegeben, um jeden späteren Rechercheversuch zu vereiteln?

Shep hatte irgendetwas gesagt.

»Was?«, fragte Mike.

»Du solltest vor zehn Minuten Danville anrufen.«

Mike rief an, und Hank nahm ab, obwohl er gerade mitten in einem heftigen Hustenanfall steckte.

»Alles klar bei dir?«, fragte Mike.

»Von den Schmerzmitteln muss ich kacken wie ein Hase, aber zumindest bin ich kein Terrorist auf der Flucht.«

Mike schilderte ihm die Fakten in groben Zügen. Er beschönigte die Tatsache, dass er Kat verlassen hatte, und versuchte es klingen zu lassen wie eine nebensächliche Tatsache unter vielen anderen. Trotzdem kommentierte Hank sie mit einem: »Oh, mein Gott.«

»Beobachten Sie dich denn immer noch?«, fragte Mike.

»Ich hab mein Bürotelefon gestern gecheckt, irgendwas konsumiert da ganz eindeutig ein paar zusätzliche Volt. Wahrscheinlich haben sie was am Verteilerkasten eingebaut. Was bemerkenswert ist.«

»Wieso?« Ein Auto der Highway-Polizei kam ihnen entgegen und passierte sie. Mike drehte sich um und sah ihm nach, bis es seinen Blicken entschwunden war.

»Wenn es legal wäre«, erläuterte Hank, »dann würden sie die Leitung beim Telefonanbieter anzapfen oder eine elektronische Wanze benutzen, und das wären beides Möglichkeiten, die man nicht entdecken kann. Das bedeutet also, dass Graham ohne richterlichen Befehl abhört. Wenn du Beweise vorlegen kannst – ich meine, konkrete Beweise für Korruption in seiner Ermittlung gegen dich, oder seine Verbindung zu William und Dodge …«

»Wir arbeiten dran. Und dabei haben wir die Nummernschilder eines Pick-ups rausgekriegt, den Dodge und William gefahren haben, als sie Kiki Dupleshney angeheuert haben. Kannst du das Kennzeichen für mich überprüfen?«

»Klar. Mal sehen, ob ich mich über einen Ex-Kollegen in die Datenbank einloggen kann, dann hinterlässt meine Anfrage nämlich keine Spuren. Wie lautet die Nummer?«

Mike las sie vor.

»Wo kann ich dich zurückrufen?«, wollte Hank wissen. »Keine Sorge, ich benutz ein Münztelefon.«

Mike gab Hank seine Nummer, der sie zweimal wiederholte, um sie sich einzuprägen.

»Hör mal Mike … mit meinen ganzen Arztrechnungen und meinen … Vorbereitungen, die sich so treffen muss, bin ich gerade ein bisschen knapp bei Kasse. Du kannst mir in deiner Situation ja schlecht einen Scheck schicken …«

»Hank, entschuldige.« Mike schlug sich mit der Hand vor den Kopf, erschüttert über seine Gedankenlosigkeit. »Ich hab Bargeld. Jede Menge. Ich war einfach nur total …«

»Schon gut. Mach dir keinen Kopf.«

Mike machte die Tasche zu seinen Füßen auf und warf einen Blick auf das Geld. »Sind zwanzigtausend genug?«

»Zu viel.«

»Nicht annähernd«, entgegnete Mike.

»Ich dachte mir, dass ich sowieso mal die Stadt verlassen möchte, um meinen Beobachtern zu entkommen. Und … na ja, führen ja eine Menge Straßen nach Norden, stimmt’s?«

In der Windschutzscheibe spiegelte sich die Landkarte, und die roten Kreise, die Mike darauf eingezeichnet hatte, sahen aus wie eine Ansammlung von Bienenkörben. Er konnte nicht abstreiten, dass er es auch fühlte, wie sich alles zuspitzte, als wären die letzten einunddreißig Jahre ein Trichter gewesen, der auf diese paar Quadratzentimeter einer Landkarte mündete. »Ja«, sagte er. »Da hast du wohl recht.«

»Ich fahr in eure Richtung los, dann können wir uns persönlich treffen. Verdammt, vielleicht kann ich dir doch noch mal von Nutzen sein.« Hank lachte kurz auf. »Ein letztes Hurra. Ich ruf dich an, wenn ich die Nummernschilder gecheckt hab. Ich muss zusehen, wie ich das unauffällig hinkriege, könnte also ein bisschen dauern.«

Ein Schild flog an ihnen vorbei. »CHICO – 75 KM«.

»Passt schon«, sagte Mike. »Ich brauch sowieso noch ein bisschen Zeit.«

 

Der Weg von der Straße zum Haus lag vor Mike wie ein Betonpfeil, der direkt auf die Tür wies. Er stand am Bordstein und hatte die Hände in die Taschen geschoben. Der kalte Wind biss ihn in die Knöchel und den Hals, als er vor dem Haus stand.

Vor seinem Haus.

Vieles hatte sich verändert, aber er erkannte die Veranda wieder und die geteerten Dachschindeln und die leicht fächerförmige Auffahrt. Ihm wurde klar, dass er diese Fensterläden unbewusst an seinen Traumhäusern in »Green Valley« wiederholt hatte. Die Erinnerung an diesen Ort stieg aus der Dunkelheit empor, wie ein Anker, der aus trübem Wasser nach oben geholt wird und weitere Details aus der Tiefe mit sich bringt. Er wusste, dass die knorrige Kiefer im Garten nach Weihnachten roch, wenn es regnete, dass die Terrasse hinterm Haus leicht nach links abfiel, dass die Regenrinne über dem Fenster an der östlichen Hausecke immer Tropfenmuster auf seine Fensterscheibe gezeichnet hatte. Er erinnerte sich an die großen Lavasteine, die an der Grenze zum Gehweg gelegen hatten, und wie er immer versucht hatte, so einen Stein umzudrehen, um eine Eidechse darunter zu fangen. Wenn er danach seine Handflächen anschaute, waren sie blutverschmiert. Seine Mutter in der Küche versuchte, eine kreisende Schmeißfliege mit einer Zeitschrift zu verjagen – Komm, Schätzchen, die scheuchen wir hier raus. Der Kerl ist ein schlechtes Omen. Fast erwartete er, seinen Vater mit aufgekrempelten Ärmeln auf den Stufen der Verandatreppe sitzen zu sehen, wie er eine Zigarre rauchte. Wie würde er jetzt aussehen, wenn er noch leben würde?

Im Hausinneren hatte sich eine junge Familie um einen Küchentisch versammelt. Die beleuchtete Szene hatte beinahe etwas Festliches, wenn man sie von der dunklen Straße betrachtete. Mike sah, dass es keine gelben Fliesen mehr gab – langsam herunterbrennende Salbeisträußchen und die Mutter, die gerade die Teller abräumte, lächelte und scherzte, ihre Haut, die auch im Winter braun blieb, roch schwach nach Zimt. In der Auffahrt parkte ein Minivan. Na, Kumpel, gefällt dir unser neuer Kombi? Schau mal, mit Holzvertäfelung, aber das ist kein echtes Holz. Hier, fahr mal mit den Fingern drüber – und er drehte sein Gesicht in den Wind und ließ die Augen über das Haus der Familie Gage wandern – mintfarbene Zierleisten, der Dobermann hat den Mechaniker gebissen – und betrachtete die alte Dame, die auf der Hollywoodschaukel auf der Veranda saß, geduldig und voller Falten, wie die Zeit selbst. Er blickte die Straße der durchgeplanten Wohnsiedlung hinunter bis ans Ende, wo er einen eingezäunten See erblickte – ja, genau, da war wirklich ein See. Er rutscht auf einem moosbewachsenen Stein aus, und die Hand seines Vaters schließt sich um seine Schulter, fest und beständig, und bewahrt ihn vor einem Sturz ins Wasser – und der Wind trug den Algengeruch, der der Brise ihr nasses Gewicht verlieh, bis zu ihm. In der anderen Richtung war am Ende ein Hügel zu sehen, der mit dichtem Baumbestand gesäumt war, und oben stand ein Schild, das angerostet und vom Zahn der Zeit sichtlich zernagt war. ACHTUNG, EXTREMES BLITZEIS! stand darauf, und das große schwarze X löste etwas, was tief in Mikes Erinnerung begraben war und jetzt an Deck gezogen wurde, wo es sich wand und krümmte. Hey, Joe, kennst du irgendwelche Straßennamen mit X? Wie wär’s mit Scheiß-Xanadu?

Er hatte völlig vergessen, dass Shep neben ihm stand. Er spuckte in den Rinnstein und trat gegen die Bordsteinkante. Mikes Beine kribbelten. Wie lange stand er hier schon?

Die alte Dame auf der Veranda der Gages hatte ihre Strickarbeit aus der Hand gelegt und stand auf, eine Anstrengung, die ihr eine Grimasse entlockte. Mike eilte zu ihr. »Ma’am, entschuldigen Sie die Störung, aber wohnen Sie hier schon lange?«

Die verhutzelte alte Frau blieb mit geschürzten Lippen an der Fliegengittertür stehen. Trotz der hervortretenden Venen sahen ihre Hände jung und stark aus, und der Häkelschal, den sie sich über die Schultern geworfen hatte, verströmte ein angenehmes Aroma von Kaffee und Zigarettenrauch. »Was heißt lang für Sie?«

»Sie sind Mrs. …?«

»Geraldine Gage.«

Seine Kehle machte ein trockenes Geräusch, als er schluckte. »Ich bin Reporter und recherchiere …«

Sie ließ die Fliegengittertür los, die daraufhin ins Schloss fiel, und deutete nach nebenan. »Ich hab schon gesehen, dass Sie sich da umgeschaut haben. Ist schon Jahre her, dass jemand hier gewesen ist und Fragen gestellt hat.«

»Über den … Vorfall?«, fragte Mike vorsichtig.

»Nennt man das so?«

»Wie würden Sie es denn beschreiben?«

»Mehr wie einen Nicht-Vorfall. Eine ganze Familie verschwindet so einfach von heute auf morgen? Ohne eine Spur zu hinterlassen? Nach einer Weile hat sich die Bank in aller Stille das Haus zurückgeholt, und dann ist eine neue Familie eingezogen, und nach denen wieder eine andere. Das Leben geht weiter. Muss es wohl, schätze ich.«

Die Hollywoodschaukel schwang im Wind hin und her und quietschte leise.

»Glauben Sie …? Hatten Sie den Eindruck, als wäre das die Sorte Leute, die früher oder später Ärger kriegen?«

»Sie meinen, ob sie sich das selbst zuzuschreiben hatten?« Sie lachte trocken. »Eines hab ich im Leben gelernt, nämlich, dass man grundsätzlich gar nichts weiß. Aber im Grunde – nein, die verhielten sich bestimmt nicht wie Leute, die gerne mal mit dem Feuer spielen. Und wenn sie Feinde hatten, hat man es zumindest nie gemerkt. Deswegen war das Ganze ja auch so schockierend. Sie sahen einfach nicht so aus, als könnte ihnen so was zustoßen.« Sie schüttelte den Kopf, als würde sie sich über sich selbst ärgern. »Wenn man so was überhaupt sagen kann.«

»Wie war mein …« Er konnte sich gerade noch bremsen und räusperte sich hastig. »Wie war ihr Nachname?«

»Sollten Sie das nicht wissen, wenn Sie einen Artikel über sie schreiben?«, fragte sie zurück.

»Ich schreibe eine Retrospektive über mehrere Fälle wie diesen. Manchmal verwechsle ich die Familien.«

»Sie hießen Trainor«, erklärte sie. »Mit einem o.«

Trainor.

Er ertappte sich dabei, wie er den Namen laut aussprach, als wollte er ihn auf der Zunge schmecken.

John und Danielle Trainor.

Michael Trainor.

Nach all den Jahren, nach den Verhören in seiner Kindheit, den Röntgenbildern und Zahnuntersuchungen, mit denen man sein Alter zu bestimmen versucht hatte, nach den Rechnungen für den Privatdetektiv, den Recherchen in unzähligen Datenbanken, nach all dem und noch mehr, hatte er zu guter Letzt einen Namen.

Seinen Namen.

Der falsche Name, den man Kiki genannt hatte, »Trenley«, war dem echten ähnlich genug, um vage Assoziationen hervorzurufen. Aber sein echter Name war ihm genauso wenig vertraut, und Mike war bestürzt, dass es ihm nicht möglich war, ein Echo in sich zu finden.

Geraldine Gage hatte sich wieder umgedreht, um die Fliegengittertür zu öffnen.

»Wie waren sie so?«, platzte er heraus.

Sie hatte schon einen Pantoffel auf die Schwelle gesetzt, als sie erneut innehielt. »Wie gesagt, ganz normale Leute. Ziemlich verliebt – wenn sie spazieren gingen, hielten sie Händchen, als wären sie noch in den Flitterwochen. Wir mochten sie. Sie war anmutig, ein bisschen hippiehaft und … heute würde man sie wohl eine Draufgängerin nennen. Schönes, langes schwarzes Haar. Und er war auch ein netter Kerl. Er hat Glen immer mal geholfen … Sie wissen schon, mal ein Sofa getragen, mal die Leiter festgehalten. Ein gutaussehender Mann. Er sah ein bisschen aus wie … ein bisschen wie Sie, wenn mich die Erinnerung nicht trügt.« Ihr Blick wurde intensiver. »Sie hatten einen kleinen Sohn.«

Mike nickte, weil er seiner Stimme nicht traute.

»Der müsste jetzt so alt sein wie Sie«, stellte sie fest. »Michael, oder?«

»Ich glaube, ja.«

Der Wind blies einen noch belaubten Zweig mit einem fast musikalischen Geräusch über die Holzschindeln der Veranda.

»Hören Sie, ich muss jetzt wirklich rein«, sagte sie.

Seine Stimme hörte sich an, als würde sie jemand anders gehören. »Und der Junge?«, fragte er. »Wie war das mit dem Jungen?« Sein Gesicht brannte. »Sah es so aus, als würden sie ihn sehr lieben? Ich meine, egal was passiert ist, ist ja ein ganz schönes Ding, ein Kind einfach so zu entwurzeln.«

Sie sinnierte einen Augenblick. Ihr Rücken war leicht gebeugt, ihre Schultern im Wind gekrümmt. Sie schien zu spüren, wie viel ihm ihre Antwort bedeutete, aber vielleicht bildete er sich das auch bloß ein.

»Er wurde sehr geliebt«, sagte sie.

Die Fliegengittertür fiel hinter ihr zu.

Er blieb noch ein paar Sekunden stehen und lauschte den Grillen.

Shep wartete im Auto. An der Beifahrertür blieb Mike noch einmal stehen und sah zu seinem alten Zuhause hinüber. Das kleine Mädchen stand auf einem Schemel vor dem Waschbecken und bürstete sich die Haare vorm Schlafengehen. Ihre Bewegungen waren unkoordiniert, die Bürste blieb bei jeder Klette hängen. Sie konnte kaum sechs sein.

Das Handy vibrierte in seiner Tasche, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis das Geräusch durch seinen Trancezustand drang.

»Die Nummernschilder gehören zu einem GMC Sierra 1500 Pick-up.« Hanks Stimme klang ganz aufgeregt. »Ist auf eine Firma zugelassen, das Deer Creek Casino.«

»Ein Casino?«, wiederholte Mike.

»Und rate mal, wo das ist?«, fuhr Hank fort.

»Wo?«

»Du bist doch in Chico, stimmt’s? Schau mal Richtung Nordosten. Siehst du den Berg da?«

»Es ist dunkel.«

»Ach so. Na gut, also, das ist der Mount Lassen. Das Casino liegt da irgendwo am Berghang. Ich bin sicher, du wirst die Werbetafeln noch zu sehen kriegen.«

»Mein Familienname lautet Trainor«, sagte Mike.

Eine Schweigepause. Im Haus hatte das Mädchen mittlerweile die meisten Kletten ausgebürstet. Ihr honigblondes Haar sah weich und flaumig aus. Als sie das Badezimmerlicht ausknipste, blieb sie kurz stehen, weil sie ihn neben dem Auto mit dem laufenden Motor stehen sah.

»Trainor mit o?«, fragte Hank nach.

»Genau.«

»Ich mach mich jetzt auf den Weg, aber ich seh mal zu, was ich so rauskriegen kann.«

Das kleine Mädchen hob ihre Hand zu einem wortlosen Gruß. Mike winkte zurück. »Ich auch.«