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Das Flüsschen, das sich Deer Creek nannte, verlief neben der Straße. Mal schoss es davon, dann kehrte es flirtend wieder zurück, ein kleiner Strom, der sich aus Schmelz- und Regenwasser speiste und über ein Bett aus Lavagestein dahinschoss. Schmale Landschaftsausschnitte glitten undeutlich vorüber – die schwächlichen Scheinwerfer des Pinto konnten kaum mit dem Tempo der topografischen Veränderungen mithalten. Erst verstreute Gärten mit Sprinkleranlagen, die über Walnuss- und Olivenbäume regneten. Dann kamen die Gebirgsausläufer, blaue Eichen, die sich über riesige gelbe Wiesenflächen zogen. Schließlich hatte Mount Lassen sie ganz geschluckt. Dichtes Salbeigestrüpp bedrängte die Radkappen, Kiefern und Pinien schoben sich aus dem roten Lehmboden, Felsenplateaus dehnten sich über ihnen aus. Die nächtliche Brise, die durch Mikes Fenster hereindrang, reinigte seine Lungen und seine Gedanken.

Die Ausschilderung war mehr als ausreichend, und der Verkehr wurde immer dichter, als sie sich dem Deer Creek Casino näherten. Schließlich kam das Gebäude in Sicht, das von außen eher einem Einkaufszentrum ähnelte und sich auf einer ins Gelände gegrabenen Ebene ausdehnte. Auf dem Parkplatz ging es zu wie in einem Bienenstock, Autos warteten auf einen Parkplatz, Reisebusse spuckten Seniorengruppen aus, Angestellte des Casinos, die eine kurze Pause machten, standen an den Ausgängen und probierten aus, wo ihr Handy Netz hatte. Ein Van mit der Beschriftung Zentrum für aktives Leben mit dem Logo einer zwinkernden Smiley-Sonne entlud einen Rollstuhlfahrer nach dem anderen mit seinem mechanischen Lift. Ein paar einsame Demonstranten marschierten vor dem Eingang auf und ab, rauchten Zigaretten und ignorierten die hereinströmenden Glücksspieler, wie sie auch von diesen ignoriert wurden. Es gab keine Las-Vegas-Beleuchtung, keine Showgirls und kein Glitzer – es hätte genauso gut ein riesiger Supermarkt sein können.

Shep fuhr langsam den ganzen Parkplatz ab. An der Seite, direkt neben den großzügig bemessenen Behindertenparkplätzen, befanden sich die Stellplätze für die Mitarbeiter, die einzeln mit Namen und Titel beschriftet waren. Shep stellte das Auto auf dem Parkplatz für den Leiter des Finanzwesens ab, dann stiegen sie aus und gingen die Reihe der Fahrzeuge ab. Fast jeder Wagen trug ein Kennzeichen, das den Fahrer als Mitglied einer staatlichen Polizeibehörde auswies, und dazu diverse Hochglanzaufkleber – Stiftung für die California Highway Patrol, Sheriff Booster Club, Freunde des Sacramento Police Department.

Mike hätte jederzeit Geld auf den grünen Filz eines Spieltisches gelegt und gewettet, dass die Geschäftsführung des Casinos auch eine enge Beziehung zu Grahams Antiterrorismusbehörde unterhielt.

Vor einem schwarzen Sierra-Pick-up blieb er stehen und deutete auf das Kennzeichen, das von dem Logo einer Kinderhilfsorganisation und einem reflektierenden Aufkleber der Feuerwehr flankiert wurde. Die Nummer entsprach der, die sich Kiki Dupleshney notiert hatte – dies war also der Wagen, den William und Dodge gefahren hatten, als sie die Betrügerin anheuerten.

Mike umrundete den Pick-up und fuhr dabei mit dem Finger über den Lack. Am Rückspiegel hing ein Parkausweis an einem Schlüsselband. Von dem viereckigen Passfoto starrte ihm William entgegen, dessen Gesichtszüge mit dem leutseligen Grinsen sanfter aussahen als gewöhnlich. Ein vorbildlicher Mitarbeiter.

»Wir sollten …«, begann Mike.

Doch Shep war schon im Pick-up und schob sich gerade sein Dietrich-Set wieder in die Brusttasche.

Mike ging in die Hocke, um die Beschriftung auf dem Parkplatzschild zu lesen: WILLIAM BURRELL, SICHERHEITSTECHNIK. Shep durchwühlte unterdessen das Handschuhfach und fand einen Abschnitt eines Gehaltsschecks. Er reichte ihn Mike. Über seinem Daumen stand noch einmal dieselbe Jobbezeichnung zu lesen. Eine gruselige Beschönigung von Williams eigentlicher Tätigkeit.

Mike warf einen Blick auf den Zettel. »Keine Steuerabzüge. Selbständigen kann man schlechter hinterherschnüffeln, da fehlen die ganzen Dokumente vom Finanzamt. Deswegen konnte Hank ihn auch nicht finden.«

In der Ferne hörte man den klirrenden Münzregen eines Jackpots, gefolgt von Jubelschreien. »Hier endet die Spur also«, stellte Shep fest. »Diese Leute hier bezahlen die Killer, die hinter dir und deiner Familie her sind.«

Keine Einzelperson, dachte Mike, sondern ein Scheißcasino.

»Stellt sich bloß die Frage, warum?«, fuhr Shep fort.

Die gelben und türkisenen Buchstaben auf dem Schild über dem Casinoeingang wühlten irgendetwas in Mikes Innerstem auf, aber er konnte das Gefühl nicht recht benennen. Einer der Demonstranten interpretierte seinen Blick falsch und drehte sein Schild, so dass er die Aufschrift besser lesen konnte. WARUM ZAHLEN WIR STEUERN, WÄHREND SICH DIE CASINOS IN ALLER RUHE WEITER BEREICHERN KÖNNEN? Mike hob dankend die Hand – Danke, jetzt konnte ich’s lesen – dann wandte er den Blick zum Eingang. »Wollen wir mal reingehen und uns umschauen?«

»Ich kann nicht«, sagte Shep, der immer noch im Handschuhfach kramte. »Casinos fischen mich gleich raus mit ihrer Gesichtserkennungssoftware.«

»Echt, die benutzen so was?«

»Klar. Die suchen nach Systemspielern, Trickbetrügern, Kartenzählern, bewaffneten Räubern …« Er legte eine kleine Kunstpause ein. »… und Tresorknackern.« Shep richtete sich auf und hatte ein John-Deere-Käppi und eine halbvolle Tüte Sonnenblumenkerne in der Hand. »Aber du kannst doch.« Er setzte Mike schwungvoll das Baseballkäppi auf und hielt ihm eine Handvoll Sonnenblumenkerne hin. »Du bist nicht in den Datenbanken der Casinos gespeichert. Aber für den Fall, dass sie auch die Fahndungslisten der Polizeibehörden anzapfen, kau einfach die Kerne hier und stopf sie dir in die Wangen und hinter die Lippen. Das verändert die Form deines Gesichts genug, dass die Software dich nicht erkennt.«

Bei dem Gedanken, Essen zu kauen, das für Williams Mund bestimmt war, beflog Mike leichte Übelkeit. Er zerkaute ein paar Kerne und stopfte sich den Brei hinter die Unterlippe wie ein Stückchen Kautabak. Als er fertig war, starrte er zum Casino. Da drin waren sie also.

»Für den Fall, dass William und Dodge mich kriegen, würde ich dir gern anvertrauen, wo Kat ist.«

»Nein«, sagte Shep.

»Nein?«

»Ich will es nicht wissen«, beharrte Shep. »Die Chance, dass sie mich hier draußen erwischen, ist genauso groß. Und jeder Mensch hat einen Punkt, an dem er einknickt.«

»Und du meinst, dass der bei mir später kommt als bei dir?«, fragte Mike.

»Ich bin nicht ihr Vater«, gab Shep zu bedenken.

Mike nickte kurz und steuerte dann auf das Gebäude zu.

 

Blinkende Lichter und klingelnde Automaten, kalter Rauch und erfrischende Klimaanlagenluft, die salzigen Spuren des Sonnenblumenkernbreis, den Mike sich in die Lippen und Wangen gestopft hatte – das ganze adrenalingetränkte Erlebnis gewann eine verwirrende Hyperrealität. Ältere Herrschaften versuchten einen Platz an den Fünf-Dollar-Tischen zu ergattern. Rollstuhlfußstützen stießen gegen überladene Standaschenbecher. Cocktailkellnerinnen trugen Blusenkleider mit Indianer-Ethno-Print und Schlitz am Oberschenkel. Sie liefen mit ihren Tabletts mit Wodka-Red Bull und Whiskey-Cola herum und verbreiteten gute Laune wie verruchte Ausgaben von Disneys Pocahontas. An den Wänden hingen Ölbilder von majestätisch durch die Lüfte segelnden Adlern.

Eine Gruppe von Angestellten schob einen Karren durch die Gänge, nahm münzenrasselnde Metallbehälter aus den Spielautomaten und stapelte sie auf ihrem flachen Wagen wie kleine Spielzeuggoldbarren. Mike fiel auf, dass diese Mitarbeiter die Einzigen waren, die ihre Arbeitskleidung offenbar nicht von Sergio Leone bekommen hatten. Mit ihren schwarzen Hosen und weißen Poloshirts mit Deer-Creek-Logo auf der Brust sollten sie sogar in der Menge untergehen, damit kein Gast daran erinnert wurde, dass dieses ganze Spektakel mit seinem Geld finanziert wurde, welches mit solchen Gefährten in die Tresorräume des Casinos befördert wurde.

Die Gänge, die durch das organisierte Chaos führten, trugen männlich klingende Namen wie »Antilopen-Pfad« oder »Tomahawk-Weg«, aber mit den blinkenden Hinweisschildern konnten sie dann doch nicht mithalten: FEUERWASSER! stand dort. WAMPUM! REGENMACHERZIMMER! Im »Pow-Wow Palace« wurden Die Lockheed-Pensionisten und Die Freunde von Yuba City Jazz willkommen geheißen. Auf einer glänzenden Tafel auf einer Staffelei wurde das Rib-Eye-Steak-Special für 2,95 Dollar empfohlen, und nächsten Monat sollten Earth, Wind & Fire im »Großen Tipi« spielen.

Ein übergewichtiger Mann fuhr auf seinem Elektromobil vorbei, das fast unter ihm verschwand. Neben ihm ging seine Frau, die gerade einen Traumfänger aus dem Geschenkeshop betastete. Der Blick des Mannes blieb an einem Barkeeper mit Häuptlingskopfputz hängen, der den Teilnehmerinnen einer Junggesellinnenparty ihre Woo-Woo-Cocktails servierte.

»Lieber Gott«, tönte er, »nervt das die Indianer denn nicht?«

»Indianer«, kicherte sie. »Ich hab hier noch keinen Mitarbeiter gesehen, der nicht Mexikaner gewesen wäre.«

Mike hielt so angestrengt Ausschau nach William oder Dodge, dass er beinahe über einen Rollator gestolpert wäre, über dessen hintere Füße Tennisbälle gestülpt waren. Er war so übermüdet, dass ihn dieses ganze Schauspiel heillos nervös machte. Er hatte keine Ahnung, wonach er suchte.

Schließlich stellte er sich an eine Wand und zog sich den Schirm seiner Mütze tief über die Augen. Ein Casino mochte zwar so wirken, als könnte man perfekt in der Menge untergehen, aber die kleinen schwarzen Kuppeln an der hohen Decke, hinter denen sich die Sicherheitskameras versteckten, waren ihm nur zu bewusst. Sein Ellbogen stieß gegen eine Glasscheibe und erzeugte ein klirrendes Geräusch, und als er sich umdrehte, starrte ihn Rick Grahams Gesicht von einem Foto an, das in einem in die Wand eingelassenen Schaukasten hing.

Sein Atem beschleunigte sich, als er plötzlich diesem Gesicht gegenüberstand.

Graham hatte einen Arm seitlich ausgestreckt, um auf eine Reihe von Computern zu deuten, als wären sie der Preis in einer Gameshow. Sein dichtes graumeliertes Haar, seine gekräuselten Lippen, seine Pitbull-Statur. Mike sah ihn vor sich, wie er an ihrer Haustür erschienen war, während Annabel hinter Mike auf dem Wohnzimmerfußboden zu verbluten drohte. Die Zentrale hat den Notruf durchgegeben. Ich war mit meinem Streifenwagen am nächsten an Ihrem Haus. Mit Bitterkeit erinnerte er sich an die enorme Erleichterung, die er bei Grahams Erscheinen gespürt hatte – endlich Hilfe.

In dem Artikel aus der Sacramento Bee, der zu diesem Foto gehörte, wurde berichtet, wie das Deer Creek Casino der Antiterrorismusbehörde Gesichtserkennungssoftware und mehrere Computer gespendet hatte. Graham, Einwohner von Granite Bay, Kalifornien, wurde als örtlicher Held gepriesen.

Verstört blickte Mike zum oberen Rand des Schaukastens, wo die fröhliche Überschrift prangte: DEER CREEK IN DER GESELLSCHAFT!

Er trat einen Schritt zurück, überwältigt von den ganzen Zeitungsartikeln, mit denen das Schaufenster tapeziert war. JACKPOT! – STIFTUNG FÜR POLIZISTENWITWEN ERHÄLT GROSSZÜGIGE SPENDE VON CASINO, STAMM UNTERSTÜTZT MELDEPFLICHT FÜR SEXUALSTRAFTÄTER, DEER CREEK SPENDET DEM STAAT SECHS NEUE DIGITALE ANZEIGETAFELN FÜR MELDUNGEN ÜBER VERMISSTE KINDER. Des Weiteren Motorradhelme für die California Highway Patrol und Waffenschränke für diverse Sheriffstationen. Das Casino hatte dem Sacramento Police Department neue Westen für ihr SWAT-Team gestiftet. Und dem San Francisco Police Department. Und dem Los Angeles Police Department. Ein kleines Foto zeigte einen Mann mit teurem Anzug und Cowboyhut, der dem Gouverneur höchstpersönlich die Hand schüttelte. Der Gouverneur hatte ihm einen Arm um die Schultern gelegt und grinste breit in die Kameras, wie Mike es damals auch getan hatte. Mit dickem Filzstift hatte er eine Widmung quer über das Foto geschrieben – Für das Deer Creek Casino – meine Freunde und Freunde Kaliforniens – und darunter seine ausladende Unterschrift gesetzt.

Von Anfang an hatte die Polizei Front gegen Mike und seine Familie gemacht. Hanks Worte schossen ihm durch den Kopf: Sie werden trotzdem verdächtigen, wen sie verdächtigen sollen, und beobachten, wen sie beobachten sollen.

Das Deer Creek Casino hatte die Verbindungen und den Einfluss, um Mikes Familie das Leben zur Hölle zu machen. Aber was für ein Motiv steckte dahinter?

Warum wollten diese Leute seine Tochter und ihn umbringen?

Der Gedanke war wie eine Schlange, die irgendwo tief in seinem Stammhirn lauerte. Als sie sich bewegte, spürte er es bis ins Rückenmark.

Eine Kellnerin trat aus einer Tür neben ihm. Für einen Moment konnte er einen Blick auf den dahinter liegenden Korridor erhaschen, von dem offenbar die Büros abgingen. Ihr Tablett war leer.

»Entschuldigen Sie bitte. Wo kann ich denn mehr über diesen Indianerstamm herausfinden?« Er überlegte, ob sie nah genug vor ihm stand, um die Sonnenblumenkerne zu sehen, die er sich hinter die Lippen gestopft hatte.

Sie lächelte ihn unter ihrem Indianerhaarband an und die seitlich befestigte Feder wippte über ihren roten Locken. Ihr Teint war blass und sommersprossig, sie hätte jederzeit als Irin durchgehen können. »Da hinten auf dem Treppenabsatz haben wir extra einen Bereich für den Stamm eingerichtet.«

Wie im Traum ging Mike die Treppen hoch, trat durch einen gemauerten Bogen mit der Überschrift DIE GESCHICHTE DES DEER-CREEK-STAMMES und stand dann in einer Art schlecht gemachter Geschichtsausstellung. Die Lichter waren respektvoll gedimmt, verblichene Fotos und museumsartige Bildunterschriften vor schwarzem Samt. Ein paar Touristen schlichen widerstrebend durch die Ausstellung, als müssten sie ein Bildungsprogramm abhaken. Aus versteckten Lautsprechern tönten knisternde alte Aufnahmen indianischer Gesänge, die Mike mit Schwitzhütten und Zeichentrickfilmen am Sonntagmorgen assoziierte. Wie der Rest des Casinos erinnerte auch dieser Raum in erster Linie an Disneyland.

Auf einem Bildschirm war ein Indianer mit kupferfarbenem Teint zu sehen, der die Eintretenden begrüßte. Das computergenerierte Gesicht wies die archetypischen Züge eines amerikanischen Ureinwohners auf – hohe Wangenknochen, voller Mund, beeindruckende Nase, aufrechte Haltung. Das faltige, stoische Gesicht war von ursprünglicher Weisheit durchglüht. Ungläubig und entsetzt starrte Mike das geflochtene blauschwarze Haar an. All die Fragmente und Vorahnungen fügten sich auf einmal zu einem schockierenden vollständigen Bild zusammen.

»Willkommen, Freunde. Folgt dem Pfad, und ich werde euch die Geschichte des Deer-Creek-Stammes erzählen.«

Mike ging weiter. Sein Kopf fühlte sich benommen an und wie in Watte gepackt, als wäre er gerade aus einer Vollnarkose erwacht. Fotos und Zeitungsausschnitte erzählten die versprochene Geschichte.

»Das Volk vom Deer Creek«, setzte der Indianer seinen feierlichen Sermon auf dem nächsten Flachbildschirm fort, »lebt wahrscheinlich schon fast viertausend Jahre in Nordkalifornien.« Während die salbungsvolle Stimme fortfuhr, riss Mike sich zusammen, so gut es ging, um sich auf die Ausstellungsobjekte zu konzentrieren. Verschiedene Skizzen zeigten Stammesmitglieder bei der Jagd mit Pfeil und Bogen, beim Fallenstellen, beim Fischen mit Harpune und Netzen. Die Frauen wurden dargestellt, wie sie Eicheln sammelten und mahlten und ihre Haare im Nacken zu doppelten Achterknoten flochten.

Mikes Füße bewegten sich in normalem Tempo, aber das Blut strömte ihm nun immer schneller durch die Venen.

Der nächste Abschnitt war den religiösen Vorstellungen des Stammes gewidmet. Spechte symbolisierten Wohlstand und Glück. Man hielt es für ungesund, das Gesicht beim Schlafen dem Mond zuzuwenden. »Und eine Schmeißfliege in der Strohhütte«, dozierte der virtuelle Indianer, »bedeutete, dass die Familie von Bösem verfolgt wurde

Ein Schauder kroch Mike über die Haut.

Aus dem Hintergrund stieg ihm der Geruch der Räucherstäbchen des Stammes in die Nase. Der Geruch seiner Kindheit.

Seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen, aber der digitale Museumsführer fuhr unbeirrt fort: »In ihrer Blütezeit belief sich die Zahl dieser stolzen Hokan-Sprecher, entfernten Verwandten des Yana-Stammes, auf fast zweitausend. Doch dann kam der Weiße Mann. Viele Indianer dieser Gegend wurden zum Abwandern gezwungen. Masern, Typhus, Pocken, Tuberkulose und Dysenterie dünnten die Reihen der verbliebenen Stammesmitglieder aus. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts kam es zu einer endlosen Reihe von Überfällen und Vergeltungsaktionen zwischen Ureinwohnern und weißen Siedlern, und viele Stämme wurden völlig ausgerottet. Doch glücklicherweise überlebte ein Rest des Deer-Creek-Stammes bis ins nächste Jahrhundert

Weitere Zeichnungen – trauernde Indianer mit geschorenem Haar, die Köpfe mit Pech bestrichen. Die Totenverbrennungen. Die kummervollen Gesichter. Mike versuchte den Indianer durch die Kraft seiner Gedanken dazu zu zwingen, seine pseudo-feierliche Nummer aufzugeben und in normalem Tempo weiterzusprechen, aber die Computeranimation ließ sich natürlich nicht beschleunigen. »Man gewährte ihnen ein eigenes bescheidenes Reservat, 800 Hektar, die von der Regierung treuhänderisch verwaltet wurden. Dann kamen die Geißeln der Moderne. Selbstmord. Diabetes. Alkoholismus. Im Laufe der Jahrzehnte wurde das Land zersplittert und aufgeteilt, bis kaum noch etwas übrig war. Um 1950 ging man davon aus, dass der Deer-Creek-Stamm ausgestorben war

Staubige Landkarten und laminierte Staatsverträge, die man säuberlich zu Heften gebunden hatte, bildeten die historische Abteilung der Ausstellung. Abkommen zwischen unabhängigen indianischen Nationen und den Vereinigten Staaten waren jedermann zugänglich, und die der Deer-Creek-Indianer wurden hier stolz ausgestellt. Innerhalb kürzester Zeit hatte Mike einen Sicherheitsübereignungsvertrag ausgemacht, Teil eines Abkommens zwischen Deer Creek Tribal Enterprises Inc. und der Staatsregierung. Das Casino – und die dazugehörige Betreibergesellschaft – wurden treuhänderisch von der US-Regierung verwaltet, genauso wie die letzten Überreste des Reservats.

Mike überflog den Text, und die juristischen Formulierungen, die ihm ins Auge sprangen, bestätigten nur, was er bereits erfasst hatte. Die Geschäftsführer waren zu treuhänderischen Verwaltern des Landes und der Wirtschaftsgüter ernannt worden – »mit allen dazu gehörenden Vollmachten«. Die Geschäftsführung blieb so lange zuständig, bis sich »ein Mitglied des Stammes für fähig und willens erklärte«, diese Pflicht zu übernehmen. Dieses würde dann zum alleinigen Treuhänder, mit »voller Macht und Entscheidungsgewalt« über das ganze Unternehmen.

Mikes Mund war bitter und trocken von den Resten der Sonnenblumenkerne.

Mit zitternden Händen blätterte er panisch ein paar Seiten zurück, bis er bei den Begriffsdefinitionen war: »Als ›Mitglied des Stammeswird in Übereinstimmung mit den Statuten des Stammes eine Person bezeichnet, die mindestens ein Achtel (1/8) Blut des Deer-Creek-Stammes nachweisen kann

Mike wurde innerlich ganz kalt.

Der Roboterindianer sprach schon seit einer geraumen Weile, wie Mike merkte, und wiederholte immer wieder dieselben Sätze. »Eines kalten Aprilmorgens 1977 entdeckten Wanderer eine Frau, die abgeschieden in einer Hütte wohnte. Ihr Name war Sue Windbird. Sie war die Letzte des Deer-Creek-Stammes

1977 – nur wenige Jahre, bevor Mike auf jenem Spielplatz ausgesetzt wurde. In seinem Kopf überschlugen sich die Vorahnungen, als er um einen Raumteiler herumging. Dann blickte er auf das Porträtfoto einer indianischen Frau. Es verschlug ihm den Atem.

Ihre Hände ruhten klauenartig zusammengekrampft auf der Wolldecke, die auf ihrem Schoß lag. Auf ihrem sonnenverbrannten Gesicht hatte sich jedoch eine spitzbübische Lebendigkeit gehalten, und auch ihre Zähne waren besser, als man bei ihrem Alter hätte erwarten können. Aber in erster Linie waren es ihre Augen, die Mike den Boden unter den Füßen wegzogen.

Eines war braun. Das andere bernsteinfarben.