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Die Negative waren überraschend unversehrt aus dem Wasser gekommen – abgesehen vom obersten, das sich noch in Mikes Händen aufgelöst hatte. Anfangs klebten sie noch zusammen, was aber ganz vorteilhaft war, weil dadurch die Streifen in der Mitte besser geschützt blieben. Während Mike sie am liebsten sofort genommen und zu Two-Hawks gebracht hätte, hatte Shep ihn gezwungen, sie nach dem Trocknen noch eine Weile liegen zu lassen, damit die Scheinwerfer ganz bestimmt noch das letzte bisschen Feuchtigkeit herausbrennen konnten. Inzwischen war es kurz nach Mitternacht, und Mike saß mit Two-Hawks in einem schalldichten Raum hinter der Kasse des Shasta Springs Miwok Casinos, wo die Jackpots ausgezahlt wurden. Der Tisch, der zwischen ihnen stand, war aus rostfreiem Stahl, und auf einem Metallkarren in der Ecke standen eine Geldzählmaschine, ein Taschenrechner ein schweres Telefon und eine Polaroidkamera. In diesem Zimmer hatte schon mehrmals das Schicksal eines Menschen eine entscheidende Wendung genommen, und Mike betete darum, dass es heute Nacht genauso sein würde.

Shep wartete draußen. Er hatte auf einer unbeleuchteten Straße in der Nähe geparkt und war bereit, ein Inferno zu entfesseln, sollte Two-Hawks nicht die versprochenen Informationen an Mike übergeben. Auf dem Weg zum Casino hatten Mike und Shep einen Zwischenstopp eingelegt, um dem wachsenden Stapel hinter dem Heizungsschacht ihres Motelzimmers noch etwas hinzuzufügen – den genealogischen Bericht des Deer-Creek-Stammes. Als Mike im nasskalten Lager stand und ihm die Scheinwerfer von hinten die Schultern wärmten, hatte er staunend auf den Stammbaum seiner Familie geblickt. Oben auf der nassen Seite prangte das offizielle geprägte Siegel. All die Namen und Daten, die Verzweigungen und Verflechtungen, eine Geschichte, von der er selbst ein Teil war. Als er den Platz sah, der für seinen eigenen Namen reserviert war, Michael Trainor, inmitten dieses weit verzweigten Clans, war er so überwältigt, dass er kein Wort über die Lippen brachte. Doch Stunden später, als das Wasser getrocknet und das Papier ganz steif geworden war, war ihm aufgegangen, dass all diese Worte nur Tinte auf Papier waren, dass er bereits seinen Platz in der Welt hatte. Der einzige Weg, wie er seinen Platz in diesem Zusammenhang beanspruchen konnte, führte über den Mann, der ihm jetzt gegenübersaß.

Two-Hawks hielt die Negative eins nach dem anderen ins Licht und betrachtete sie blinzelnd mit seinen feuchten, dunklen Augen. Kleine Fältchen überzogen seine Wangen. Zum einen würde sein Stamm natürlich seinen offiziellen Status behalten, aber es war offensichtlich, dass ihm diese Bilder noch viel mehr bedeuteten. Bedächtig nahm er sie in sich auf, eines nach dem anderen, und Mikes Geduld war inzwischen papierdünn.

»Danke«, sagte Two-Hawks. »Diese Bilder sind großartig. Von dieser Siedlung habe ich geträumt, seit ich ein kleiner Junge war. Haben Sie das gesehen?« Er schob Mike eines der zerbrechlichen Negative zu, aber der starrte ihn nur an.

Two-Hawks’ staunende Miene wurde zu einer verlegenen. Er schob seinen Drehstuhl zum Metallkarren und murmelte irgendetwas in sein Telefon. Wenige Minuten später trat Blackie ins Zimmer und stellte einen Schließfachbehälter vor Mike auf den Tisch.

Obwohl es kühl war, spürte Mike, wie ihm der Schweiß kitzelnd über die Rippen lief. Er hob den Deckel. Als Erstes fiel ihm auf, wie leer der Kasten war – ein paar einsame Blätter, die durch die längliche Metallbox segelten.

Ganz obenauf lagen Fotos aus Überwachungskameras – Brian McAvoy mit Dodge und William. Mehrere Treffen, jedes Foto mit einer anderen aufgedruckten Uhrzeit. Mike sah Two-Hawks an. Seiner Miene war zu entnehmen, dass er bis jetzt nicht sonderlich beeindruckt war.

»Unser Mann hat das Material darunter rausgeschmuggelt.« Mike hob die letzten Fotos hoch und entdeckte darunter einen Stapel Kopien – eine enge Handschrift und Zahlen auf liniertem Papier.

Bilanzen.

Nun schlug Mikes Herz doch ein wenig schneller.

Two-Hawks’ Finger erschien in Mikes Blickfeld und ein manikürter Nagel tippte aufs Papier. »Das sind Zahlungen, die durch McAvoys persönliche Schmiergeldkasse gelaufen sind. Ja, und das ist McAvoys Handschrift. Wahrscheinlich wollte er keine digitalen Daten.« Ein Hauch von Ironie. »Weil man die zu einfach kopieren kann.«

»Und Ihr infiltrierter Mann?«, hakte Mike nach. »Sagten Sie nicht, er ist Buchhalter?«

»Ted Rogers. Ein Spezialist für Schwarzgeldbuchhaltung. McAvoy hat ihn angeheuert, damit er die Überweisungen zwischen den verschiedenen Schwarzgeldkonten besorgt. Dabei musste Mr. Rogers auch ein paar Vorgänge unter die Lupe nehmen, bei denen Geld zwischen den Konten verloren gegangen war. Deswegen erhielt er begrenzten Einblick in diese handschriftlichen Bilanzen. Die Empfänger kann man per Kontonummer identifizieren – sehen Sie hier? Wahrscheinlich können Sie die größten Vielflieger selbst erraten.«

»Rick Graham«, sagte Mike leise. »Roger Drake. William Burrell.«

»Und wenn Sie weit genug zurückgehen auch Leonard Burrell. Ich schätze, das ist …«

»Williams Onkel.«

Mike blätterte weiter. Der Kratzer an seinem Unterarm pochte. Die Daten gingen über Jahrzehnte in die Vergangenheit. Neben bestimmten Zahlungen standen lange Nummern ohne Kommas und Bindestriche. Mike zählte mehrmals nach – jede dieser Zahlenreihen hatte neun Stellen.

»Ist das das, was ich glaube?«, fragte Mike.

»Sozialversicherungsnummern, ja.«

Mike versuchte zu schlucken, aber sein Mund war zu trocken. »Von?«

»Ihrer Mutter. Ihrem Vater. Den Brüdern, die ihr Land nicht verkaufen wollten. Einer Gemeinderätin, die ihm in die Quere kam, weil sie aufs Baurecht pochte. Ein leichtsinniger Spieler, der die siebenstellige Summe auf seinem Schuldschein nicht begleichen konnte. Erst wurden diese Zahlungen getätigt, und ein bis zwei Tage später verschwanden die Leute mit der dazugehörigen Sozialversicherungsnummer. Ausnahmslos alle.«

Es war ekelerregend, es so offen da stehen zu sehen. Dollars und Cents. Menschenleben.

»Welche …« Mike befeuchtete sich die Lippen. »Welche gehörten meinen Eltern?«

Two-Hawks zeigte auf zwei Einträge. Mike fuhr mit dem Finger über die Daten. Starrte auf die Sozialversicherungsnummern. Nur John. Danielle Trainor. Two-Hawks räusperte sich und Mike merkte, dass er eine Weile völlig weggetreten war.

Er blätterte bis zur letzten Kopie, aber die Daten endeten eine Woche, bevor Dodge und William aus den Schatten und in sein Leben getreten waren. Der Gedanke, dass irgendwo da draußen noch so ein Buch war, in irgendeinem Safe oder einer verschlossenen Schublade, ließ ihn schaudern. Er wusste, was in derselben engen Handschrift darin geschrieben stand – seine eigene Sozialversicherungsnummer und die seiner Tochter.

Sein Auge fiel auf die letzte große Zahlung, der keine Sozialversicherungsnummer zugeordnet war. »Was glauben Sie, was das war?«

Two-Hawks schob die Lippen vor und senkte den Blick auf die Tischplatte. »Eine von Ted Rogers’ letzten Taten war die Überweisung der Zahlung für seine eigene Ermordung.« Er blätterte eine Seite zurück und deutete auf einen weiteren Eintrag. »Und die seiner Frau.«

Die Feststellung schien einen Moment durch den Raum zu hallen.

»Es vergingen ein paar Tage ohne ein Lebenszeichen von den beiden. Man rief die Polizei, die stellten fest, dass das Haus leer war. Keine Spuren, abgesehen von einem fehlenden Sofakissen in Teds Arbeitszimmer. Dodge und William hinterlassen niemals eine Leiche.« Two-Hawks rieb sich die Augen. »Offenbar hatte McAvoy irgendwas spitzgekriegt. Aus offensichtlichen Gründen hat er die Sozialversicherungsnummern nicht dazugeschrieben, sonst hätte Ted ja gemerkt …« Er lehnte sich zurück. Seine Augen waren feucht, und er kaute auf der Innenseite seiner Wange herum. Jetzt verstand Mike auch, warum der Mann wütend geworden war, als Shep ihn so eindringlich nach seinem V-Mann befragt hatte.

Das Szenario, das sich im Haus der Rogers abgespielt hatte, ähnelte den Alpträumen, die sich Mike in den letzten zwei Wochen ausgemalt hatte. Er wandte den Blick ab. Ganz unten im Schließfachkästchen lag ein letzter Stapel von Kopien. Er griff danach.

Die obersten Seiten wiesen leichte Schatten an den Stellen auf, an denen die Originale gefaltet gewesen waren. Jede Seite war handschriftlich mit einem Datum versehen worden, eine trug eine der Sozialversicherungsnummern aus dem Buch und eine Art Code. In der Mitte des Stapels ging es im Faxformat weiter, die handschriftlich hingekritzelten Codes standen nun in der Mitte der Seite, oben waren säuberlich Datum und Uhrzeit aufgedruckt.

Two-Hawks war froh über die Ablenkung und erklärte: »Ich schätze, die steckten hinten im Buch. Jedes Datum deckt sich mit einer Zahlung und dem Verschwinden eines Menschen. Ich schätze, das war die Bestätigung dafür, dass der Job … erledigt war. Hier hinten, sehen Sie die Nummer, die hinter ›Empfänger‹ steht? Das ist McAvoys persönliche Faxnummer. Aber was diese Codes bedeuten, haben wir nicht rausgekriegt.«

Mike betrachtete einige. »FRVRYNG.« »MSTHNG.« »LALADY

SMS? Spitznamen?

Er bekam klaustrophobische Gefühle in diesem hermetisch abgeschlossenen Zimmer. Er musste unbedingt hier raus und mit Shep und Hank einen Plan entwerfen, wie sie McAvoy und seine Männer vernichten konnten. Er sammelte die Blätter zusammen und steckte sie in den großen grauen Umschlag, den Two-Hawks ihm gegeben hatte.

Er stand auf und musste sich kurz am Tisch abstützen. Two-Hawks fasste seinen Arm, während sie gemeinsam auf den Flur gingen. Dann ging Mike allein weiter.

Er trat durch die Tür in die kühle Nachtluft, die durch seine Kleidung drang und ihm eine Gänsehaut machte. Er blickte zurück. Two-Hawks stand immer noch im Halbschatten des Flurs. Er hob den Arm, die Handfläche nach vorne gewandt wie bei dem indianischen Heiler auf dem Gemälde.

Mike ging hinaus in die Kälte.

 

»Du brauchst eine Leiche.« Hanks Stimme klang heiser und schwach.

Mike, der auf dem Beifahrersitz des Pinto saß, schauderte, während er sich das Handy an die Wange drückte. Sie parkten vor einem Schnellrestaurant in der Nähe von Two-Hawks’ Casino. Der graue Umschlag lag schwer auf Mikes Oberschenkeln.

»Was?«, fragte Mike.

»Was meinst du, warum McAvoy diese Leute verschwinden lässt?«, sagte Hank. »Keine Leiche, keine Mordermittlung. Dieser ganze Scheiß, den du da hast, mag auf den ersten Blick ja belastend aussehen, aber das ist und bleibt nebensächlich. Aber eine Leiche … mit einer Leiche würde alles ins Rollen kommen.«

Jetzt begann Mike zu schreien. »Willst du mir etwa sagen, dass das alles …«

»Hör zu, es steht außer Frage, dass diese Beweise die Sachlage schon mal entscheidend verändern. Das ist alles viel zu groß, als dass McAvoy es noch weiter verschleiern könnte. Der hängt drin – allein schon mit den ganzen Zahlungen an Graham. Sobald das an die Öffentlichkeit kommt, wird es einen Keil zwischen McAvoy und das gesamte Polizeikorps treiben. Da werden ganze Behörden in die Knie gehen, die müssen sich alle von dem Kerl distanzieren. Die müssen alle den Schein wahren. Und mit diesem genealogischen Bericht kannst du deine Ansprüche auf das Casino geltend machen und diesen Arsch aus dem Geschäft drängen. Gegen Dodge und William wird man ermitteln und sie beobachten, und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei da nicht irgendwas findet, was sie ihnen hieb- und stichfest nachweisen können. Aber wenn du mich fragst, ob McAvoy damit ans Messer geliefert ist – nein, dazu reicht es nicht. Eine Leiche, die würde ihn ans Messer liefern.«

Verzweifelt drückte Mike die Schläfe ans eiskalte Fenster. Ein junges Paar in einem alten Mercedes-Coupé parkte neben ihnen und stieg aus, und Mike unterdrückte den Drang, weiter in den Hörer zu schreien. »Was soll ich tun?«, fragte er ruhig.

»Du hast genug getan«, sagte Hank. »Wir besorgen jetzt einen Anwalt, lassen ein paar Beweise durchsickern und sprechen ab, welcher Behörde du dich stellst. Ich denke da ans FBI. Du musst dich auch für eine ganze Reihe von Sachen verantworten, vor allem für Rick Grahams Leiche. Aber wir können dich jetzt wieder zurückholen. Schau nach, wie es Annabel geht. Und hol deine Tochter nach Hause.«

Mike hielt den Kopf gesenkt und drückte sich Daumen und Zeigefinger in die Augenwinkel, während ihm die warme Heizungsluft entgegenblies.

»Du warst lange genug draußen in der Kälte«, sagte Hank. »Es wird Zeit, dass du wieder reinkommst.«

Tränen tropften durch Mikes Finger auf das graue Kuvert. Er brachte die Worte hervor: »Wie lange dauert es noch? Bis ich Kat holen kann?«

»Wir machen, so schnell wir können. Vielleicht in ein paar Tagen?«

»Nein. Bis morgen Abend.«

»Na, dann lass uns gleich loslegen.«

Mike schluckte. »Okay. Ich komme zu dir. Wir machen Kopien von dem ganzen Zeug hier. Und verstecken sie an verschiedenen Orten. Und wir müssen uns einen klugen Plan zurechtlegen.«

Hank stimmte zu, und sie beendeten das Gespräch.

Mike legte den Kopf zurück und atmete zitternd aus. »Okay«, sagte er. »Okay.« Er atmete noch einmal durch, diesmal schon etwas ruhiger. »Komm, wir fahren zurück ins Motel und holen das Geld, den USB-Stick und den genealogischen Bericht.«

»Das Motel ist genau in der entgegengesetzten Richtung«, wandte Shep ein. »Lass mich da hinfahren, ich komm dann nach.«

»Aber wir haben doch bloß ein Auto«, meinte Mike.

Shep sah ihn finster an. Offenbar war er enttäuscht von Mikes Mangel an Phantasie. Er stieg aus und warf die Tür zu. Zehn Sekunden später saß er in dem alten Mercedes, vierzig Sekunden später heulte der Motor auf.

Er salutierte mit zwei Fingern, als er aus der Parklücke fuhr.

Mike rutschte auf den Fahrersitz hinüber und fuhr ebenfalls davon.

Um diese Zeit war der Freeway sehr ruhig. Nachdem er ein paar Kilometer zurückgelegt hatte, schoss die Hoffnung durch Mikes Rüstung wie ein Blitzschlag und riss ihn fast in Stücke. Er fuhr auf den Standstreifen, stürzte zum Gebüsch und beugte sich vornüber, um wieder zu Atem zu kommen. So lange hatte er sich keine Hoffnung gestatten wollen, und jetzt brandete dieses Gefühl durch seine Adern wie eine Droge, die sein Körper überhaupt nicht gewöhnt war. Gewaltsam verdrängte er die Gedanken an Annabel, wie sie ihn berührte, wie sich ihre Hände auf der Bettdecke mit seinen verflochten. An das Gewicht von Kat, als er sie hochhob. Wie ihre weiche Wange an seiner ruhte.

Kein Ehemann. Kein Vater. Noch nicht.

Die Luft war scharf und durchdrungen vom Salbeiduft, die feuchte Erde klebte an seinen Schuhsohlen. Er würgte zweimal, ohne etwas zu erbrechen, dann ging er wieder zurück zum Auto. Er hatte die Tür offen gelassen, so dass das kleine Licht über den Türen die Kopfstützen beleuchtete. Er schnallte sich wieder an, legte die Hände aufs Lenkrad und setzte seinen Weg zu Hank fort.

Als er vom Freeway abfuhr, vibrierte das Batphone in seiner Tasche. Er fischte es heraus und klappte es auf. »Ja?«

»Ich muss dir einen Anruf durchstellen.« Sheps Stimme klang ganz komisch.

»Was? Von wem?«

Er hörte erst ein paar Hintergrundgeräusche, dann ein elektronisches Klicken.

»Hallo?«, sagte Annabel.