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Die wenigen Male, die er halten musste, um Benzin, Essen oder Kaffee zu kaufen, zog er befremdete Blicke auf sich. Kein Wunder – mit seinem Hemd, der hellgrünen Krankenhaushose und obendrein barfuß sah er aus, als wäre er frisch aus der Irrenanstalt entlaufen. Er warf Schmerztabletten ein, aber in erster Linie half ihm das Adrenalin. Die Fahrt war lang, und er träumte ein wenig.

Egal, ob man ihm nun Straffreiheit gewährte oder nicht, er würde Kat und Annabel nach Hause bringen, und sie würden genug Geld vom Casino haben, um für den Rest ihres Lebens abgesichert zu sein. Er konnte seine zahllosen Schulden abtragen – bei Hanks Familie, bei Jocelyn Wilder, bei Jimmy. Verdammt, er konnte sämtliche PVC-Rohre in »Green Valley« gegen welche aus verziegeltem Lehm austauschen lassen oder die unrechtmäßig bezogenen Subventionen einfach zurückzahlen. Für diese Häuser würde er das Geld aus dem Casino als Erstes ausgeben, als öffentliche Buße für die Lüge, die die ganze Sache ins Rollen gebracht hatte.

Und egal ob als freier Mann oder auf Gefängnisurlaub – er würde eine stille Gedächtnisfeier für seine Eltern abhalten lassen. John und Danielle Trainor. Richtige Särge. Er würde sie in die Erde legen und die erste Schaufel Erde auf ihre Särge werfen.

Nach so langer Zeit konnte er sie endlich zur Ruhe betten.

An einer Raststätte, die ungefähr noch eine Autostunde von Parker entfernt war, nippte er an einer Cola und aß ein Snickers, und dabei fiel sein Blick zufällig auf sein Bild im Rückspiegel. Ein paar Blutstropfen waren auf seinem Ohrläppchen angetrocknet, und wer auch immer ihn rasiert haben mochte, hatte ein Fleckchen Bartstoppeln an seinem Kiefer übersehen. Er leckte seinen Daumen an und versuchte das Blut wegzureiben, und erst als er seine Hand zittern sah, wurde ihm bewusst, wie nervös er war. Er ging zu den Toiletten, wusch sich das Gesicht und bemühte sich, sich wieder ein menschliches Aussehen zu geben. Als er wieder am Steuer des Mustang saß und weiterfuhr, wurden seine Schmerzen von der Angst in den Hintergrund gedrängt.

Er kam nach Parker, Arizona, fuhr an dem Kino vorbei, das er mit Kat besucht hatte, an dem kleinen Laden, in dem er ihr das Kleid gekauft hatte, an dem Schnellrestaurant, in dem sie ihre letzte gemeinsame Mahlzeit eingenommen hatten. Die Übelkeit kam zurück wie eine motorische Erinnerung, und er war so durcheinander, dass er sich prompt verfuhr. Er musste umdrehen, kreiste durch die Vorstadtstraßen und war so frustriert, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen.

Da klingelte das Batphone. Er nahm das Gespräch an.

»Graham wurde anscheinend erschossen, als irgendwelche Einbrecher in sein Haus eindrangen.«

Er brauchte ein paar Sekunden, um die Stimme einzuordnen. Bill Garner.

Garner fuhr fort: »Würden Sie dieser Darstellung der Ereignisse widersprechen?«

Mike dachte daran, wie weit Grahams Verbrechen in die Vergangenheit zurückreichten.

Mikes Vater, Nur John, der bis zu seinem letzten Atemzug gekämpft hatte. Er dachte an den Nachnamen, den man ihm als Vierjährigem verpasst hatte, zugeteilt von einem gesichtslosen Klugscheißer im Sozialamt. Und jetzt schloss sich der Kreis. Die Beweise würden zeigen, dass Graham von einem unidentifizierten Verdächtigen getötet worden war – einem gewissen John Doe.

»Nein«, sagte Mike.

»Es hat mich ganz schön was gekostet, Shepherd White ebenfalls in den Handel mit dem Staatsanwalt einzuschließen«, sagte er. »Das war knapper, als Sie wissen wollen. Eins muss ich schon sagen Mike, sie haben ganz schön Durchhaltevermögen.«

»Und Loyalität«, ergänzte Mike.

Von der Kurve, die er gerade durchfuhr, ging eine weitere Straße ab. Er war schon zweimal an der Stelle vorbeigefahren, aber irgendwie hatte er die Abzweigung beide Male übersehen.

Mike bog ab, und da sah er auch schon das große Haus mit den Klettergerüsten im Garten und den herumtobenden Mädchen. »Ich muss auflegen.«

»Wir reden hier über die Bedingungen für Ihre Straffreiheit«, sagte Garner. »Haben Sie irgendwas auf der Tagesordnung stehen, was wichtiger wäre als das?«

»Ja«, sagte Mike, »so ist es.«

Er fuhr an den Bordstein, wo er auch schon das letzte Mal geparkt hatte, wo Kat und er ihre schreckliche Abmachung getroffen hatten.

Du kommst zurück und holst mich.

Ich komm zurück und hol dich.

Bevor er sich wappnen konnte, entdeckte er sie auch schon. Sie stand vor der Veranda und goss Wasser aus einem Plastikeimer auf einen verwelkten Farn. Sie trug das gelb karierte Kleid, das er ihr gekauft hatte, obwohl ein Ärmel eingerissen und der Saum aufgegangen war.

Mit weichen Knien stieg er aus dem Mustang. Als die Autotür zuschlug, blickte sie auf. Sie hatte einen Fleck auf der Wange und sah ihm direkt in die Augen.

Dann drehte sie sich um und ging ins Haus.

Der Wind blies ihm übers Gesicht, ein leeres, wüstenartiges Geräusch, und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er zerbrechen könnte. Zitternd stand er da und versuchte, sich Stück für Stück wieder zusammenzusetzen, bevor er sich ausreichend gefestigt fühlte, um ihr nachzugehen.

Ein älteres Mädchen machte ihm die Tür auf. »Sind Sie …?«

»Ja«, sagte er.

Ein Ehemann. Ein Vater.

Das Mädchen trat beiseite.

Als Jocelyn, die auf dem Sofa saß, Mike entdeckte, winkte sie die Kinderschar zu sich, die sich wie durch Zauberhand um sie versammelte. Sie waren ganz still und starrten ihn nur mit großen Augen an.

»Sie ist draußen«, sagte Jocelyn.

Mikes Mund bewegte sich zweimal, bevor er einen Ton herausbrachte. »Danke.«

Kat saß hinter der Schaukel auf dem aufgesprungenen Asphalt und spielte mit einer Puppe. Die einbeinige Barbie. Kat führte murmelnde Selbstgespräche, drehte die Arme der Puppe mal in diese Richtung, mal in jene. Ihr Haar war ungebürstet und ihre Nägel schmutzig.

Mike stand vor ihr. Sie blickte nicht auf. Mit all seinen Wundklammern und Nähten brauchte er einen Moment, bis er sich gegenüber von ihr auf den Boden setzen konnte. Er sah ihr beim Spielen zu. Sie hob den Kopf noch immer nicht.

Da fasste er in die Tasche seiner OP-Hose, zog Snowball II heraus und stellte ihn zwischen sie auf den Boden. In einem jähen Wutausbruch packte Kat den winzigen Stoffeisbären und schleuderte ihn ins Gras am Zaun.

»Okay«, sagte Mike.

Die Klammern bissen ihn in die Haut, aber er traute sich nicht, sich zu bewegen. Er betrachtete ihre Hände, die Wundkruste auf ihrem Knie, ihren Scheitel. Er sehnte sich schmerzlich danach, sie zu berühren, aber er zwang sich, ganz still sitzen zu bleiben und ihr die Zeit zu lassen, bis sie von selbst in diesem Moment ankommen konnte. Sie drehte den Kopf, und er erhaschte einen Blick auf ihre Wange. Sie zitterte. Dann schmetterte sie die Barbie auf den Boden.

»Wie findet sie das, dass sie nur ein Bein hat?«, fragte Mike.

»Sie ist wütend«, sagte Kat.

»Das kann ich mir gut vorstellen.«

Er hätte so gern die Hand ausgestreckt und ihren Arm berührt, ihre Haare gestreichelt, ihre Hand gehalten. Über ihnen hämmerte ein Specht sein Gesicht gegen einen Telefonmast.

»Aber jetzt ist alles wieder gut«, sagte er.

Kat drosch noch ein paar Mal mit der Puppe auf den Asphalt ein, dann legte sie sie weg. Vorsichtig, ohne den Blick vom Boden zu nehmen, kroch sie auf Mikes Schoß. Sie rollte sich an seiner Brust zusammen, dass ihm der Schmerz durch die Wirbelsäule schoss, aber es war ihm scheißegal. Alles, was ihm in diesem Moment wichtig war, war ihr Kopf, den sie unter sein Kinn kuschelte.

»Schau mich an«, bat er sanft.

Sie bewegte sich nicht.

»Schätzchen, schau mich an.«

Langsam hob sie den Blick.

»Jetzt ist alles wieder gut«, sagte er.

Und dann schluchzte sie los, schrie, zerrte an seinem Hemd und trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf sein Schlüsselbein ein. Er hielt sie im Arm, stöhnte vor Schmerzen, drückte seine Stirn an ihre und wiegte sie hin und her. Als die Abenddämmerung alles schon in graues Licht getaucht hatte, saß er immer noch mit ihr da. Alles tat ihm weh, seine Beine waren in einer unbequemen Haltung ausgestreckt, aber er hielt sie im Arm, während sie sich beruhigte, hielt sie im Arm, bis nur noch ihre zitternden Atemzüge den kleinen Körper bewegten, hielt sie im Arm, hielt sie im Arm, hielt sie ganz fest im Arm.