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Mike saß auf dem kleinen Kaminsims im Schlafzimmer. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und starrte auf das schnurlose Telefon auf seinem Schoß. Als er seinen inneren Kampf zu Ende gefochten hatte, wählte er die vertraute Nummer.

Eine kräftige Stimme, deren leichte Heiserkeit das Alter verriet, dröhnte durch den Hörer: »Hank Danville, Privatdetektiv.«

»Hier ist Mike«, sagte er. »Wingate.«

»Mike, ich weiß nicht mehr, was ich dir noch sagen soll. Ich hab dir gesagt, ich melde mich, wenn ich was finde, aber ich weiß inzwischen einfach nicht mehr, wo ich noch suchen sollte.«

»Nein, diesmal ist es was anderes. Es geht um einen Typen, den du für mich finden sollst.«

»Ich hoffe, das ist jetzt was, wo ich tatsächlich mal was ausrichten kann.«

»Es geht um einen Bauunternehmer, der mich beschissen hat.« Mike umriss mit knappen Worten die Lage und hörte dabei das leise Pfeifen von Hanks Atem. »Ich muss wissen, wo er ist. Und wenn ich sage, es ist dringend, ist das schwer untertrieben.«

»Wie tief steckst du drin?«, fragte Hank.

Mike nannte ihm die Summe.

Hank stieß einen Pfiff aus. »Ich werd sehen, was ich tun kann«, sagte er und legte auf.

Mike war es gewöhnt, nach Informationen zu suchen, die er dann wahrscheinlich gar nicht hören wollte, aber das machte das Warten auch nicht einfacher. Er stellte sich unter die Dusche und lehnte sich an die Fliesen, während er das dampfend heiße Wasser auf sich einprasseln ließ, um den Stress von sich abzuwaschen. Als er sich gerade abtrocknete, klingelte das Telefon. Er band sich ein Handtuch um, nahm den Hörer, setzte sich aufs Bett und machte sich auf schlechte Nachrichten gefasst.

»Vic Manhan wurde zum letzten Mal in St. Croix gesehen«, sagte Hank unvermittelt. »Ein geplatzter Scheck in einer Bar vor zwei Monaten. Weiß der liebe Herrgott, wo er jetzt ist. Seine Frau hat ihn verlassen, er stand vor einer kostspieligen Scheidung. Das volle Programm. Wahrscheinlich hat er sich gedacht, er dreht ein letztes Ding und haut mit der Kohle ab. Ich bin nicht sicher, wie er die Versicherungspolice und die Daten fälschen konnte, aber als er deinen Auftrag annahm, hatte er tatsächlich keine Versicherung.«

Mike schloss die Augen und atmete tief durch. »Kannst du nicht rausfinden, wo er sich jetzt aufhält?«

»Der Typ ist auf der Flucht vor den Bullen und den Anwälten seiner Frau. Der hat sich inzwischen wahrscheinlich nach Haiti abgesetzt. Den kann man nicht finden.«

Mike spürte einen bitteren Geschmack im Mund. »Ach komm. Der Typ ist nicht Jason Bourne.«

»Wenn du möchtest, kannst du es gern jemand anderen versuchen lassen. Ich finde, ich hab in einer Viertelstunde ganz schön viel rausgekriegt.«

»Schon wieder eine Sackgasse, Hank. Sieht aus, als wären wir darauf abonniert, oder?«

Hanks Stimme bekam einen scharfen Unterton. »Ach, die alte Schallplatte jetzt wieder? Als du zum ersten Mal zu mir kamst, hab ich dir gesagt, dass du etwas willst, was so gut wie unmöglich ist. Ich habe dir nie Resultate versprochen.«

»Nein, das hast du wirklich nicht.«

»Kann sein, dass dir die Tatsachen nicht gefallen, aber ich bin zu alt, um meinen Charakter derart in Frage stellen zu lassen. Komm ins Büro und hol dir deine Akte ab. Wir zwei sind fertig miteinander.«

Mike hielt noch das Telefon am Ohr, als schon das Freizeichen ertönte. Dann brandete die Reue in ihm auf. Er hatte sich benommen wie ein waschechtes Arschloch und musste sich bei Hank entschuldigen. Doch bevor er auf die Wiederwahltaste drücken konnte, hörte er, wie die Garagentür aufging und Annabel durch die Küche hereinkam. Er konnte das Telefon gerade noch aufs Bett werfen, bevor sie ins Zimmer rauschte. Seinen Anzug hatte sie sich über die Schulter geworfen.

»Tut mir leid, dass ich so spät komme. Er hat die Hose falsch gebügelt, die sah total bescheuert aus. Komm, hol dir ein Hemd raus. Und dann zieh dich an.« Klirrend schüttelte sie ihre Uhr am Handgelenk, bis das Zifferblatt wieder nach oben zeigte. »Wir können es immer noch pünktlich schaffen.«

Der Fototermin. Richtig.

Wie betäubt befolgte er ihre Anweisungen und bewegte sich wie auf Autopilot. Er fand einfach nicht den Mut, ihr alles zu erzählen.

Annabel scharwenzelte um ihn herum, zupfte an seinem Revers und glättete ihm die Ärmel. »Nein, nicht die Krawatte. Eine dunklere.«

»Früher konnte ich meine Krawatten selbst aussuchen«, murmelte Mike. »Seit wann bin ich so unfähig?«

»Du warst schon immer unfähig, Schatz. Aber früher war ich noch nicht da, um es dir zu sagen.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn ganz leicht auf die Wange. »Du siehst toll aus. Der Gouverneur wird beeindruckt sein. Vielleicht macht er dich sogar an. Das wär vielleicht ein Skandal.« Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihn. »Auf jeden Fall besser als deine karierte Wolldeckenjacke.«

»Das ist ein Windowpane-Muster«, protestierte Mike lahm. »Hör mal …«

»Du liebe Güte.« Annabel hatte zwischenzeitlich seine Arbeitskleidung entdeckt, die er im Bad ausgezogen und einfach auf dem Boden liegen gelassen hatte. »Was hast du denn gemacht? Bist du durch einen Abwasserkanal gekrochen?«

Sie ging ins Bad und hob die verdreckten Sachen auf. Eine kleine braune Schachtel rutschte aus der Jeanstasche, fiel aufs Linoleum und spuckte einen Ring aus – den zweikarätigen Diamanten, den er beim Juwelier ausgesucht hatte, nachdem er Kat in der Schule abgesetzt hatte. Den hatte er völlig vergessen.

Annabel schlug die Hand vor den Mund, bückte sich ehrfürchtig und hob den Ring auf. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Das Geschäft ist also abgeschlossen!« Sie lachte und rannte zu ihm, um ihn in die Arme zu schließen. »Ich hab dir doch gesagt, dass alles gutgehen würde. Und dieser Ring … Mensch, Mike, machst du Witze?« Sie steckte ihn sich an den rechten Ringfinger und spreizte die Hand, um den Stein zu bewundern. Die Freude auf ihrem Gesicht war so groß, dass es ihm die Kehle zuschnürte und er kaum noch atmen konnte, weil er wusste, dass er gleich alles zerstören würde.

Sanft legte er ihr die Hände auf die Schultern. Er fühlte ihre Knochen zart und zerbrechlich unter der Haut.

Sie blickte strahlend zu ihm auf. Ihr Blick veränderte sich schlagartig. »Was ist los, Mike?«

Da stand er nun in ihrem winzigen begehbaren Kleiderschrank, in Jacke und Hemd, ohne Hose. »Die Rohre. Erinnerst du dich noch an die Rohre?«

»Aus verziegeltem Lehm. Die ein halbes Vermögen gekostet haben. Natürlich erinnere ich mich.«

»Der Subunternehmer hat uns beschissen und ist abgehauen. Ich hab’s gerade rausgefunden. Alles, was oben über die Zementplatten rausragt, ist aus verziegeltem Lehm, auf die Art haben wir auch die Umwelt-Inspektion bestanden.« Er benetzte sich die Lippen. »Aber unter der Oberfläche ist alles PVC

Ein Funken des Verstehens auf Annabels Gesicht. »Wie viel würde es kosten, das zu beheben?«

»Mehr, als wir mit dem Projekt verdienen können.«

Sie trat einen Schritt zurück und setzte sich aufs Bett. Sie umklammerte ihre Hände und ihre Augen, die auf den großen Diamanten starrten, glänzten sogar im gedämpften Licht des Schlafzimmers. Mike und sie atmeten eine ganze Weile in der Stille.

»Ich liebe meinen alten Ring sowieso heiß und innig«, sagte sie dann. »Mit dem hast du mich schließlich geheiratet.«

Irgendetwas in seinem Brustkorb löste sich ein Stückchen auf, und er fühlte sich plötzlich viel älter als fünfunddreißig Jahre.

»Du und ich und Kat«, sagte sie. »Wir brauchen nicht mehr Geld. Ich kann mit dem Studium aufhören und mir eine Weile eine Arbeit suchen. Nur bis … du weißt schon. Wir finden schon einen Weg, wie wir das finanziell schaffen. Kat können wir auch wieder aus diesem Nachmittagsbonusprogramm nehmen. Und wir ziehen in eine kleinere Mietwohnung. Es ist mir gleich.«

Mike zog seine Hose an, ganz langsam. Seine Beine waren schwer und taub, als würden sie gar nicht zu ihm gehören. Er konnte Annabel nicht in die Augen sehen, weil er Angst vor dem hatte, was er dabei entdecken könnte.

»Du bist immer ein aufrichtiger Mensch gewesen«, sagte sie. Sie nahm den Zwei-Karat-Ring ab, legte ihn neben sich auf die Decke und brachte ein Lächeln zustande. »Du musst das in Ordnung bringen, Mike, egal wie.«

 

Die Suite im Beverly Hills Hotel war die größte, die Mike je gesehen hatte. Bill Garner saß an einem antiken Sekretär und hatte sich nachdenklich auf einem Lederstuhl zurückgelehnt, der zum Sinnieren wie gemacht schien. Er musterte das Foto, einen Computerausdruck, auf dem man das PVC-Rohr in der Grube aus der Erde ragen sah.

Durch die offene Tür drang Gelächter, Unterhaltungsfetzen und das gelegentliche Blitzlicht einer Kamera zu ihnen. Die Preisträger der Umweltauszeichnung sollten sich jetzt zusammenfinden und die PR-Fotos machen, um die Mediengrundlage für die offizielle Zeremonie am Sonntagabend zu legen. Abgesehen vom Gouverneur, der – dem Chor der Begrüßungsrufe nach zu urteilen – gerade hereingekommen war, war Mike als Letzter eingetroffen.

Garner stand auf, kam durchs Zimmer auf ihn zu und streckte den Kopf durch die Tür. »Ist alles so weit fertig? Okay, kleinen Moment noch, wir kommen gleich.« Er machte die Tür zu und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Sein jugendlich glattes Gesicht zeigte einen Ausdruck von fröhlichem Optimismus, wie auch schon die ganze Zeit, als Mike ihm das Problem auseinandergesetzt hatte.

Garner legte sich die Finger an die Schläfen. »Und Sie werden die Umbaukosten tragen?«

»Ich bin bereit, das zu zahlen«, sagte Mike.

»Und die PVC-Rohre? Wo kommen die dann hin, nachdem Sie sie ausgegraben haben?«

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, meinte Mike.

»Auf eine Mülldeponie, nehm ich mal an. Sie wollen die Rohre also aus der Erde holen und woanders wieder in die Erde legen? Und zum Ausgraben und Transportieren jede Menge benzinfressender Maschinen einsetzen?« Er lächelte freundlich. »Klingt schon ein bisschen verrückt, oder?«

Auf einmal wurde sich Mike seines neuen Anzugs bewusst. »Ja. Aber zumindest aufrichtig.«

»Die Häuser, die Sie da gebaut haben, sind zu fünfundneunzig Prozent umweltfreundlich. Darauf können Sie schon ganz schön stolz sein.«

Mike musterte ihn einen Moment und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. »Das sehe ich anders.« Er veränderte seine Position auf dem weichen Sessel. Ihm war nicht wohl zumute in seiner feinen Montur. »Ich bin nicht sicher, ob ich der Richtung folgen kann, die diese Unterhaltung gerade nimmt.«

»Der Gouverneur nimmt dieses Projekt enorm ernst, Mike. Sie wissen, wie wichtig ihm das Umweltthema ist. Und Ihre Siedlung, in Verbindung mit unserem subventionierten Pilotprojekt, zeigt, dass ein grünes Modell nicht nur für reiche Arschlöcher funktionieren kann, sondern auch für die arbeitende Durchschnittsbevölkerung. ›Green Valley‹ ist das Baby des Gouverneurs. Er lässt sich seit Monaten in der Presse darüber aus.«

»Mir ist klar, wie peinlich das ist«, sagte Mike. »Es tut mir wirklich leid.«

»Dieses Projekt steht noch auf wackligen Füßen. Der Gouverneur muss sich Kritik von beiden Seiten anhören. Wenn wir nicht sehr bald an einem konkreten Modell nachweisen können, wie viel Energie man auf diese Weise sparen kann, wird die Sache mit den Fördergeldern sofort wieder vom Tisch sein. Sie sind sich doch im Klaren, dass nächsten Monat Wahlen sind, oder? Der Gouverneur hat sich gegenüber diversen Wählerinitiativen weit aus dem Fenster gelehnt. Deswegen haben wir dieses ganze Brimborium mitsamt der Preisverleihung nächsten Sonntag.« Er schürzte die Lippen. »Wie lange werden Sie brauchen, um diese Rohre auszutauschen?«

Unbehagen glomm in Mikes Bauch auf und kroch ihm bis in die Kehle. »Monate.«

»Und Ihren Preis für die hervorragenden Errungenschaften im umweltfreundlichen Wohnungsbau …«

»Müssen Sie mir dann wahrscheinlich aberkennen.«

»Sehen Sie«, sagte Garner, »und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Keine Preisverleihung bedeutet keine Presse. Keine Presse bedeutet keine öffentliche Unterstützung. Und keine öffentliche Unterstützung bedeutet keine staatlichen Fördergelder mehr.«

Mikes Mund wurde ganz trocken.

»Wie hoch waren die eigentlich noch mal?«, hakte Garner nach. »Dreihunderttausend pro Familie?«

»Zweihundertfünfundsiebzig«, sagte Mike leise.

»Und jetzt wollen Sie den Leuten erzählen, dass sie nicht nur mehrere Monate länger warten müssen als gedacht, sondern dass auch die Fördergelder wegfallen, mit denen sie ihre Finanzierung geplant haben?« Er lächelte betrübt. »Und dass jeder von ihnen fast dreihunderttausend mehr auf den Tisch legen muss? Oder hatten Sie vor, diese Kosten auch aufzufangen?«

Mike schluckte, um seine Kehle wieder etwas zu befeuchten. »Nicht im Traum könnte ich so viel Geld aufbringen.«

»Glauben Sie denn dann, dass Sie das Problem einfach an diese Familien weitergeben können?«

Zum ersten Mal hatte Mike keine Antwort parat.

Garner legte eine manikürte Fingerspitze auf das Polaroid und schob es langsam wieder zu Mike.

Der starrte auf das Foto.

Ungeduldiges Klopfen an der Tür. Ein junger Assistent lugte ins Zimmer und sagte: »Wir brauchen ihn jetzt. Der Fotograf verliert bald die Geduld, und ich muss zusehen, dass der Gouverneur seinen Flieger zurück nach Sacramento kriegt.« Mike hörte, wie hinter ihm der Gouverneur einen Witz erzählte, mit den Vokalen seines österreichischen Akzents, die klangen, als würden sie mit Hochdruck durch einen Feuerwehrschlauch gepresst. Garner hob einen Finger. Der Assistent seufzte. »Sie haben noch dreißig Sekunden«, sagte er und zog sich zurück.

Mike und Garner sahen sich an. Die Stille wurde nur vom Ticken einer Kaminuhr und der gedämpften Unterhaltung aus dem Nebenzimmer unterbrochen.

»Also, was meinen Sie?« Garner beugte sich vor und durch den Spalt in seinem Ärmel sah man einen Streifen Haut durchschimmern. »Meinen Sie, Sie können vierzig Familien zuliebe in ein paar Kameras lächeln?«

Er deutete zum Nebenzimmer und sein goldener Manschettenknopf glitzerte.

 

Mike kniete vor dem Kamin und blickte ins flackernde Feuer. Es warf einen orangen Schein auf sein Gesicht, den Teppich, die weiße Bettdecke. In der Hand hielt er das Polaroid, auf dem die verräterischen PVC-Rohre zu sehen waren. Albernerweise fiel ihm in diesem Moment auf, dass er die Haltung eines beschämten Samurai eingenommen hatte.

Annabel stand hinter ihm und betrachtete die Szenerie. Kat war Gott sei Dank in ihrem Zimmer und hatte sich bei geschlossener Tür in ihre Hausaufgaben vertieft.

Seit Mike hereingetrottet war, seine Anzugjacke ausgezogen und sich auf den Boden gesetzt hatte, hatte Annabel noch keinen Ton gesagt. Sie musste auch gar nichts sagen. Sie wusste schon, was er ihr erzählen würde.

»Sie wollen keine Verzögerung«, sagte er. »Sie brauchen die PR der Preisverleihung. Sie haben damit gedroht, dass die Familien ihre Fördergelder verlieren.«

»Dann sollten wir den Ausfall für sie tragen«, sagte Annabel. »Wie viel wäre das denn? Zusätzlich zu den Kosten für den Austausch der Rohre?«

»Elf Millionen Dollar.«

Er hörte, wie ihr der Atem wegblieb.

»Aber was … was machen wir denn jetzt?«, fragte sie.

Er streckte die Hand aus und ließ das Foto ins Feuer fallen. Das Bild begann sich von den Rändern her einzurollen und wurde schwarz.

»Okay.« Ihre Stimme klang dünn und niedergeschlagen. »Ich schätze, dann kauf ich mir wohl ein neues Kleid.«

Mit einem leisen Klicken zog sie die Badezimmertür hinter sich ins Schloss. Er starrte ins Feuer und überlegte, was eine Lüge dieser Größenordnung sonst noch nach sich ziehen könnte.