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Fortrow, auf beiden Ufern des Flusses Fort gelegen, war seit der drohenden Napoleonischen Invasion Hafenstadt. Der Friede nach Waterloo brachte den Verfall ihres Handels, der erst kurz vor der endgültigen Stillegung des Hafens durch den Ersten Weltkrieg aufgehalten wurde. Innerhalb eines Jahres überwand damals Fortrow seine Verschlafenheit und wurde zu einem betriebsamen Hafen, vor dem oft mehr Schiffe warteten als Ankerplätze verfügbar waren. Die Depression nach dem Krieg traf Fortrow schwer: Die Piers lagen verlassen, die hohen Rollkrane standen regungslos und verrosteten, die großen Lagerhäuser waren leer, die Eisenbahn verkehrte nicht mehr, und Schutt und Unrat häuften sich überall. Dann kamen das Ende der Depression und der Zweite Weltkrieg, der Hafen von Fortrow erwachte wieder zu lärmendem Leben. Im Jahr 1940 wurde die Stadt eine Woche lang täglich bombardiert, und der größte Teil des Zentrums und die halbe Hafenzone verwandelten sich in ein Trümmerfeld: aber irgendwie ging der Schiffsverkehr weiter. Nach dem Krieg brachten der Exportboom und die allgemein günstige Wirtschaftsentwicklung des Landes neue Betriebsamkeit: die Auswanderung nahm so zu, daß oft überhaupt keine Schiffsplätze mehr verfügbar waren.

Fortrow war eine Mischung aus Marktflecken, Einkaufszentrum, Leichtindustriezone und Hafen. Eine Fahrt von einer halben Meile führte den Besucher erst zum Marktplatz mit seinen Holzverschlägen voll verwirrter oder völlig verängstigter Tiere, dann zu einer Parfümfabrik (die zweifellos in die Industriezone gehörte, deren Leiter aber mit einem der Stadträte eng befreundet gewesen war), weiter ins Stadtzentrum, das man in einem, wie es damals hieß, erfrischend gewagten Stil wiederaufgebaut hatte, und schließlich zu der schmutzigen, häßlichen, drei Meter hohen Backsteinmauer, die die alten Kais umgab und aus der Viktorianischen Epoche zu stammen schien, obwohl sie erst 1915 errichtet worden war.

Fortrow hatte seine eigene städtische Polizei. Ihre Unabhängigkeit war schon oft vom Innenministerium bedroht worden, das ihre Verschmelzung mit der Kreispolizei gefordert hatte; doch bis jetzt hatten die Stadtbehörden alle diesbezüglichen Kämpfe gewonnen. Die Truppe war in zwei Abteilungen, West und Ost, eingeteilt. Die Abteilung Ost hatte ein kleineres Gebiet zu betreuen, aber viel mehr Arbeit zu leisten, da sie für die ganze Hafenzone zuständig war. Es gab hier mehr Raufereien in einer Woche als bei der Abteilung West in einem Monat, und ihre Mordquote lag unverhältnismäßig hoch über der des ganzen Landes.

Detective Inspector Fusil war Chef der Abteilung Ost des C.I.D. Er war einundvierzig, groß, drahtig, und sein Haar begann sich an den Schläfen zu lichten, doch liebte er Anspielungen auf diese Tatsache gar nicht. Er verfolgte die Verbrecher mit schneidendem Haß. Seine Bekannten pflegten zu sagen, er sei zu sehr hinterher und zu scharf, und es lohne sich nicht, im Verbrecherfang etwas anderes als einen Job zu sehen. Es war sicher etwas Wahres an dieser Bemerkung, aber wenn die Lösung eines Falles besonderen Einsatz und besondere Fähigkeiten verlangte, so war Fusil der Mann dafür. Sein Haß war allerdings ein zweischneidiges Schwert und konnte gelegentlich den falschen Mann treffen. Fusil hatte das im Fall Burchell erfahren. Er war damals zum Chief Constable befohlen worden und hatte eben noch ein Disziplinarverfahren vermeiden können. Aber nichts würde je den schwarzen Punkt in seiner Personalakte ausradieren.

Sein Büro lag im Obergeschoß des Reviers der Abteilung Ost, eines flachen, häßlichen Gebäudes, das so aussah, als hätte es georgianisch werden sollen, bevor etwas dabei schiefging. Der Raum war groß, kalt im Winter und heiß im Sommer, zugig das ganze Jahr über und hätte dringend neu gestrichen werden müssen. An der Südwand hing das Foto eines ehemaligen Detective Inspectors – niemand wußte mehr, warum es da hing, Staub ansammelte und immer mehr vergilbte.

Fusils Schreibtisch war groß und abgenutzt: er stammte aus dem Zimmer des Superintendent. Außer einem «Eingang»-Korb, der in einen «Ausgang»-Korb überfloß, lagen eine Anzahl Akten, ein kleiner Stapel Gesetzbücher und die Morgenpost auf der Schreibtischplatte. Fusil las die Post: Rundschreiben von Stadt- und Kreispolizeistellen, Anforderungen von Zeugenaussagen, einen anonymen und sehr obszönen Brief, eine Reklame für eine Kreuzfahrt in der Karibischen See und die neueste Liste gestohlener Wagen, eine endlose Folge von Kennzeichennummern, die wegen ihrer Länge praktisch nutzlos war.

Das Telefon klingelte. Er hob ab. «Detective Inspector.»

«Hier C.I.D., Bob.»

«Morgen, Sir.» Es war sein direkter Vorgesetzter, Detective Chief Inspector Kywood, Leiter des Stadt-C.I.D.

«Ich habe die Liste der Wagenspesen für das letzte Quartal noch nicht bekommen.»

«Sie werden sie morgen haben.»

«Gut, gut.» Es gab eine kurze Pause. «Bob, es kommt eine Personalveränderung auf Sie zu.»

«Was für eine Veränderung?»

«Charrington ist zur Kreispolizei versetzt.»

«Charrington?»

«Jawohl.»

«Aber Sir, er ist mein bester Mann. Warum nehmen Sie ihn mir weg, wo ich genug Verbrechen für sechs Abteilungen habe? Können Sie nicht …?»

«Alles bereits festgelegt, Bob.»

«Sie könnten doch ein Wort …»

«Ich sagte, festgelegt.»

Fusil fluchte.

«Sagen Sie Charrington, er soll sich nächsten Montag bei Abteilung C melden. Verheiratetenwohnung ist vorhanden. Er bekommt natürlich das übliche Umzugsgeld.»

«Warum erlauben wir, daß uns der Kreis unsere besten Leute wegnimmt?»

«Hat keinen Sinn zu schreien, das wissen Sie so gut wie ich.»

«Wer ersetzt ihn?»

«Detective Constable Kerr, von Abteilung G!»

«Wer ist das?»

«Hat eben seine sechs Monate praktische Ausbildung absolviert und ist zum C.I.D. versetzt worden.»

«Wollen Sie damit sagen, daß er noch nicht trocken hinter den Ohren ist?»

«Jetzt haben Sie Gelegenheit, sie ihm zu trocknen. All right, Bob?»

«Nein, Sir. Es ist verdammt nicht all right. Wenn man von mir erwartet …»

«Man erwartet.» Kywood legte auf.

Fusil fluchte auf Kywood. Es bestand zwischen dem Stadt- und dem Kreis-C.I.D. eine Art Abmachung, derzufolge Männer ohne weiteres von einem zum andern versetzt werden konnten. Theoretisch war das im Sinne guter Beziehungen zwischen beiden, denn es schuf ausgedehntere Beförderungsmöglichkeiten und war natürlich ein gutes Argument gegen die vorgeschlagene Zusammenlegung; aber da bei einer Zusammenlegung das Kreis-C.I.D. sowieso der übernehmende Teil sein würde, war es in der stärkeren Position, und die mühelose Personalversetzung drohte, zu einem ständigen Fluß guter Männer vom Stadt- zum Kreis-C.I.D. auszuarten. Wenn Kywood eine stärkere Persönlichkeit gewesen wäre, hätte er viel davon unterbinden können.

Fusil nahm seine Pfeife, säuberte den Kopf und stopfte ihn. Er zündete sie an. Charrington war ein erstklassiger Polizist; wer und was war sein Ersatzmann? Ein junger Spund, der eben seine Pflichtzeit als Hilfs-Constable absolviert hatte und sicher nicht imstande war, auch nur die Hälfte von Charringtons Arbeit zu leisten.

Er suchte die Telefonnummer von Abteilung G heraus und sprach mit dem Abteilungschef.

«Kerr?» sagte der. «Kein schlechter Kerl.»

«Das klingt nicht sehr begeistert», antwortete Fusil mürrisch.

«Er ist jung.»

«Was soll das? Feststellung oder Entschuldigung?»

«Er ist schon in Ordnung, Bob. Ein bißchen unbekümmert, das ist alles. Ich nehme an, Sie waren das auch in seinem Alter. Er ist eifrig und wird sicher einen guten Polizisten abgeben.»

«Wann? Wenn ich pensioniert bin? Mal ganz offen: hat er überhaupt eine Ahnung von dem Job?»

«Ich sage Ihnen doch, er ist okay. Er muß nur lernen, daß das Leben nicht aus Biertrinken und Kegeln besteht. Warum stöhnen Sie denn? Irgendein Verbrechen in der Abteilung?»

«Verbrechen? Ihr Burschen wißt ja nicht mal, was das ist. Zwei Messerstechereien diese und eine vorige Woche, unten in den Docks.»

«Man sagt ja, entweder bringt’s einen um oder es hält einen jung.»

«Messerstechen?»

«Detective Inspector in der Abteilung Ost sein.»

Fusil legte auf und zündete seine Pfeife wieder an. Normalerweise war er eher heiteren Gemüts; aber jetzt schien es ihm, als boxte ihn das Leben genau dahin, wo es am meisten weh tat: Weshalb zum Teufel mußte ihm gerade jetzt eine Versetzung in die Quere kommen; weshalb mußte ein erstklassiger Detektiv gerade jetzt, wo die Kriminalitätsziffern im Ansteigen waren, von einem jungen Kerl abgelöst werden? Er fluchte.

Fusil war einmal als ein Mann beschrieben worden, der sich unwiderstehlich zum Verbrechen hingezogen fühlte, so daß ihm nichts blieb, als entweder ein erstklassiger Polizist oder ein erfolgreicher Verbrecher zu werden. Der Amateurpsychologe hatte dann weiterhin behauptet, unbewußt sei Fusil das klar, und er reagiere mit Haß und Angst darauf, daß er genauso leicht hätte ein Verbrecher werden können. Deshalb sei er so scharf. Der Amateurpsychologe mochte recht haben – diesmal.