2

Frindhurst liegt an der Südküste von England und hat knapp 230.000 Einwohner. Es lebt von ein wenig Industrie und vom Fremdenverkehr im Sommer. In dem kleinen Hafen wird der Küstenverkehr abgewickelt, doch erfreut er sich wachsender Beliebtheit bei den Vergnügungsbooten und Privatjachten.

Die Stadtpolizei, 1910 gegründet, hat eine Stärke von 460 Mann. Wie in jeder anderen Stadt der Welt ist auch hier in Frindhurst die Kriminalität im Ansteigen, und im gleichen Maße steigt auch der Anteil der unaufgeklärten Fälle, obwohl Frindhurst mit 25 Prozent vergleichsweise noch besser abschneidet als andere Städte dieser Größenordnung. Jedes Jahr beantragte der Polizeichef mehr Macht und mehr Mittel, um zum Beispiel den Wagenpark zu vergrößern, Funkgeräte für die Streifen kaufen zu können und die Bürobeamten durch Zivilisten ablösen zu dürfen. Der Sicherheitsausschuß des Stadtparlaments bewilligte die Anträge fast immer der Finanzausschuß jedoch strich sie mit gleicher Regelmäßigkeit. Frindhurst unterschied sich in keiner Weise von anderen Stadt- oder Länderverwaltungen.

Jeden Montag morgen gab der Polizeichef Charles Radamski dem Vorsitzenden des Sicherheitsausschusses Breen einen Bericht. Keiner der beiden hatte jedoch die Bezeichnung Bericht gewählt, für sie bedeutete es mehr einen Freundschaftsbesuch. Abgesehen von seinem Namen wirkte Radamski so englisch wie ein Mann aus dem Bilderbuch, mit seiner steifen aufrechten Haltung, der korrekten Kleidung und dem sorgsam gestutzten Schnurrbart. Er verdiente 4.250 Pfund im Jahr und war damit recht zufrieden. Sein Bestreben war, dafür zu sorgen, daß dies auch bis zu seiner Pensionierung so blieb. Und dazu war es wichtig, sich mit Breen gut zu stellen. Breen war der große Mann der Stadt, außerdem leitete er den Sicherheitsausschuß, und seine Widersacher schworen, daß ihm das ganze Stadtparlament und die Verwaltung aus der Hand fraß.

Der schwarze Austin Westminster des Polizeichefs verließ die Straße und fuhr in die pompöse Auffahrt von Praemoor House ein, Breens komfortablem Wohnsitz. Der Wagen stoppte vor dem mit schweren Säulen gezierten Eingang, der einem großen Landhaus alle Ehre gemacht hätte, aber zu dem plumpen roten Ziegelbau nicht recht passen wollte. Der Chauffeur, ein uniformierter Polizist, stieg aus und öffnete die Wagentür für Radamski.

«Schönen Dank, junger Mann», sagte Radamski beim Aussteigen. «Also dann – Punkt zwei Uhr dreißig.»

«Jawohl, Sir.»

Radamski ging die wenigen Schritte zum Portal. Seine schlanke, aufrechte Haltung, die übertriebene Gepflegtheit und knappe Sprache ließen deutlich den ehemaligen Offizier erkennen. Außerdem zeugten die vier Orden aus dem Zweiten Weltkrieg, die er ständig an seiner Uniform trug, daß er sowohl in Frankreich als auch im Fernen Osten gedient hatte.

Kaum hatte er das kleine Glockenspiel betätigt, da wurde auch schon die Tür von einer jungen Frau mit schweren, aber hübschen Zügen geöffnet.

«Guten Morgen, Sir», sagte sie mit hartem Akzent und lächelte ihm zu. «Was für ein schöner Tag.»

«Hallo, Eva, wie geht es Ihnen?»

«Danke, sehr gut.» Vor manchen Worten holte sie tief Luft, als fiele es ihr schwer, sie auszusprechen.

Sie führte ihn in das große, mit sorgsamer Eleganz eingerichtete Wohnzimmer, wo Breen und seine Frau ihn erwarteten.

«Morgen, Charles», sagte Breen. «Es ist großartig, daß Sie vorbeischauen.» Breen vergaß es nie, Radamski für seine Besuche zu danken.

«Guten Morgen, Vera, guten Morgen, Reginald», erwiderte Radamski höflich.

Vera Breen lächelte ihm herzlich zu. Sie mochte Radamski wegen seiner guten Manieren und seiner Freundlichkeit. Außerdem brachte er ihr dann und wann ein paar Blumen mit. Sie hatte die Zweiundfünfzig überschritten, die Zeit hatte ihr wenig Charme und Schönheit gelassen, und nur sehr selten noch verehrten ihr gutaussehende Männer Blumen. Sie weigerte sich zu fragen, ob er sie auch so zuvorkommend behandein würde, wenn ihr Mann nicht Vorsitzender des Sicherheitsausschusses und Radamski nicht zufällig Polizeichef wäre.

«Kommen Sie und nehmen Sie Platz, Charles. Was trinken Sie? Gin, Whisky oder einen Pineau des Charents? Habe ich ganz zufällig bekommen.»

«Ich hätte gern einen Whisky mit Soda.»

«Immer dem alten treu bleiben, eh? Und nicht soviel Soda, wenn ich mich recht erinnere, stimmt’s?»

«Und nicht soviel Whisky», warf Radamski ein. «Ich habe wahnsinnig zu tun im Moment.»

«Wann hätten Sie das nicht? Doch das ist die beste Empfehlung, die ein Mann haben kann.» Mit diesen Worten ging Breen zur Bar hinüber, die in einen alten Schrank eingebaut war, gleich neben der Glasvitrine mit der Wedgewood-Jaspissammlung seiner Frau. Er schenkte zwei Whisky ein und einen Gin mit Cinzano für Vera.

«Zum Wohl», sagte er und hob das Glas. «Auf die beste Polizei von ganz Südengland, den Norden nicht zu vergessen.»

Radamski lächelte und zeigte genau das richtige Maß an Bescheidenheit.

Breen stand mit dem Rücken zu dem leeren Kamin. Er war nicht groß, doch seine Ausstrahlung bewirkte, daß die Leute ihn oft als stattlich in Erinnerung behielten. Er war in Frindhurst geboren und hatte nach dem Tode seines Vaters ein gutgehendes Möbelgeschäft in der High Street geerbt. Jetzt hatte er die Fünfundfünfzig erreicht, war Vorsitzender im Stadtparlament und Generaldirektor einer Gesellschaft, die siebzehn große Möbelgeschäfte, dreiunddreißig kleinere für die niedrigen Einkommen und eine florierende Möbelfabrik besaß. Er war ein kluger Mann, der Wert darauf legte, nie klug zu erscheinen.

Vera Breen meinte, sie müsse in der Küche nach dem Rechten sehen, und verließ die Männer. Ihr halbgeleertes Glas mit Gin und Cinzano blieb auf dem kleinen Nußholztischchen zurück.

«Zigarette?» fragte Breen und schob eine wertvolle Dose näher. «Nun, was gibt’s Neues?»

«Nichts Besonderes. Übrigens haben wir die Rowdies gefaßt, die da ihr Unwesen in den Parks trieben.»

«Das läßt sich hören. Wenn man bedenkt, wieviel Geld ausgegeben wird, um die Parks zu pflegen. Wer waren denn die Strolche?»

«Vier Schuljungen von Süd-Frindhurst, die viel Zeit und nichts besseres zu tun hatten.»

«Ich fürchte, ich bin hoffnungslos altmodisch, aber ich kann das einfach nicht begreifen», sagte Breen und setzte sich in einen Ledersessel. «Diese Jugend hat doch alles heutzutage, und dennoch läuft sie herum und zerstört Dinge aus lauter Übermut. Woran liegt das, Charles? Zu unserer Zeit, da waren die Väter arbeitslos und die Jungen hungrig. Da haben sie gestohlen, um einmal satt zu werden, nur deswegen. Aber heute, da sie einfach alles haben und es ihnen an nichts fehlt, da ziehen sie los und zerstören sinnlos.»

«Es scheint ein Symptom dieses Alters zu sein. Ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Es ist so etwas wie ein Aufbäumen gegen die bestehende Ordnung oder so, aber ich sehe überhaupt keinen Sinn dahinter.»

«Es mag wohl daran liegen, daß wir keine Beziehung zu ihnen haben.» Breen zuckte mit den Schultern. «Sonst was Ernstes?»

«Ein Einbruch in Postley. Zwei Straßen von hier wurden aus einem Haus Juwelen im Werte von dreitausend Pfund gestohlen. Dann noch ein Einbruch in der High Street und noch ein paar dieser üblichen Routinesachen.»

Breen leerte sein Glas und fragte: «Vor welchem Gericht werden sich die Jungen verantworten müssen?»

«Dem zentralen Jugendgericht.»

«Da ist der alte Glazer zuständig. Ich werde mal ein paar Worte mit ihm reden. Das schlimmste wäre doch wohl, wenn man die Burschen zu sanft behandelte. Er soll da mal ein Exempel statuieren.» Er erhob sich. Nur selten konnte er für längere Zeit still auf einem Platz bleiben. «Wie ist es? Noch ein Gläschen, bis das Essen kommt, Charles?»

Radamski reichte ihm sein Glas und sagte: «Übrigens, die beiden Beamten von der Regionalen Kriminaltruppe, von der R.C.S., sind heute morgen eingetroffen.»

«Was sind es für Männer?» fragte Breen, während er sich wieder am Kamin niederließ.

«Ich habe sie noch nicht gesehen, aber mein Inspektor sagt, daß der Detektivsergeant ein alter, erfahrener Beamter ist.»

Breen schüttelte unwillig den Kopf. «So ein Unsinn. Ich war von Anfang an gegen diese Regionalpolizei.»

«Ich habe bei der entscheidenden Konferenz laut und deutlich gesagt, wie wir alle hier denken.»

«Die hätten auch besser getan, auf Sie zu hören.»

«Das haben sie schon, doch nur mit einem Ohr. Der Bericht des Staatssekretärs ging über ihr Fassungsvermögen. Sein Vertreter redete und redete, daß wir in einem motorisierten Zeitalter leben, mit internationalem Flugverkehr, so daß die Kriminalpolizei beweglicher werden und ohne lange Formalitäten Grenzen und Bezirke wechseln müßte, um mit den Kriminellen gleichzuziehen.»

«Das ist doch eine Milchmädchenrechnung und hört sich so schön an: Der Verbrecher überschreitet eine Grenze, die Polizisten bleiben ihm auf der Spur, und ipso facto haben sie ihn. Aber denken Sie an meine Worte, so einfach ist das nicht. Und außerdem besteht eine vorbildliche Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Polizeistationen, daß es einfach Blödsinn ist, zu behaupten, der Verbrecher wäre in Sicherheit, sobald er eine Grenze überschritten hat. Ist doch alles nur Gefasel. Der Haken ist doch nur die Unabhängigkeit der einzelnen Polizeigewalten. Die will der Herr Staatssekretär beschneiden. Dieses Land hat schon immer gegen eine nationale Polizeimacht gekämpft und wird es auch weiterhin tun. Das Ministerium will nur seine totalitäre Macht ausbauen. Sehen Sie doch, was Göring und seine Clique seinerzeit gemacht haben. In dem Augenblick, als sie die Macht hatten, haben sie alle Polizeichefs, die der Partei nicht grün waren, abgesetzt. Das war das Ende der Demokratie. Und dagegen verwahre ich mich.»

«Die meisten Polizeichefs haben Scheuklappen auf, und ihr Horizont reicht nicht weiter als ihre eigene Nasenspitze.»

«Frindhurst ist eine Stadtgemeinde durch königliches Privileg», sagte Breen mit Nachdruck. «Und wir können stolz sein auf unsere Polizeimacht. Das steht doch wohl fest. Und wir denken nicht daran, diesen Politikern nachzugeben. Schon mein alter Vater sagte immer, an dem Tag, als Frindhurst seine eigene Polizei bekam, hat es den Geist entwickelt, der die Stadt prägt. Ich bin wirklich kein Anhänger der Tradition nur um der Tradition willen. Doch, bei Gott, ich werde um die Rechte dieser Stadt kämpfen.»

Nachdenklich nippte Radamski an seinem Whisky. Sollte die Stadtpolizei tatsächlich einer Nationalpolizei weichen müssen, so bedeutete das nicht mehr und nicht weniger, als daß sein Posten auf dem Spiel stand.

Vera Breen betrat den Raum und unterbrach das Gespräch der Männer. «Das Essen ist fertig. Es gibt kalten Lachs, Charles. Ich hoffe, Sie mögen das.»

«Wunderbar, ich liebe Lachs.»

«Das ist fein.» Sie sah prüfend ihren Mann an. «Ich hoffe, du hast dich nicht so aufgeregt, daß es dir nicht mehr schmeckt, Reggie?»

«Ich kann nicht an die Nationalisierung der Polizei denken, ohne ins Kochen zu kommen, aber trotzdem bin ich verdammt hungrig.»

 

Chefinspektor Barnard sah sich in dem Raum um, den die beiden Männer vom R.C.S. (Regional Crime Squad) benutzen sollten. Das Büro war wahrhaftig erbärmlich möbliert mit lediglich zwei alten Schreibtischen, einem Tisch, der voller Kratzer und Rillen war, und zwei grauen Aktenschränken.

Er wandte sich an den älteren der beiden Beamten und fragte: «Haben Sie sich schon ein wenig eingewöhnt?»

«Ja, danke, Sir.»

«Haben Sie nun alles, was Sie brauchen?»

«Wir haben bis jetzt noch kein Telefon, Sir.»

«Ich fürchte, das wird noch ein wenig dauern.» Barnard hob bedauernd die Schultern. Nach einem letzten Blick über den Raum sagte er: «Ich erwarte regelmäßig Ihren Bericht.»

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sagte Sergeant Miller: «Liebenswürdige Kollegen, was? Die bringen sich ja direkt um vor lauter Hilfsbereitschaft.»

«Wir sind schließlich neu und auf Probe hier», erwiderte Detektivconstable Craig.

«Wenn die uns hier nicht wollen, brauchen sie nur einen Ton zu sagen. Liebend gern und im Nu habe ich meine Sachen gepackt und fahre zur Zentrale zurück. Selbst wenn das hier die schönste und gesündeste Stadt der ganzen Küste ist. Weil wir gerade davon sprechen, hast du das Plakat auf dem Bahnhof gesehen?»

«Nein.»

«Trotz meines Alters kann ich nicht leugnen, daß das Mädchen ein toller Anblick war; wenn das Oberteil des Bikinis nicht spätestens eine Sekunde nach der Aufnahme geplatzt ist, dann habe ich keine Ahnung von Schwerkraft.»

Craig zündete sich eine Zigarette an. Diese Versetzung von der Landeskriminalpolizei zur R.C.S. nach Frindhurst war ihm von seinem Chef als Beförderung zugedacht. Bis jetzt war es allerdings ziemlich viel verlangt, es in diesem Licht zu sehen. Selbst wenn er seinem Chef Glauben schenkte, der ihm versprochen hatte, ihn in einem Jahr auf die Polizeischule nach Bramshill House zu delegieren. Und wenn er gut abschnitt, sollte ein Studium an der Polizeiakademie folgen. Dann standen ihm alle Türen zu höheren Dienstgraden offen. Er hatte diese Möglichkeiten Dusty Miller gegenüber geäußert und war erschrocken gewesen über dessen scharfe Reaktion. Er hatte sich über die feinen Polizeipinkel mokiert, die ihre Tassen mit gespreiztem kleinen Finger hielten.

Miller blickte auf die Uhr. «Noch zwei Stunden bis Feierabend. Wenn es bloß schon soweit wäre.»

«Ich bin gespannt, wie unsere Buden aussehen», sagte Craig.

«Wie überall. Schmutzige Tapeten an den Wänden, der dreiundzwanzigste Psalm eingerahmt über dem Bett, und über allem schwebt ein Duft nach Kohl.»

«Ich habe gehört, daß wir bald reguläre Polizeiunterkünfte erhalten sollen.»

«Die Quartiermeister sind die größten Lügner der Welt. Die versprechen einem das Blaue vom Himmel, schon damit man sie in Ruhe läßt.»

Craig mußte lächeln.

 

Am gleichen Abend trafen sich Craig und Miller im «Roten Löwen», einer kleinen Kneipe mit einer interessanten Sammlung von alten Holz- und Porzellanfässern, aus denen seinerzeit Schnaps für ein und zwei Pence das Glas ausgeschenkt wurde.

«Zigarette?» fragte Miller, als sie zur Bar hinübergingen.

«Danke, jetzt nicht. Ich habe heute wie ein Schornstein gequalmt.»

Miller steckte sich eine Zigarette an und bestellte zwei halbe Bier und zwei Päckchen mit gerösteten Nüssen. «Ich habe eine Leidenschaft für diese Dinger», sagte er. «Aber wenn die Missus in der Nähe ist, darf ich die nicht essen, denn sie machen dick, sagt sie. Ein kleiner Bauch ist ein Zeichen von Fröhlichkeit, meine ich immer. Noch nie ist ein Fettbauch im Elend gestorben.»

Der Barmixer bediente sie. Miller öffnete die Tüte mit den Nüssen und streute reichlich Salz darüber. «Falls diese Dinger nicht schon jemand erfunden hätte, wäre ich bestimmt daraufgekommen und würde jetzt ein Millionär sein anstatt so ’n müder Polizist. Dann würde ich an alle jene Orte reisen, für die diese Bikinimädchen werben. Doch ich wette, alles was man dort trifft, sind alte Weiber, die aussehen wie Kartoffelsäcke.» Er lachte. «Komm, setzen wir uns an einen Tisch.»

Sie wählten einen runden Tisch am Fenster.

Miller wischte sich den Schweiß mit dem Taschentuch vom Gesicht. «Ist es nicht genug, daß man eines Tages in der Hölle schmoren muß? Wie bist du übrigens untergebracht?»

«Nicht gerade freundlich», antwortete Craig. «Und zu allem Überfluß ist auch noch die Wirtin eine widerliche alte Kuh.»

«Ich habe direkt einmal Glück gehabt. Doch ich bin überzeugt, das ist nicht das Verdienst des Quartiermeisters.»

«Ich kann wirklich nicht glauben, daß er mit Absicht schlechte Wohnungen für uns ausgesucht hat.»

«Du bist noch nicht lange genug bei dem Verein, um zu wissen, was die wirklich mit Absicht tun.»

«Ach, du bist ein unverbesserlicher Pessimist.»

«Mein lieber Junge, ich bin schon so lange Polizist, daß mir gar nichts anderes übrigbleibt, als Realist zu werden.»

Miller knabberte seine Nüsse und dachte über Craig nach. Er war ein junger Idealist, er glaubte noch an die innere Berufung für dieses Amt und war überzeugt, Träger der Verantwortung für die öffentliche Ordnung zu sein, ein Mandat von der Gesellschaft erhalten zu haben. Die Gesellschaft, ach du lieber Himmel! Man konnte wirklich zweifeln, daß sie überhaupt ein Mandat zu vergeben hatte. Jeden Tag, den Gott werden ließ, standen sie dabei und sahen seelenruhig zu, wie ein Polizist von irgendeinem Rowdy Keile bezog. Die Polizei stand geistig den Verbrechern näher als der Gesellschaft, die nach Recht und Ordnung schrie, doch der Polizei die Macht verweigerte, die sie brauchte, um Ordnung zu halten. In den guten alten Tagen, da hatte man so einen jugendlichen Strolch einfach übers Knie gelegt, und er war in Zukunft kein Strolch mehr. Versuch das mal heute, und du landest im Kittchen, dachte Miller. Er hätte schon längst den Polizeidienst verlassen wegen all der Enttäuschungen und der langen Dienststunden, doch diese paar Extrajahre würden ihm eine bessere Pension sichern. Das war das einzig Gute an diesem belämmerten Polizeidienst, daß man eines Tages eine vernünftige Pension bekam.

Craig unterbrach Millers Gedankenflug und fragte: «Wann kommt denn deine Frau?»

«Morgen, das geht in Ordnung. Sie muß noch bleiben wegen der Kinder und dann aufräumen und so. Aber morgen nachmittag trudelt sie ein. Apropos, ich werde mir mal lieber noch ein paar Nüsse beschaffen, ab morgen ist damit Schluß.»

Craig erhob sich zuvorkommend und ging zur Theke, um zwei weitere Bier und neue Nüsse zu bestellen.

Miller betrachtete den jungen Mann, als er an der Theke stand. Ein Universitätsstudium! Wieviel Gauner wird so ein Studium erwischen? Und was zum Teufel sollte so ein Spezialkursus in Bramshill? Was bezweckten die Leute damit? Spucken und Polieren, korrektes Grüßen und iß nicht mit dem Messer, du könntest dir in die Zunge schneiden. Es liefen wahrhaftig genug Fatzken herum, da brauchte man nicht noch welche heranzuziehen. Bei der Landespolizei hatte ein Polizist noch immer das Auto vom Präsidenten des Stadtparlaments zu waschen. Der Präsident war früher Fischhändler gewesen, warum konnte er seinen Wagen nicht selber waschen? Stank er zu sehr nach Fisch für seine empfindliche Nase?

Craig kam an den Tisch zurück und brachte das Bier für Miller und zwei weitere Nußpäckchen. Er sagte lachend: «Du hast eben ausgesehen, als littest du schrecklich.»

«Tat ich auch, Freund, tat ich. Ich dachte gerade darüber nach, wie die Polizei mehr und mehr verkommt.»

«Nanu? So miserable Neuaufnahmen zur Zeit?»

«Genau. Warte nur ab. Du wirst schon sehen, was aus deinem supergescheiten Gesetz und der Ordnung wird, wenn die guten Männer vom alten Schlag den Dienst verlassen.»

«Wir werden besseren Nachwuchs kriegen und weniger Abfall, wenn sie jetzt höhere Löhne zahlen und die Arbeitszeit verkürzen.»

«Arbeitszeit verkürzen? Daß ich nicht lache. Großvater wirst du sein, ehe das passiert. Doch das ist es nicht. Willst du wissen, wo der Hund begraben liegt?»

«Rück heraus damit.»

«Es ist die Gesellschaft. Tief drinnen in ihren kleinen Herzen hassen uns die Leute. Wir verkörpern die Autorität, und sie hassen die Autorität, es sei denn, sie brauchen ihre Hilfe.»

«Das ist doch Unsinn. Bei der letzten Meinungsumfrage …»

«Meinungsumfrage! Wenn ich das schon höre. Nichts glaube ich ihnen. Die Leute hassen uns, wenn ich es dir sage. Sieh dir doch an, wie sie unsere Arbeit erschweren. Was passiert denn jetzt? Wenn wir einen wirklichen Verbrecher erwischen, dann kriegt er eine kleine Strafpredigt und vielleicht ein paar Jahre Gefängnis. Prügeln ist verboten, die Todesstrafe ist abgeschafft …»

«Die Todesstrafe hat noch nie jemanden gehindert, einen Mord zu begehen.»

«Auf alle Fälle hat sie den gehenkten Mörder gehindert, einen zweiten Mord zu begehen.»

«Weißt du was, Dusty, du bist einer dieser engherzigen Reaktionäre, von denen unser Gewerkschaftsfunktionär gesprochen hat», sagte Craig lachend.

«Spotte nur. Aber ich kenne meine Gauner und Verbrecher. Da gibt es nur eine Möglichkeit, sie unter Druck zu halten. Und das ist, ihnen die Belehrung um die Ohren zu schlagen, daß ihnen die Luft wegbleibt. Und was die Hauptsache ist, ohne Rücksicht auf die Mittel, mit denen du sie ihnen einbläust.»

«Das ist kaum die Methode, wie sie in der Dienstvorschrift steht.»

«Ich kenne nur eine Methode, wie man die Dienstvorschrift bei Verbrechern sinnvoll anwenden kann. Doch das lernst du nicht in deinem vornehmen Bramshill House.»

«Sergeant, Sie versuchen mich negativ zu beeinflussen», sagte Craig scherzhaft.

«Ich versuche nur, dir eine Ahnung zu vermitteln, was es heißt, Polizist zu sein.»

Craig hätte gern gewußt, wieviel an den Worten Millers Scherz war und wieviel Überzeugung. Miller entstammte ohne Zweifel der Brigade alter Haudegen, aber er hatte einen ausgeprägten, wenn auch ein wenig bitteren Sinn für Humor. Schon in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft hatte Craig gemerkt, daß Miller nichts größeres Vergnügen bereitete als eine wilde Diskussion, bei der er seine eigenen Ansichten bis zur Verzerrung auswalzte, nur aus Freude am Spott und am Spiel mit den Worten.

Miller trank einen großen Schluck und bestreute die Nüsse mit Salz. «In gar nicht so langer Zeit habe ich das alles hinter mir. Ich werde pensioniert sein, Kartoffeln buddeln und Kohl pflanzen.»

«Weißt du schon, wo du dich niederlassen wirst?»

«Es würde uns nichts ausmachen, hier irgendwo in der Nähe zu wohnen, trotz all der alten Weiber. Aber das ist unmöglich wegen der Grundstückspreise. Meine Frau hat zwar etwas Geld von ihrem Vater geerbt, doch hier würde das nicht einmal reichen, um die Fensterbretter zu bezahlen.»

«Heutzutage ist Bauen so gut wie unmöglich.»

«Das ist der Grund, warum ich bei diesem lahmen Verein bleibe, obwohl eine Beförderung langsamer läuft als eine Schildkröte. Bau ein Haus mit Hypotheken und genieße das Leben.» Miller trank sein Bier aus und fuhr fort: «Komm, Freund, wasch dir den Magen und spül die Nieren.»

«Nein, danke, für mich nicht mehr.»

«Du kannst unmöglich deinen ersten Arbeitstag hier beschließen, ohne deine Sorgen in Bier zu ertränken. Wenn du erst einmal verheiratet bist, dann wirst du merken, daß es sich nicht lohnt, eine Chance zu verpassen. Wenn meine Missus erst hier ist, wird mein Bierkonsum auf Nullkommanull gestrichen.»

«Das wird Geld für das Haus sparen helfen.»

Miller lachte: «Manche Häuser werden wirklich zu teuer erkauft.» Er erhob sich und ging zur Theke hinüber.

Craig dachte an Daphne. Es kam immer öfter vor, daß er sich nicht mehr genau vorstellen konnte, wie sie aussah. Das klang zwar verrückt, doch die Trennung verursachte ein gewisses Flimmern in seinem Gedächtnis. Sie wollte, daß sie heirateten, doch er bestand darauf zu warten, bis er sicher war, daß seine Zukunft sich so rosig gestalten würde, wie manche Leute es ihm prophezeiten. Daphne war fröhlich, lebhaft und leidenschaftlich. So leidenschaftlich, daß es ihr ganz gleich war, wie weit er ging, wenn sie zärtlich waren. Ganz im Gegensatz zu ihm. Er wußte sich immer zu beherrschen und nahm jede Verantwortung sehr ernst.

«Da wären wir wieder», sagte Miller und kam mit Gläsern und neuen Nüssen zurück. «Wie steht es jetzt mit einem Sargnagel?»

Craig bediente sich aus Millers zerknittertem Zigarettenpäckchen.

«Auf das Verbrechen», sagte Miller und hob das Glas. «Es verschafft uns zwar nicht gerade ein luxuriöses Leben, doch bewahrt es uns vor dem Verhungern.» Er trank mit Genuß, öffnete die nächste Tüte mit Nüssen und streute andächtig Salz darauf.