KAPITEL 10

Malthus in Afrika: Der Völkermord von Ruanda

Ein Dilemma ■ Die Ereignisse in Ruanda ■ Mehr als ethnischer Hass ■ Spannungen in Kanama ■ Explosion in Kanama ■ Warum es geschah

Als meine beiden Söhne - sie sind Zwillinge - zehn waren, und dann noch einmal fünf Jahre später, nahmen meine Frau und ich sie zum Familienurlaub mit nach Ostafrika. Wie viele andere Touristen, so waren auch wir vier überwältigt von unseren hautnahen Begegnungen mit Großwild, Landschaft und Menschen. Auch wenn wir noch so oft in der Gemütlichkeit unseres Wohnzimmers gesehen hatten, wie Gnus in National Geographic-Dokumentarfilmen über den Fernsehschirm gezogen waren: Als wir im Landrover saßen und die Herde von Millionen dieser Tiere sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte, waren wir auf den Anblick, die Geräusche und Gerüche nicht vorbereitet. Ebenso wenig hatte das Fernsehen uns die gewaltige Größe des Ngorongoro-Kraters mit seinem flachen, baumlosen Kraterboden vermittelt, und wir hatten nicht gewusst, wie steil und hoch seine Innenwände sind, die man von dem Touristenhotel am Kraterrand hinunterfahren muss.

Auch von den Menschen Ostafrikas waren wir überwältigt: von ihrer Freundlichkeit, ihrem warmherzigen Umgang mit unseren Kindern, ihrer farbenfrohen Kleidung - und ihrer schieren Zahl. Abstrakt etwas über »die Bevölkerungsexplosion« zu lesen, ist ganz etwas anderes, als wenn man Tag für Tag die afrikanischen Kinder, viele von ihnen so groß und so alt wie meine Söhne, in langen Reihen am Straßenrand sitzen sieht, weil sie die vorüberfahrenden Touristen um einen Bleistift anbetteln wollen, den sie in der Schule gebrauchen können. Die Auswirkungen dieser Menschen auf die Landschaft erkennt man sogar an Straßenabschnitten, wo gerade keine Menschen sind, weil sie anderes zu tun haben. Das Gras auf den Weiden wächst spärlich und wird von Rinder-, Schaf- und Ziegenherden ganz kurz abgeweidet. Man sieht frische Erosionsgräben, und das Wasser, das darin fließt, ist braun von dem Schlamm, den es aus den nackten Weideflächen auswäscht.

In ihrer Gesamtheit sorgen diese Kinder in Ostafrika für eine der höchsten Bevölkerungswachstumsraten der Welt: In Kenia liegt sie derzeit bei 4,1 Prozent, das heißt, die Bevölkerung verdoppelt sich alle 17 Jahre. Diese Bevölkerungsexplosion findet statt, obwohl Afrika länger von Menschen bewohnt ist als jeder andere Kontinent, sodass man naiverweise annehmen könnte, Afrikas Bevölkerung habe sich schon vor langer Zeit auf einer bestimmten Höhe eingependelt. Dass sie in Wirklichkeit in jüngster Zeit explodiert, hat viele Gründe: die Einführung von Nutzpflanzen aus der Neuen Welt (insbesondere Mais, Bohnen, Süßkartoffeln und Maniok), die Verbreiterung der landwirtschaftlichen Basis und eine Steigerung der Lebensmittelproduktion, wie sie allein mit afrikanischen Pflanzenarten nicht möglich gewesen wäre, verbesserte Hygiene, Krankheitsvorbeugung, Impfung von Müttern und Kindern, Antibiotika, eine gewisse Eindämmung der Malaria und anderer typisch afrikanischer Krankheiten, die Bildung von Staaten und die Festlegung von Staatsgrenzen mit der Folge, dass manche neue, zuvor umkämpfte Niemandsland-Gebiete der Besiedelung zugänglich wurden.

Bevölkerungsprobleme, wie sie heute in Ostafrika bestehen, werden häufig als »malthusianisch« bezeichnet: Der britische Wirtschaftswissenschaftler und Bevölkerungskundler Thomas Malthus vertrat 1798 in einem berühmten Buch die Ansicht, das Bevölkerungswachstum werde irgendwann zu einer Überforderung der Lebensmittelproduktion führen. Dies, so Malthus’ Überlegung, sei unausweichlich, weil die Bevölkerung exponentiell wächst, die Lebensmittelproduktion dagegen linear. Liegt die Verdoppelungszeit einer Bevölkerung beispielsweise bei 35 Jahren, hat sich eine Gruppe, die im Jahr 2000 aus 100 Menschen besteht, bis 2035 auf 200 Menschen verdoppelt; diese verdoppeln sich bis 2070 auf400 Menschen, nach den nächsten 35 Jahren sind es 2105 bereits 800 Menschen, und so weiter. Die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion dagegen ist keine Multiplikation, sondern eine Addition: Irgendein Fortschritt lässt den Weizenertrag um 25 Prozent steigen, der nächste Fortschritt führt zu einer Steigerung um 20 Prozent, und so weiter. Zwischen dem Wachstum von Bevölkerung und Nahrungsmittelproduktion besteht also ein grundlegender Unterschied. Wenn die Bevölkerung wächst, pflanzen sich die neu hinzugekommenen Menschen ihrerseits ebenfalls fort wie beim Zinseszins, den Zinsen, welche die Zinsen ihrerseits wiederum einbringen.

Dies führt zu exponentiellem Wachstum. Deshalb wird eine Bevölkerung immer so lange wachsen, bis sie alle verfügbaren Nahrungsmittel verbraucht; Lebensmittelüberschüsse wird es nie geben, es sei denn, das Bevölkerungswachstum kommt durch Hungersnot, Krieg oder Krankheiten zum Stillstand, oder die Menschen treffen selbst vorbeugende Entscheidungen, beispielsweise indem sie Empfängnisverhütung betreiben oder Eheschließungen hinausschieben. Die auch heute noch weit verbreitete Vorstellung, wir könnten die Menschen allein durch eine Steigerung der Nahrungsproduktion glücklich machen, ohne gleichzeitig das Bevölkerungswachstum zu unterbinden, muss am Ende zur Enttäuschung führen - das jedenfalls meinte Malthus.

Ob sein pessimistischer Gedankengang richtig ist, war und ist heftig umstritten. In unserer Zeit haben manche Länder ihr Bevölkerungswachstum durch freiwillige Maßnahmen oder durch staatlich verordnete Geburtenkontrolle stark eingeschränkt. Im Fall Ruanda jedoch wurde offensichtlich Malthus’ schlimmstes Szenario Wirklichkeit. Allgemein betrachtet, sind sich Malthus-Anhänger und Malthus-Gegner in einem Punkt einig: Bevölkerungs- und Umweltprobleme, die durch nicht nachhaltige Ressourcennutzung entstehen, werden irgendwann auf die eine oder andere Weise gelöst - entweder durch angenehme, selbst gewählte Mittel, oder aber auf den unangenehmen, erzwungenen Wegen, die Malthus sich ursprünglich ausmalte.

Vor einiger Zeit sprach ich an der University of California in Los Angeles im Rahmen einer Vorlesungsreihe für Studienanfänger, in der ich die ökologischen Probleme von Gesellschaften behandelte, auch über die Schwierigkeiten aller Gesellschaften, in ökologischen Fragen Einigkeit zu erzielen. Daraufhin erklärte einer meiner Studenten, solche Meinungsverschiedenheiten könnten durch Konflikte gelöst werden, und häufig geschehe das auch. Damit meinte er nicht, dass er Mord für ein geeignetes Mittel zur Beilegung von Diskussionen hielt. Er hatte nur zu Recht darauf hingewiesen, dass Umweltprobleme häufig Konflikte zwischen Menschen nach sich ziehen, dass solche Konflikte in den Vereinigten Staaten häufig vor Gericht ausgetragen werden, dass die Gerichte ein völlig akzeptables Mittel zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten sind, und dass Studenten, die sich im Rahmen ihrer Berufsausbildung auf die Lösung von Umweltproblemen vorbereiten, sich auch mit dem juristischen System vertraut machen sollten. Auch hier ist der Fall Ruanda lehrreich: Was die Häufigkeit der Problemlösung durch Konflikte anging, hatte mein Student grundsätzlich Recht, aber der Konflikt findet nicht immer im Gerichtssaal statt, sondern er kann auch sehr viel hässlichere Formen annehmen.

In den letzten Jahren sind die Namen der beiden Nachbarstaaten Ruanda und Burundi in unserer Vorstellung zu Synonymen für dichte Bevölkerung und Völkermord geworden. Sie sind die am dichtesten besiedelten Staaten Afrikas und stehen mit ihrer Bevölkerungsdichte auch weltweit in der Spitzengruppe: Sie ist in Ruanda dreimal so hoch wie in Nigeria, dem afrikanischen Land mit der dritthöchsten Bevölkerungsdichte, und zehnmal so hoch wie im benachbarten Tansania. Der Völkermord in Ruanda forderte die dritthöchste Zahl von Opfern bei derartigen Ereignissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - in den Schatten gestellt wird er nur noch durch die Massenmorde in Kambodscha in den siebziger Jahren und 1971 in Bangladesch (dem damaligen Ostpakistan). Da Ruanda insgesamt nur etwa ein Zehntel der Einwohnerzahl von Bangladesch hat, geht das Ausmaß des dortigen Völkermordes, gemessen am Anteil der Toten an der Gesamtbevölkerung, weit über den in Bangladesh hinaus und wird nur noch von dem in Kambodscha übertroffen. In Burundi war der Völkermord mit »nur« wenigen hunderttausend Opfern weniger umfangreich als in Ruanda. Doch selbst damit steht dieses Land, was die Zahl der Toten angeht, seit 1950 weltweit an siebter Stelle, und im Verhältnis der Toten zur Einwohnerzahl belegt es Rang vier.

In der Regel bringen wir den Völkermord in Ruanda und Burundi mit ethnisch motivierter Gewalt in Verbindung. Bevor wir verstehen können, welche Ursachen dabei außerdem noch eine Rolle spielten, müssen wir uns ein wenig genauer ansehen, wie der Massenmord ablief, welche historische Entwicklung ihn in Gang setzte und wie beides gewöhnlich interpretiert wird. (Später werde ich erläutern, warum diese Interpretation in manchen Aspekten falsch, unvollständig oder zu stark vereinfacht ist.) Die Bevölkerung beider Staaten besteht aus zwei großen Gruppen: Den Hutu, die ursprünglich 85 Prozent der Einwohner stellten, und den Tutsi mit etwa 15 Prozent. Die beiden Gruppen hatten traditionell in erheblichem Maße unterschiedliche wirtschaftliche Funktionen erfüllt: Die Hutu waren vorwiegend Bauern, die Tutsi züchteten Vieh. Oft wird behauptet, die Angehörigen beider Gruppen sähen unterschiedlich aus: Hutu sind im Durchschnitt kleiner stämmiger, dunkelhäutiger, mit flacher Nase, kräftigen Lippen und eckigem Unterkiefer, Tutsi sind größer, schlanker, hellhäutiger, mit dünnen Lippen und schmalem Kinn. Allgemein geht man davon aus, dass Ruanda und Burundi von Süden und Westen her durch Hutu besiedelt wurden, während die Tutsi als nilotisches Volk später von Norden und Osten hinzukamen und sich zu Herrschern über die Hutu aufschwangen. Als die deutsche (1897) und später die belgische (1916) Kolonialregierung die Macht übernahm, hielten sie es für klug, die Regierungsgewalt durch Tutsi-Mittelmänner ausüben zu lassen, die wegen ihrer helleren Haut und ihres angeblich stärker europäischen oder »hamitischen« Aussehens gegenüber den Hutu als rassisch überlegen galten. In den dreißiger Jahren erließen die Belgier eine Vorschrift, wonach jeder einen Personalausweis besitzen musste, der ihn als Hutu oder Tutsi kennzeichnete; auf diese Weise vertieften sich die ohnehin bereits vorhandenen ethnischen Abgrenzungen.

Beide Länder wurden 1962 unabhängig. Als die Unabhängigkeit näher rückte, kämpften die Hutu in beiden Ländern darum, die Vorherrschaft der Tutsi zu brechen und durch eigene Dominanz zu ersetzen. Kleine gewalttätige Zwischenfälle eskalierten in einer Spirale der Vergeltungsangriffe zwischen Tutsi und Hutu. In Burundi gelang es den Tutsi schließlich, ihre Vormachtstellung zu verteidigen, aber zuvor, nach Hutu-Aufständen in den Jahren 1965 und 1970 bis 1972, hatten sie mehrere hunderttausend Hutu umgebracht. (Im Hinblick auf diese geschätzte Zahl und auch bei den im Folgenden genannten Opfer- und Vertriebenenzahlen bestehen naturgemäß große Unsicherheiten.) In Ruanda jedoch gewannen die Hutu die Oberhand: 1963 töteten sie 20 000 (vielleicht auch nur 10 000) Tutsi. Im Lauf der beiden folgenden Jahrzehnte flohen mehr als eine Million Ruander und insbesondere Tutsi in Nachbarstaaten. Von dort aus versuchten sie es immer wieder mit Invasionen in Ruanda, was dazu führte, dass weitere Tutsi von Hutu getötet wurden; 1973 schließlich kam der Hutu-General Habyarimana durch einen Putsch gegen die bisherige Hutudominierte Regierung an die Macht und entschied, man solle die Tutsi in Ruhe lassen.

Unter Habyarimana ging es Ruanda 15 Jahre lang gut. Das Land wurde zu einem bevorzugten Empfänger von Entwicklungshilfe aus Staaten anderer Kontinente, die hier ein friedliches Land mit immer besseren Indikatoren für Gesundheitsversorgung, Bildung und Wirtschaft vorweisen konnten. Aber leider kam der wirtschaftliche Aufschwung durch Dürre und verschiedene ökologische Probleme (insbesondere Waldzerstörung, Bodenerosion und Fruchtbarkeitsverlust des Bodens) zum Stillstand; 1989 folgten dann noch ein starker Abfall der Weltmarktpreise für Kaffee und Tee, die beiden wichtigsten Exportprodukte des Landes, sowie Sparauflagen der Weltbank und im Süden eine weitere Dürre. Als Tutsi im Oktober 1990 wieder einmal versuchten, aus Uganda in den Nordosten Ruandas einzudringen, nahm Habyarimana dies als Vorwand, um überall in seinem Land Hutu-Dissidenten und Tutsi zu verhaften und so die Macht seiner eigenen Anhänger zu stärken. Der Bürgerkrieg trieb eine Million Ruander in Flüchtlingslager, und dort waren verzweifelte junge Männer leicht für Milizen zu rekrutieren. Im Jahr 1993 wurde in Arusha ein Friedensabkommen unterzeichnet, das eine Teilung der Macht und eine Mehrparteienregierung vorsah. Aber Geschäftsleute, die Habyarimana nahe standen, importierten 581 000 Macheten - die billiger waren als Gewehre - und ließen sie an Hutu verteilen, damit diese die Tutsi umbrachten.

Aber Habyarimanas Maßnahmen gegen die Tutsi und die Tatsache, dass er deren Tötung nun hinnahm, reichten den Hutu-Extremisten noch nicht aus. Diese fürchteten, ihre Machtposition werde durch das Abkommen von Arusha verwässert. Sie bildeten ihre eigenen Milizen aus, importierten weitere Waffen und bereiteten die Ausrottung der Tutsi vor. Die Angst der Hutu vor den Tutsi erwuchs aus der langjährigen Unterdrückung durch die früheren Machthaber, aus den verschiedenen Invasionen der Tutsi und den Massenmorden, die Tutsi an Hutu und ihren politischen Führern im benachbarten Burundi verübt hatten. Neue Nahrung erhielten die Befürchtungen, als extremistische Tutsi-Offiziere 1993 in Burundi den dortigen Präsidenten, einen Hutu, ermordeten; dies provozierte in Burundi den Mord von Hutu an Tutsi, und das wiederum gab den Anlass zu noch mehr Morden von Tutsi an Hutu.

Die letzte Zuspitzung erfolgte am Abend des 6. April 1994: Die Präsidentenmaschine von Ruanda mit dem Präsidenten Habyarimana und dem (in letzter Minute zugestiegenen) neuen Übergangspräsidenten von Burundi an Bord wurde bei der Landung auf dem Flughafen der ruandischen Hauptstadt Kigali von zwei Raketen abgeschossen. Alle Insassen kamen ums Leben. Die Raketen kamen aus der unmittelbaren Umgebung des Flughafens. Von wem und warum Habyarimanas Flugzeug abgeschossen wurde, ist bis heute nicht genau geklärt; Motive, ihn umzubringen, hatten mehrere Gruppen. Wer die Attentäter auch waren, jedenfalls führten Hutu-Extremisten schon in der ersten Stunde nach dem Abschuss der Maschine einen offenbar exakt vorbereiteten Plan aus: Sie töteten den Hutu-Premierminister sowie andere gemäßigte oder jedenfalls weniger extreme Mitglieder der demokratischen Opposition und auch Tutsi. Nachdem die Hutu-Opposition ausgeschaltet war, übernahmen die Extremisten die Macht und den Rundfunk, und dann gingen sie daran, die ruandischen Tutsi, trotz der früheren Morde und der Auswanderung ins Exil immer noch über eine Million Menschen, auszurotten.

Die Speerspitze der Mörder waren anfangs Hutu-Extremisten aus der Armee, die mit Gewehren zu Werke gingen. Sie machten sich wenig später daran, Hutu-Zivilisten effizient zu organisieren, verteilten Waffen, richteten Straßensperren ein, töteten Tutsi, die dort identifiziert wurden, riefen im Rundfunk alle Hutu dazu auf, die »Küchenschaben« zu töten, wie sie die Tutsi nannten, drängten Tutsi, sich an angeblich sicheren Plätzen zu sammeln, sodass man sie leichter umbringen konnte, und machten Jagd auf Flüchtlinge. Als erste internationale Proteste gegen die Morde aufflammten, änderten Regierung und Rundfunk den Ton ihrer Propaganda: Sie riefen nun nicht mehr dazu auf, die »Küchenschaben« zu töten, sondern drängten die Ruander, sie sollten Selbstverteidigung praktizieren und sich vor den gemeinsamen Feinden des Landes schützen. Gemäßigte Hutu-Beamte, die Morde verhindern wollten, wurden eingeschüchtert, übergangen, abgelöst oder umgebracht. Die größten Massaker mit jeweils Hunderten oder Tausenden von Opfern ereigneten sich, wenn Tutsi Zuflucht in Kirchen, Schulen, Krankenhäusern, Amtsgebäuden und anderen angeblich sicheren Orten suchten: Dort wurden sie umzingelt und dann mit Macheten erschlagen oder verbrannt. Hutu-Zivilisten waren an dem Völkermord in großem Umfang beteiligt, aber ob bis zu einem Drittel der Hutu-Bevölkerung oder ein geringerer Anteil an dem Blutbad mitwirkte, ist umstritten. Nachdem die Armeeangehörigen ihre Opfer anfangs vor allem erschossen hatten, wurden die späteren Morde mit einfacheren Mitteln ausgeführt, insbesondere mit Macheten oder nagelbesetzten Keulen. Es kam zu einer Fülle von Gräueltaten - den Opfern wurden Arme und Beine abgeschlagen, den Frauen schnitt man die Brüste ab, Kinder wurden in Brunnen geworfen, und es gab unzählige Vergewaltigungen.

Die Morde wurden zwar von der extremistischen Hutu-Regierung organisiert und im Wesentlichen von Hutu-Zivilisten ausgeführt, aber auch Institutionen und Außenstehende, von denen man ein anderes Verhalten erwartet hätte, spielten eine wichtige Rolle, weil sie nichts dagegen unternahmen. Insbesondere zahlreiche Würdenträger der katholischen Kirche von Ruanda unterließen es entweder, Tutsi zu schützen, oder sie trieben sie sogar gezielt zusammen, um sie an die Mörder zu übergeben. Die Vereinten Nationen, die bereits eine kleine Friedenstruppe in Ruanda stationiert hatten, befahlen dieser den Rückzug. Die französische Regierung schickte ebenfalls Friedenskräfte, die sich auf die Seite der mörderischen Hutu-Regierung stellten und die Invasion der Aufständischen bekämpfte. Und die Regierung der Vereinigten Staaten lehnte eine Intervention ab. Zur Erklärung dieser Verhaltensweisen beriefen sich die Vereinten Nationen, die französische Regierung und die Regierung der Vereinigten Staaten auf »Chaos«, »eine verwirrende Situation« und »Stammeskonflikte«, als sei dies nur eine der vielen Stammesfehden, die in Afrika als normal gelten und hingenommen werden; dabei ignorierte man alle Belege, dass die Morde von der Regierung Ruandas sehr sorgfältig koordiniert wurden.

Nach sechs Wochen waren schätzungsweise 800 000 Tutsi ums Leben gekommen, drei Viertel der damals noch in Ruanda lebenden Vertreter dieser Gruppe oder elf Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes. Schon einen Tag nach Beginn des Völkermordes begann eine von Tutsi geführte Rebellenarmee, die sich als Ruandische Patriotische Front (RPF) bezeichnete, mit militärischen Operationen gegen die Regierung. Erst als die RPF die verschiedenen Teile des Landes besetzte, endete dort der Völkermord, und am 18. Juli 1994 erklärte sie ihren vollständigen Sieg. Nach allgemeiner Ansicht war die RPF-Armee diszipliniert, und sie spannte auch keine Zivilisten als Mörder ein. Aber auch sie beging zur Vergeltung weitere Morde, die allerdings einen viel geringeren Umfang hatten als der vorangegangene Völkermord (die geschätzte Zahl der Opfer liegt hier »nur« bei 25 000 bis 60 000). Die RPF installierte eine neue Regierung, setzte auf nationale Versöhnung und Einheit, und drängte die Bewohner des Landes, sich nicht als Hutu oder Tutsi zu sehen, sondern als Ruander. Etwa 135 000 Personen wurden am Ende wegen des Verdachts auf Völkermord inhaftiert, aber verurteilt oder überführt wurden nur wenige. Nach dem Sieg der RPF flüchteten rund zwei Millionen Menschen (die Mehrzahl Hutu) in Nachbarländer (insbesondere in den Kongo und nach Tansania), während etwa 750 000 frühere Flüchtlinge (vor allem Tutsi) aus den Nachbarländern nach Ruanda zurückkehrten.

Glaubt man den üblichen Berichten, war der Völkermord in Ruanda und Burundi die Folge eines bereits früher vorhandenen ethnischen Hasses, den zynische Politiker aus eigenem Interesse anfachten. Die Organisation Human Rights Watch fasst es in ihrem Buch Leave None to Teil the Story: Genocide in Rwanda so zusammen: »Dieser Völkermord war kein unkontrollierter Wutausbruch eines Volkes, das von ›altem Stammeshass‹ besessen war ... Er erwuchs aus der gezielten Entscheidung einer modernen Oberschicht, Hass und Angst zu schüren, um selbst an der Macht zu bleiben. Diese kleine, privilegierte Gruppe spielte zuerst die Mehrheit gegen die Minderheit aus, um einer wachsenden politischen Opposition in Ruanda zu begegnen. Als sie dann mit dem Erfolg der RPF auf dem Schlachtfeld und am Verhandlungstisch konfrontiert wurde, gingen die wenigen Machthaber von der Strategie der ethnischen Teilung zum Völkermord über. Sie glaubten, der Ausrottungsfeldzug werde die Solidarität unter den Hutu unter ihrer Führung wiederherstellen und ihnen helfen, den Krieg zu gewinnen . « Es gibt überwältigende Belege, dass diese Lesart stimmt, und sie ist zu einem großen Teil die Erklärung für die Tragödie, die sich in Ruanda abspielte.

Manchen Indizien zufolge spielten aber auch andere Überlegungen eine Rolle. Es gab im Land noch eine dritte ethnische Gruppe: Die Twa oder Pygmäen, etwa ein Prozent der Bevölkerung, die auf der sozialen Leiter und im Machtgefüge ganz unten standen und für niemanden eine Bedrohung darstellten - aber auch sie kamen bei den Massenmorden des Jahres 1994 größtenteils ums Leben. In dem Gewaltausbruch ging es nicht nur um den Konflikt zwischen Hutu und Tutsi, sondern in Wirklichkeit verliefen zwischen den Fraktionen kompliziertere Grenzen: Drei rivalisierende Gruppen bestanden vorwiegend oder ausschließlich aus Hutu, und eine davon löste wahrscheinlich den Gewaltausbruch aus, weil sie den Hutu-Präsidenten, der einer anderen Gruppe angehörte, ermordete; und die Invasionsarmee der RPF wurde zwar von Tutsi geführt, ihr gehörten aber ebenfalls Hutu an. Die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi ist bei weitem nicht so eindeutig, wie sie häufig dargestellt wird. Beide Gruppen sprechen dieselbe Sprache, sie besuchten die gleichen Kirchen, Schulen und Lokale, lebten in denselben Dörfern unter denselben Häuptlingen zusammen und arbeiteten zusammen in den gleichen Büros. Hutu und Tutsi heirateten untereinander, und bevor die Belgier die Personalausweise einführten, wechselten sie manchmal ihre ethnische Zugehörigkeit. Im Durchschnitt sehen die Vertreter beider Gruppen zwar unterschiedlich aus, aber viele einzelne Personen lassen sich aufgrund ihres Äußeren unmöglich der einen oder anderen zuordnen. Ungefähr ein Viertel aller Bewohner Ruandas haben unter ihren Urgroßeltern sowohl Hutu als auch Tutsi- (Es ist sogar fraglich, ob die traditionelle Ansicht, wonach Hutu und Tutsi unterschiedlicher Herkunft sind, überhaupt stimmt oder ob die beiden Gruppen aus einer gemeinsamen Bevölkerung hervorgegangen sind, die sich in Ruanda und Burundi nur wirtschaftlich und gesellschaftlich aufspaltete.) Diese Verflechtungen führten während der Morde des Jahres 1994 zu zigtausenden von menschlichen Tragödien, weil Hutu versuchten, ihre Tutsi-Ehepartner, -Verwandte, -Freunde, -Kollegen und -Vorgesetzten zu schützen, oder weil sie die potenziellen Mörder ihrer Angehörigen mit Geld von ihrem Vorhaben abbringen wollten. In der Gesellschaft Ruandas waren die beiden Gruppen so eng verzahnt, dass Ärzte am Ende ihre Patienten umbrachten und umgekehrt, Lehrer töteten ihre Schüler und umgekehrt, Nachbarn und Arbeitskollegen töteten sich gegenseitig. Manche Hutu töteten einige Tutsi, schützten aber andere Tutsi. Man kommt nicht umhin, sich die Frage zu stellen: Wie kam es, dass so viele Ruander sich von extremistischen Führern so leicht manipulieren ließen und sich dann gegenseitig so barbarisch ermordeten?

Geht man davon aus, dass hinter dem Völkermord nicht mehr steckte als ethnischer Hass zwischen Hutu und Tutsi, der von Politikern angefacht wurde, sind insbesondere die Vorgänge im Nordwesten des Landes besonders rätselhaft. Dort gab es eine Gemeinde, in der praktisch ausschließlich Hutu lebten; es gab nur einen einzigen Tutsi, aber auch dort fanden Massenmorde statt - die Hutu brachten sich gegenseitig um. Die Gesamtzahl der Todesopfer mag mit »mindestens fünf Prozent der Bevölkerung« zwar etwas niedriger gelegen haben als im gesamten Land mit 11 Prozent, aber es bleibt dennoch zu erklären, warum eine Gemeinschaft von Hutu auch ohne ethnische Motive mindestens fünf Prozent ihrer Mitglieder tötet. Als der Völkermord 1994 fortschritt und die Zahl der Tutsi abnahm, gingen Hutu auch in anderen Teilen des Landes dazu über, sich gegenseitig anzugreifen. Aus diesen Tatsachen wird deutlich, dass wir neben dem ethnischen Hass auch nach anderen Ursachen suchen müssen.

Betrachten wir dazu zunächst noch einmal die bereits erwähnte hohe Bevölkerungsdichte in Ruanda. Das Land war - wie auch Burundi - bereits im 19. Jahrhundert, vor der Ankunft der ersten Europäer, dicht besiedelt. Das lag an dem doppelten Vorteil einer mäßigen Niederschlagsmenge und einer Höhenlage, in der sich Malaria und die Tsetsefliege nicht verbreiten konnten. Später wuchs die Bevölkerung Ruandas, wenn auch mit Schwankungen, durchschnittlich um drei Prozent im Jahr. Dies hatte im Wesentlichen die gleichen Gründe wie in den Nachbarländern Kenia und Tansania: Nutzpflanzen aus der Neuen Welt, bessere Gesundheitsversorgung, Arzneimittel und stabile politische Grenzen. Im Jahr 1990 lag die durchschnittliche Bevölkerungsdichte in Ruanda trotz der Morde und der Massenflucht der vorangegangenen Jahrzehnte noch bei 295 Menschen je Quadratkilometer, mehr als in Großbritannien (236) und fast so viel wie in den Niederlanden (367). Aber in Großbritannien und den Niederlanden gibt es eine äußerst leistungsfähige, mechanisierte Landwirtschaft, sodass ein Anteil von wenigen Prozent der Bevölkerung als Bauern die Lebensmittel für alle anderen produzieren können. In Ruanda ist die Landwirtschaft weit weniger leistungsfähig; die Bauern arbeiten mit Schaufel, Hacke und Machete, und die meisten Menschen müssen in der Landwirtschaft tätig werden, weil sie so gut wie keine Überschüsse produzieren, von denen andere leben könnten.

Auch als die Bevölkerung Ruandas nach der Unabhängigkeit wuchs, hielt das Land an seinen traditionellen landwirtschaftlichen Methoden fest. Man versäumte es zu modernisieren, produktivere Nutzpflanzensorten einzuführen, die landwirtschaftlichen Exporte auszuweiten und eine wirksame Familienplanung zu betreiben. Stattdessen wurde die wachsende Bevölkerung versorgt, indem man durch Rodung von Wäldern und Trockenlegung von Sümpfen neues Ackerland erschloss, die Brachperioden verkürzte und bestrebt war, jedes Feld innerhalb eines Jahres zweioder dreimal abzuernten. Als in den sechziger Jahren und 1973 zu viele Tutsi flüchteten oder getötet wurden, standen ihre Besitztümer der Umverteilung zur Verfügung, und dies beflügelte den Traum, jetzt könne endlich jeder Hutu-Bauer genügend Land besitzen, um sich und seine Familie ausreichend zu ernähren. Bis 1985 waren alle nutzbaren Landflächen außerhalb der Nationalparks erschlossen. Mit dem Wachstum von Bevölkerung und landwirtschaftlicher Produktion stieg der Pro-Kopf-Ertrag von 1966 bis 1981 an, aber danach sank er wieder auf das Niveau vom Beginn der sechziger Jahre. Genau hier beginnt das malthusianische Dilemma: mehr Nahrung, aber auch mehr Menschen und deshalb keine Steigerung der Nahrungsmenge pro Person.

Als einige meiner Bekannten 1984 in Ruanda waren, ahnten sie die ökologische Katastrophe bereits voraus. Das ganze Land glich einem Feld und einer Bananenplantage. Steile Berghänge waren bis zum Gipfel landwirtschaftlich genutzt. Man praktizierte nicht einmal grundlegende Maßnahmen zur Verminderung der Bodenerosion, wie Terrassenanbau, Pflügen entlang den Höhenlinien statt bergauf und bergab oder Anlage einer Pflanzendecke in Brachperioden; stattdessen ließ man die Felder in dieser Zeit einfach unbebaut. Die Folge war ein hohes Maß an Bodenerosion, und die Flüsse führten riesige Schlammmengen mit. Ein Bürger des Landes schrieb mir: »Manchmal wachen die Bauern morgens auf und stellen fest, dass ihr ganzes Feld (oder zumindest der Oberboden mit den Pflanzen) in der Nacht weggespült wurde, oder dass Boden und Gestein vom Nachbarfeld auf das eigene Feld gespült wurden.« Die Rodung der Wälder führte dazu, dass Wasserläufe austrockneten und dass die Niederschläge noch unregelmäßiger fielen. Ende der achtziger Jahre gab es wieder die ersten Hungersnöte. Im Jahr 1989 führte eine Dürreperiode, die durch regionale oder globale Klimaveränderungen in Verbindung mit den lokalen Auswirkungen der Waldzerstörung verursacht wurde, zu einer ernsteren Nahrungsmittelknappheit.

Wie sich alle diese Veränderungen von Umwelt und Bevölkerung in einem begrenzten Gebiet im Nordwesten Ruandas (der Gemeinde Kanama) auswirkten, das ausschließlich von Hutu bewohnt ist, wurde von den belgischen Wirtschaftswissenschaftlern Catherine Andre und Jean-Philippe Platteau im Einzelnen untersucht. Andre, Platteaus Studentin, lebte bei zwei Besuchen 1988 und 1993 insgesamt 16 Monate in der Region, und in dieser Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch des Völkermordes, verschlechterte sich dort die Situation. Sie befragte Angehörige der meisten Haushalte in dem Gebiet. Bei jeder Befragung, die sie während der beiden Jahre durchführte, vergewisserte sie sich über die Zahl der Menschen in dem jeweiligen Haushalt, die Landfläche, die er besaß, und das Einkommen, das die Menschen mit Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft erzielten. Außerdem führte sie Buch über Verkäufe und Eigentumsübertragungen von Land, und über Meinungsverschiedenheiten, die einer Vermittlung bedurften. Nach dem Völkermord des Jahres 1994 machte sie Überlebende ausfindig und versuchte festzustellen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten bestimmte Hutu andere Angehörige ihrer Volksgruppe getötet hatten. Anschließend werteten Andre und Platteau die riesigen Datenmengen aus und versuchten, darin einen Sinn zu finden.

Kanama hat sehr fruchtbaren Vulkanboden, und deshalb ist die Bevölkerungsdichte dort selbst nach den Maßstäben des dicht bevölkerten Ruanda besonders hoch: 1988 waren es 672 Menschen je Quadratkilometer, und bis 1993 war die Dichte auf 788 Menschen je Quadratkilometer angestiegen. (Das sind sogar höhere Werte als in Bangladesch, der am dichtesten bevölkerten Landwirtschaftsnation der Erde.) Ein Spiegelbild der hohen Bevölkerungsdichte war die geringe Größe der landwirtschaftlichen Betriebe: Ein durchschnittliches Anwesen besaß 1988 noch 3602 Quadratmeter, 1993 waren es nur noch 2914 Quadratmeter. Jeder Hof gliederte sich in (durchschnittlich) zehn getrennte Parzellen, sodass die Bauern absurd kleine Landflächen von 360 Quadratmetern im Jahr 1988 und 291 Quadratmetern im Jahr 1993 bewirtschafteten.

Da alle Landflächen in der Gemeinde bereits besetzt waren, hatten junge Leute es außerordentlich schwer zu heiraten, die Eltern zu verlassen, einen Hof zu übernehmen und einen eigenen Haushalt zu gründen. Sie schoben die Eheschließung zunehmend hinaus und lebten weiterhin zu Hause bei den Eltern. In der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen stieg beispielsweise der Anteil junger Frauen, die noch zu Hause wohnten, zwischen 1988 und 1993 von 39 auf 67 Prozent an, und bei den jungen Männern wuchs dieser Anteil von 71 auf 100 Prozent: 1993 lebte kein einziger unverheirateter Mann zwischen 20 und 25 Jahren unabhängig von seinen Eltern. Dies trug offensichtlich in den Familien zu tödlichen Spannungen bei, die 1994 zum Ausbruch kamen - ich werde in Kürze genauer darauf eingehen. Da immer mehr junge Leute zu Hause blieben, stieg die durchschnittliche Zahl der Menschen in einem bäuerlichen Haushalt in dem genannten Zeitraum von 4,9 auf 5,3: die Landknappheit war also noch stärker, als es der Rückgang der Betriebsgröße von 3602 auf 2914 Quadratmeter erkennen lässt. Dividiert man die zurückgehende Betriebsgröße durch die steigende Personenzahl im Haushalt, so stellt man fest, dass 1988 jeder Mensch von rund 800 Quadratmetern lebte, 1993 aber nur noch von rund 580 Quadratmetern.

Wie nicht anders zu erwarten, erwies es sich deshalb für die meisten Menschen in Kanama als schwierig, sich von einer so geringen Landfläche noch zu ernähren. Selbst wenn man die geringere Kalorienaufnahme zugrunde legt, die in Ruanda als ausreichend gilt, konnte der durchschnittliche Haushalt nur noch 77 Prozent seines Kalorienbedarfs aus eigener Kraft befriedigen. Die übrige Nahrung musste mit Einkommen, das außerhalb des Betriebes erzielt wurde, zugekauft werden - Einkommen beispielsweise aus Zimmermannsarbeiten, der Herstellung von Ziegeln, der Holzverarbeitung und Handelsgeschäften. Angehörige von zwei Dritteln aller Haushalte gingen solchen Tätigkeiten nach. Der Anteil der Bevölkerung, der weniger als 1600 Kalorien pro Tag (der offiziellen Hungerschwelle) zu sich nahm, lag 1982 bei neun Prozent, stieg bis 1990 auf 40 Prozent und danach auf einen nicht genau bekannten, noch höheren Wert an.

Alle diese Zahlen, die ich hier für Kanama genannt habe, sind Durchschnittswerte, und dahinter verbirgt sich eine ungleiche Verteilung. Manche Personen besaßen größere Höfe als andere, und dieses Ungleichgewicht nahm von 1988 bis 1993 zu. Definieren wir hier einmal einen Betrieb mit mehr als 10 000 Quadratmetern als »sehr groß« und einen mit weniger als 2500 Quadratmetern als »sehr klein«. (Welche Tragik in diesen Zahlen steckt, zeigt sich beim Blick auf Kapitel 1: Dort habe ich erwähnt, dass in Montana früher ein Betrieb von 16 Hektar - 160 000 Quadratmeter - notwendig war, um eine Familie zu ernähren, und dass diese Größe heute als unzureichend gilt.) Aber der Anteil der sehr großen Betriebe nahm von 1988 bis 1993 von fünf auf acht Prozent zu, bei den sehr kleinen Betrieben stieg er von 36 auf 45 Prozent. Mit anderen Worten: In der bäuerlichen Gesellschaft von Kanama öffnete sich die Schere zwischen reichen Grundbesitzern und armen Habenichtsen, und die Zahl derer, die in der Mitte standen, wurde immer kleiner. In der Regel waren ältere Haushaltsvorstände wohlhabender und hatten größere Betriebe: Solche aus der Altersgruppe zwischen 50 und 59 Jahren besaßen Höfe von durchschnittlich 8296 Quadratmetern, bei 20- bis 29-Jährigen waren es nur 1497 Quadratmeter. Natürlich hatten die älteren Haushaltsvorstände auch mehr Familienmitglieder und brauchten deshalb mehr Land, aber die Fläche je Haushaltsmitglied war auf ihren Anwesen immer noch drei Mal so groß wie bei den jüngeren Familienoberhäuptern.

Paradoxerweise hatten die Besitzer großer Anwesen auch außerhalb der Landwirtschaft ein unverhältnismäßig hohes Einkommen: Die Durchschnittsgröße der Betriebe, denen solches Einkommen zur Verfügung stand, lag bei 5261 Quadratmetern, für jene ohne derartiges Einkommen jedoch nur bei 2023 Quadratmetern. Paradox ist dieser Unterschied, weil auf kleineren Höfen weniger Ackerland pro Person für die Ernährung zur Verfügung steht, sodass in größerem Umfang andere Einkünfte gebraucht werden. Die Konzentration dieser Nebeneinkünfte auf die größeren Höfe trug dazu bei, dass die Gesellschaft von Kanama sich zunehmend in Reiche und Arme aufspaltete, wobei die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer wurden. Eigentlich ist es den Besitzern kleiner Höfe in Ruanda verboten, Teile ihres Landes zu verkaufen. Es geschieht aber dennoch. Bei der Untersuchung der Landverkäufe stellte sich heraus, dass die Eigentümer der kleinsten Höfe vor allem dann Land verkauften, wenn sie in Geldnot waren, beispielsweise wegen Nahrungsknappheit, gesundheitlicher oder juristischer Probleme, der Notwendigkeit von Bestechung, Eheschließungen, Bestattungen oder Alkoholmissbrauch. Die Eigentümer großer Höfe dagegen verkauften, um die Leistungsfähigkeit ihrer Betriebe zu steigern (so wurde beispielsweise eine abgelegene Parzelle veräußert, weil man ein Stück Land in der Nähe des Bauernhauses kaufen wollte).

Mit dem Zusatzeinkommen konnten die Besitzer größerer Höfe jenen, die kleinere Betriebe besaßen, Landflächen abkaufen und expandieren, die kleineren Höfe dagegen verkauften Land und schrumpften. Unter den großen Betrieben verkaufte fast keiner Land, ohne auch welches zu erwerben, unter den kleinsten dagegen verkauften 1988 schon 35 Prozent und 1993 sogar 49 Prozent einen Teil ihrer Flächen, ohne neue hinzuzukaufen. Alle Bauern mit Nebeneinkünften kauften Land hinzu, und keiner von ihnen verkaufte Land, ohne neues zu erwerben; dagegen kauften nur 13 Prozent derer, die keine Nebeneinkünfte hatten, Land hinzu, und 65 Prozent dieser Gruppe verkauften, ohne neu zu kaufen. Auch hier fällt das Paradox auf: Betriebe, die bereits sehr klein waren und dringend neue Flächen gebraucht hätten, verkauften in Notfällen und wurden noch kleiner, und die großen Betriebe finanzierten mit den Nebeneinkünften ihre Zukäufe. Wie gesagt: »Große Betriebe« sind hier nur nach den Maßstäben Ruandas groß, weil sie mehr als 5000 bis 8000 Quadratmeter umfassen.

In Kanama waren also die meisten Menschen verarmt, hungrig und verzweifelt, aber manche waren verarmter, hungriger und verzweifelter als andere, und bei den meisten wurde die Verzweiflung größer, während sie bei wenigen geringer wurde. Wie nicht anders zu erwarten, führte diese Situation häufig zu Konflikten, die von den Beteiligten nicht allein gelöst werden konnten, sodass sie sich entweder an die traditionellen Vermittler im Dorf wandten oder (seltener) die Gerichte bemühten. Die Haushalte berichteten im Durchschnitt jeweils über mehr als einen solchen Konflikt im Jahr, der einer Vermittlung von außen bedurfte. Andre und Plattaeu untersuchten 226 solche Konflikte anhand der Beschreibung durch die Konfliktvermittler oder Haushaltsvorstände. Nach Aussage beider Informantengruppen ging es in den meisten schwer wiegenden Konflikten um den Grundbesitz; entweder stritt man sich unmittelbar über das Land (43 Prozent der Fälle), oder es handelte sich um einen Konflikt unter Eheleuten, Familienangehörigen oder Bekannten, der letztlich ebenfalls auf einen Streit um Land zurückging (Beispiele werde ich in den beiden nächsten Absätzen beschreiben): in anderen Fällen drehte sich der Streit um den Diebstahl durch »Hungerdiebe«, wie sie in der Region genannt wurden, sehr arme Menschen, die fast kein Land besaßen, keinen Nebenverdienst hatten und mangels anderer Möglichkeiten vom Stehlen lebten (sieben Prozent aller Konflikte und zehn Prozent der Haushalte).

Solche Streitigkeiten um den Landbesitz höhlten den traditionellen gesellschaftlichen Zusammenhalt in Ruanda aus. Traditionell wurde erwartet, dass reiche Landbesitzer ihren ärmeren Verwandten helfen. Dieses System zerfiel jetzt, denn selbst Grundbesitzer, die mehr besaßen als andere, waren noch arm und konnten nichts für noch ärmere Angehörige erübrigen. Besonders stark litten die schwächsten Gruppen der Gesellschaft unter dem mangelnden Schutz: getrennt lebende oder geschiedene Frauen, Witwen, Waisen und jüngere Halbgeschwister. Wenn Ex-Ehemänner nicht mehr für ihre geschiedenen Frauen sorgten, konnten diese früher in die elterliche Familie zurückkehren, aber jetzt widersetzten sich die Brüder einem solchen Schritt, weil sie und ihre Kinder dadurch noch ärmer geworden wären. Unter Umständen versuchten die Frauen dann, nur mit ihren Töchtern in die Herkunftsfamilie zurückzukehren, denn die Vererbung verlief in Ruanda traditionell über die Söhne, sodass die Brüder einer Frau deren Töchter nicht als Konkurrenz für ihre eigenen Kinder betrachteten. Die Söhne wurden dann beim Vater (dem geschiedenen Ehemann) zurückgelassen, aber dessen Verwandte verweigerte ihnen unter Umständen ebenfalls den Grundbesitz, insbesondere wenn der Vater nicht mehr lebte und sie nicht schützen konnte. Auch eine Witwe wurde nun weder von der Familie ihres Ehemannes (ihren Schwägern) unterstützt, noch von ihren eigenen Brüdern, die ihre Kinder wiederum im Hinblick auf den Grundbesitz als Konkurrenz zum eigenen Nachwuchs sahen. Für Waisenkinder sorgten traditionell die Großeltern väterlicherseits; starben diese, versuchten nunmehr die Onkel (die Brüder des verstorbenen Vaters), die Waisen vom Erbe auszuschließen oder zu vertreiben. Kinder aus polygamen oder Ehen, die geschieden worden waren, wobei der Mann später wieder heiratete und mit der zweiten Frau ebenfalls Kinder hatte, wurden ebenfalls von ihren Halbbrüdern enterbt oder vertrieben.

Die schmerzlichsten und gesellschaftlich schädlichsten Konflikte um Land waren solche zwischen verfeindeten Vätern und Söhnen. Nach dem Tod eines Vaters ging traditionell sein gesamter Grundbesitz an den ältesten Sohn über; von diesem wurde erwartet, dass er das Land für die ganze Familie verwaltete und seinen jüngeren Brüdern einen so großen Anteil zur Verfügung stellte, dass sie sich davon ernähren konnten. Als das Land immer knapper wurde, gingen die Väter allmählich dazu über, den Besitz zwischen allen Söhnen aufzuteilen, um das Konfliktpotenzial in der Familie für die Zeit nach ihrem Tod zu vermindern. Aber die einzelnen Söhne stellten, was die Aufteilung des Landes anging, unterschiedliche Forderungen an den Vater. Die jüngeren Brüder ärgerten sich, wenn die Älteren, die zuerst heirateten, einen unverhältnismäßig großen Anteil erhielten, besonders wenn der Vater später, wenn die jüngeren Söhne heirateten, einen Teil des Landes verkaufen musste. Jüngere Söhne verlangten deshalb eine genau gleichmäßige Verteilung; sie erhoben Einwände, wenn ihr Vater dem ältesten Sohn zur Hochzeit ein Stück Land schenkte. Von dem jüngsten Sohn wurde traditionell erwartet, dass er im höheren Alter für die Eltern sorgte, und er verlangte nun häufig einen zusätzlichen Anteil am Land, um diese traditionelle Aufgabe erfüllen zu können. Brüder waren misstrauisch gegenüber Schwestern und jüngeren Brüdern, die vom Vater Land geschenkt bekamen, und versuchten sie zu vertreiben - sie hatten den Verdacht, das Geschenk könne eine Gegenleistung sein, weil die Schwester oder der jüngere Bruder versprochen hatte, den Vater im hohen Alter zu versorgen. Söhne klagten darüber, der Vater behalte zu viel Land für sich, um sich auf seine alten Tage ernähren zu können, und verlangten schon jetzt größere Flächen für sich selbst. Die Väter wiederum hatten verständlicherweise Angst davor, sie könnten im Alter zu wenig Grundbesitz haben, und widersetzten sich den Forderungen der Söhne. Alle diese Konflikte endeten vor den Vermittlern oder den Gerichten, Väter verklagten Söhne und umgekehrt, Schwestern verklagten ihre Brüder, Neffen ihre Onkel, und so weiter. Durch die Streitigkeiten gingen Familienbande zu Bruch, enge Verwandte wurden zu Konkurrenten und erbitterten Feinden.

Solche chronischen, eskalierenden Konflikte bildeten den Hintergrund für die Morde des Jahres 1994. Schon davor hatte die Zahl von Gewaltverbrechen und Diebstählen in Ruanda stark zugenommen. Die Täter waren vor allem hungrige junge Leute ohne Landbesitz und ohne anderweitige Einkünfte. Vergleicht man die Kriminalitätsrate bei Personen zwischen 21 und 25 Jahren in verschiedenen Teilen Ruandas, so stellt sich heraus, dass die regionalen Unterschiede statistisch mit der Bevölkerungsdichte und der pro Kopf verfügbaren Kalorienzahl zusammenhängen: Hohe Bevölkerungsdichte und Hunger sind mit mehr Verbrechen verbunden.

Nach den Gewalttaten des Jahres 1994 bemühte sich Andre, das Schicksal der Einwohner von Kanama nachzuzeichnen. Nach den Berichten, die sie erhielt, waren 5,4 Prozent von ihnen durch den Krieg ums Leben gekommen. In Wirklichkeit muss die Zahl der Opfer aber höher liegen, denn über das Schicksal mancher Bewohner konnte sie nichts in Erfahrung bringen. Deshalb ist nicht bekannt, ob der Anteil der Opfer an den Durchschnittswert von elf Prozent für ganz Ruanda heranreicht. Klar ist aber, dass der Anteil der Opfer in einem Gebiet, wo die Bevölkerung nahezu ausschließlich aus Hutu bestand, immer noch mindestens halb so hoch war wie in den Regionen, wo Hutu nicht nur andere Hutu, sondern auch Tutsi umbrachten.

Die Opfer, über die in Kanama etwas zu erfahren war, lassen sich mit einer Ausnahme in sechs Kategorien einteilen. Zuerst wurde die einzige Tutsi in dem Ort, eine Witwe, ermordet. Ob die Tat viel mit ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu tun hatte, ist nicht geklärt, denn es gab auch viele andere Motive, sie zu töten: Sie hatte viel Land geerbt, war häufig in Streitigkeiten um Grundbesitz verwickelt, war die Witwe eines Hutu, der mehrere Ehefrauen gehabt hatte (sodass die anderen Frauen und ihre Angehörigen das Opfer als Konkurrentin betrachteten), und ihr verstorbener Mann war bereits zu Lebzeiten durch seine Halbbrüder von seinem Grundbesitz vertrieben worden.

Bei den Opfern in zwei weiteren Kategorien handelte es sich um Hutu, die große Ländereien besaßen. Sie waren in ihrer Mehrzahl Männer von über 50 Jahren und damit im besten Alter für Streitigkeiten mit den Söhnen. Die Übrigen waren jünger, hatten aber auch bereits Neid auf sich gezogen, weil sie mit Nebentätigkeiten verhältnismäßig viel Geld verdient und damit Land gekauft hatten.

Die nächste Kategorie der Opfer waren die »Querulanten«, die dafür bekannt waren, dass sie sich an allen möglichen Konflikten um Land und andere Dinge beteiligten.

Eine weitere Gruppe bestand aus jungen Männern und Kindern, vor allem solchen aus armen Familien, die sich aus Verzweiflung von den verfeindeten Milizen anwerben ließen und einander dann umbrachten. Insbesondere in dieser Kategorie wird die Zahl der Opfer höchstwahrscheinlich unterschätzt, denn Andre hätte sich selbst in Gefahr gebracht, wenn sie zu genau nachgefragt hätte, wer zu welcher Miliz gehört hatte.

Die größte Zahl der Opfer schließlich waren unterernährte oder besonders arme Menschen, die kein oder nur sehr wenig Land besaßen und auch über kein anderes Einkommen verfügten. Sie starben offensichtlich durch den Hunger, weil sie zu schwach waren oder weil sie kein Geld hatten, um Lebensmittel zu kaufen oder die Bestechungsgelder zu zahlen, die ihnen an den Straßensperren das Überleben sicherten.

Andre und Platteau stellen fest: »Die Ereignisse von 1994 boten eine einzigartige Gelegenheit, auch unter HutuDorfbewohnern alte Rechnungen zu begleichen und den Grundbesitz neu zu verteilen ... Selbst heute hört man von Ruandern nicht selten die Ansicht, ein Krieg sei notwendig, um einen Bevölkerungsüberschuss zu beseitigen und die Zahl der Menschen in Einklang mit den zur Verfügung stehenden Landflächen zu bringen.«

Dieser Bericht über das, was die Bewohner Ruandas selbst über den Völkermord sagen, überraschte mich. Nach meiner Erfahrung hatten Menschen nur in Ausnahmefällen einen solchen direkten Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und Morden hergestellt. Ich selbst bin daran gewöhnt, Bevölkerungsdruck, von Menschen verursachte Umweltschäden und Dürre als letzte Ursachen zu sehen, die bei den Menschen zu chronischer Verzweiflung führen und das Pulver im Pulverfass darstellen. Man braucht aber auch einen unmittelbaren Anlass, einen Funken, der das Fass zur Explosion bringt. In den meisten Regionen Ruandas handelte es sich bei diesem Funken um ethnischen Hass, angestachelt von zynischen Politikern, die selbst an der Macht bleiben wollten. (Ich sage »in den meisten Regionen«, weil die zahlreichen Morde von Hutu an Hutu in Kanama beweisen, dass ein ähnliches Ergebnis auch dann eintrat, wenn alle zur gleichen ethnischen Gruppe gehörten.) Gerard Prunier, ein französischer Ostafrikaexperte, formuliert es so: »Die Entscheidung zum Mord wurde natürlich von Politikern aus politischen Gründen getroffen. Aber dass sie von ganz gewöhnlichen Bauern in ihrem ingo [Familienanwesen] so gründlich umgesetzt wurde, lag zumindest teilweise daran, dass auf zu wenig Land zu viele Menschen lebten und dass für die Überlebenden mehr übrig bleiben würde, wenn ihre Zahl sich verminderte.«

Die Verbindung, die Prunier ebenso wie Andre und Platteau zwischen Bevölkerungsdruck und Völkermord herstellen, blieb nicht unwidersprochen. Die Skepsis war insbesondere eine Reaktion auf übermäßig vereinfachte Behauptungen, die von Kritikern mit einer gewissen Berechtigung als »ökologischer Determinismus« gebrandmarkt wurden. Nur zehn Tage nach Beginn des Völkermordes stellte beispielsweise ein amerikanischer Zeitungsartikel mit folgenden Worten einen Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsdichte von Ruanda und dem Massenmord her: »Vorgänge wie in Ruanda sind in der Welt, in der wir leben, ein integraler, ja eingebauter Bestandteil.« Diese fatalistische, übermäßig vereinfachte Schlussfolgerung provoziert natürlich nicht nur negative Reaktionen auf die Ansicht ihrer Verfasser, sondern auch auf die differenziertere Sichtweise, die Prunier, Andre, Platteau und ich vertreten. Das hat drei Gründe.

Erstens kann jede »Erklärung« der Gründe, warum sich ein Völkermord ereignet hat, fälschlich als »Entschuldigung« interpretiert werden. In Wirklichkeit aber spielt es keine Rolle, ob wir zu einer übermäßig vereinfachten Erklärung mit nur einer Ursache gelangen oder ob wir den Völkermord übermäßig kompliziert mit 73 Faktoren erklären: Das alles ändert beim Völkermord in Ruanda wie bei anderen schrecklichen Taten nichts an der persönlichen Verantwortung der Täter. Dieses Missverständnis kommt regelmäßig auf, wenn man über die Ursachen des Bösen diskutiert: Die Menschen lehnen jede Erklärung ab, weil sie Erklärung mit Ausrede verwechseln. In Wirklichkeit ist es aber wichtig, dass wir die Ursachen des Völkermordes in Ruanda verstehen - und zwar nicht, weil wir die Mörder entlasten wollen, sondern weil wir mit Hilfe unserer Erkenntnisse die Gefahr verringern möchten, dass solche Dinge in Ruanda oder anderswo noch einmal geschehen. Es gibt auch Menschen, die ihr ganzes Leben oder ihre ganze Berufslaufbahn der Aufgabe gewidmet haben, die Ursachen des Nazi-Holocaust zu verstehen oder zu begreifen, was im Bewusstsein von Serienmördern und Vergewaltigern vorgeht. Diese Aufgabe haben sie sich nicht gestellt, um Nazischergen, Serienmörder oder Vergewaltiger von ihrer Verantwortung freizusprechen, sondern weil sie wissen wollen, wie es zu diesen entsetzlichen Vorgängen kam, und wie wir am besten verhindern können, dass sie sich wiederholen.

Zweitens ist es durchaus berechtigt, wenn man die simple Ansicht zurückweist, Bevölkerungsdruck in Ruanda sei die einzige Ursache des Völkermordes gewesen. In Wirklichkeit trugen auch andere Faktoren dazu bei; jene, die mir wichtig erscheinen, habe ich in diesem Kapitel beschrieben, und Ruanda-Fachleute haben zu dem Thema ganze Bücher und Artikel geschrieben, die ich am Ende des Buches im Literaturverzeichnis zitiere. Um es noch einmal zu wiederholen: Unabhängig von der Rangfolge ihrer Bedeutung gehörten zu diesen Faktoren die Vergangenheit des Landes mit der Vorherrschaft der Tutsi, der Massenmord der Tutsi an Hutu in Burundi und in geringerem Umfang auch in Ruanda, die Invasionen der Tutsi in Ruanda, die wirtschaftliche Krise des Landes, die durch Dürre und globale Faktoren (insbesondere sinkende Kaffeepreise und Sparmaßnahmen der Weltbank) verstärkt wurden, Hunderttausende von verzweifelten jungen Männern aus Ruanda, die als Flüchtlinge in Lagern lebten und von den Milizen leicht anzuwerben waren, und die Konkurrenz zwischen den politischen Gruppen in Ruanda, die sich zu nichts zu schade waren, um ihre Macht zu sichern. Zu diesen anderen Faktoren kam der Bevölkerungsdruck dann hinzu.

Und schließlich sollte man die Tatsache, dass der Bevölkerungsdruck neben anderen Faktoren zum Völkermord in Ruanda beitrug, nicht falsch interpretieren: Sie bedeutet nicht, dass Bevölkerungsdruck auch anderswo auf der Welt automatisch zum Völkermord führt. Wer also einwendet, es bestehe kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen malthusianischem Bevölkerungsdruck und Massenmord, dem erwidere ich: »Natürlich nicht!« Dass ein Land auch ohne solche Folgen überbevölkert sein kann, zeigt sich am Beispiel Bangladesch (das seit dem Gemetzel von 1971 von größeren Mordwellen weitgehend verschont blieb), aber auch in den Niederlanden und dem Vielvölkerstaat Belgien - alle drei Länder sind dichter bevölkert als Ruanda. Umgekehrt können neben der Überbevölkerung auch andere Gründe zum Völkermord führen; Beispiele sind Hitlers Bestrebungen, im Zweiten Weltkrieg die Juden und Zigeuner auszurotten, oder der Völkermord in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Kambodscha, das nur ein Sechstel der Bevölkerungsdichte von Ruanda hat.

Ich ziehe vielmehr den Schluss, dass der Bevölkerungsdruck nur eine von mehreren wichtigen Ursachen für den Völkermord von Ruanda war, dass Malthus’ schlimmstes Szenario manchmal Wirklichkeit wird, und dass Ruanda ein deprimierendes Beispiel für dieses Szenario ist. Schwer wiegende Probleme mit Überbevölkerung, Umweltschäden und Klimawandel können nicht unbegrenzt bestehen bleiben: Früher oder später lösen sie sich auf, und wenn es uns nicht gelingt, sie durch unser eigenes Handeln zu beseitigen, geschieht es nach der Art von Ruanda oder auf einem anderen Weg, den wir nicht gewollt haben. Im Fall Ruanda können wir die unerfreuliche Lösung mit Gesichtern und Motiven in Verbindung bringen; ähnliche Motive steckten nach meiner Vermutung auch hinter den in Kapitel 2 beschriebenen Zusammenbrüchen auf der Osterinsel, auf Mangareva und bei den Maya, auch wenn wir ihnen in diesem Fall keine Gesichter zuordnen können. Und ähnliche Motive könnten auch in Zukunft wieder zum Zuge kommen, wenn es in anderen Ländern wie in Ruanda nicht gelingt, die grundlegenden Probleme zu lösen. Möglicherweise werden sie sogar in Ruanda selbst wieder wirksam, wo die Bevölkerung immer noch mit drei Prozent im Jahr wächst, wo Frauen ihr erstes Kind im Durchschnitt mit 15 Jahren zur Welt bringen, wo die Durchschnittsfamilie zwischen fünf und acht Kinder hat und wo man als Besucher das Gefühl bekommt, man sei von einem Meer aus Kindern umgeben.

»Malthusianische Krise« ist ein unpersönlicher, abstrakter Begriff. Er beschwört nicht das entsetzliche, grausame, verstörend detaillierte Bild dessen herauf, was Millionen Ruander getan oder erlitten haben. Die letzten Worte möchte ich einem Beobachter und einem Überlebenden überlassen. Der Beobachter ist noch einmal Gerard Prunier:

»Alle diese Menschen, die ermordet werden sollten, hatten Land und manchmal auch Kühe. Irgendjemand musste dieses Land und die Kühe übernehmen, nachdem sie tot waren. In einem armen, zunehmend überbevölkerten Land war das kein geringer Anreiz.«

Der Überlebende, ein Tutsi, ist Lehrer und wurde von Prunier befragt. Er blieb nur deshalb am Leben, weil er zufällig nicht zu Hause war, als die Mörder kamen und sowohl seine Frau als auch vier seiner fünf Kinder umbrachten: »Die Menschen, deren Kinder barfuß zur Schule gehen mussten, brachten jene um, die ihren Kindern Schuhe kaufen konnten.«