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»Hier ist RIAS Berlin, eine Freie Stimme der Freien Welt! Guten Tag, meine Damen und Herren. Mit dem Gongschlag war es vierzehn Uhr. RIAS Berlin bringt Nachrichten … Nach Aufhebung der Berliner Blockade behindert die Volkspolizei der SBZ ab heute, Mitternacht, durch neue Schikanen das Leben in der geteilten Stadt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft sind sogenannte Verkehrsbeschränkungen …«

Das war das erste, was Jakob Formann hörte, als er, aus der Sowjetunion heimkehrend, auf eine Villa im Grunewald, West-Berlin, zuging. Laut hallte die Stimme des RIAS-Sprechers durch den großen Garten. Er berichtete von Autobahnkontrollen, von zurückgewiesenen Fahrern großer Laster mit Lebensmitteln, von Störungen im Flugverkehr durch die drei ›Luftkorridore‹, von Schleppern, die auf der Spree gestoppt worden waren …

Jakob betrat die Villa, deren Adresse man ihm gegeben hatte. Er fand seinen Chefschreiber in einer Bibliothek im ersten Stock. Hier stand, am offenen Fenster, das Radio, aus dem die Stimme kam. Es war ein schöner Junitag des Jahres 1949.

Seitdem Jakob zum letzten Mal in Berlin gewesen war – an jenem Tag vor etwa vier Wochen, an dem die Blockade beendigt wurde –, hatte sich einiges verändert, wenn auch nicht in Berlin: Aus dem westdeutschen Trizonesien war die Bundesrepublik Deutschland geworden – aber viel geändert hatte sich dadurch eigentlich nicht.

Klaus Mario Schreiber tippte wie ein Irrer auf einer Reiseschreibmaschine. Natürlich stand neben ihm eine Flasche Whisky. Halbleer.

»Tag, Schreiber!« sagte Jakob laut.

»Hallo, Che … Chef. Wo wa … waren Sie denn bloß? Hier gi … gibt’s ’ne … ’ne G … Gro … Großfahndung nach Ihnen!«

»Idioten! Wozu eigentlich? Mich haben die Russen erwischt. Sehr nette Leute übrigens. Ich bin nur aus Versehen in den Demokratischen Sektor gefahren. Absolut nichts Schlimmes, die vier Wochen. Aber was machen Sie denn da?«

»Neue Serie. Ga … Ganz eilig. ›Per … Persil bleibt …‹, pardon: ›B … Ber … Berlin bleibt d … doch Ber … Berlin‹. He … Heldenmut und Lobgesang auf … auf die Inselstadt, die … Fro … Frontstadt mi … mit zahlreichen herz … herzrührenden Einzelschicksalen. Ich habe das O … Ohr am H … Herzen des Volkes! Unsere Au … Auflage in Berlin ist no … noch sehr mau. Da … Das da jetzt wird hinhauen. Als n … nächstes mü … müssen wir uns auf unsere na … namenlosen Helden besinnen. Die ta … ta … tapferen T … Trümmerfrauen! Da … dann, ge … genia … geniale Männer. Sch … Schau … Schauen Sie s … sich an, Che … Chef! Da … Das W … Wunder! Ich p … plane au … auf lange Sicht. Sehe schon alle The … Themen vor meinem gei … geistigen Auge. Ja! … Ü … Über a … alles in der We … Welt!«

»Wer? Was?«

»Na, wi … wir! K … Kaiser Wi … Wilhelm und der Hi … Hitlinger haben’s versprochen – nu … nun ist es soweit: W … Wir gehen herr … herrlichen Zeiten entgegen! Je … Jetzt ge … geht’s los! Wi … Wir ha … haben ja soviel n … nachzuholen. F … Fressen. Richtig fre … fressen. Bi … bis die Sch … Schnauze sch … schäumt. S … Saufen. Richtig saufen … Na, u … und dann B … Bauen. Bauen. Bauen. U … und die B … Buden a … anständig ein … einrichten. M … Möbel und Te … Teppiche und Bi … Bilder an die W … Wände. U … und Au … Autos! Richtige Dinger. Sch … Schicke. Ni … nicht solche Ho … Holzvergaser … Solche wie die Amis ha … haben. A … Aber d … deutsche Wa … Wagen. Jedem Deu … Deutschen ein d … deutscher Wagen … Und dann, Che … Chef, dann geht’s erst r … richtig los!« Jakob stierte sprachlos auf seinen Klaus Mario Schreiber, der überhaupt nicht mehr zu bremsen war.

»Wie … wie … viele Länder ha … haben wir überfallen? Ju … Jugoslawien! G … Griechenland! F … Frankreich! Wer … werden wir alle n … nochmal überfallen! Friedlich! Mit schicken Au … Autos! Mi … mit schicken F … Flugzeugen! An der R … R … Riviera werden sie Deu … Deutsch lernen, passen Sie auf, Che … Chef! Ich sehe sch … schon die Ta … Tafeln vor den Re … Restaurants: Hie … Hier spricht man deu … deutsch! Hie … Hier gibt’s deu … deutsches Bier! Und deu … deutsches Ei … Ei … Eisbein! Ich hö … höre sch … schon den s … sehnsüchtigen G … Gesang ru … rund um die Welt: Wa … Warum ist es am Rhein so s … schön!«

»Bleiben Sie auf dem Teppich, Schreiber!«

»Ich sage doch, ich pla … plane voraus. Mu … Muß man! Na … Natürlich der Rei … Rei … Reihe nach. D … Die E … Erinne … Erinnerungen, die w … werden auch k … kommen. D … Dauert nicht m … mehr lange. U … unsere tapferen Jungs! Ga … Ganz menschlich … aber pack … packend … ›D … Die Ärztin von Stalingrad!‹ Gu … guter Titel, wa … was? Ich sammle sch … schon Titel für die nächsten zehn Jah … Jahre. U … Unsere w … wackeren Flieger! Werra! ›Einer ka … kam durch!‹ A … Aber immer fair! Auch t … tapfere Gegner! ›Taiga, Taiga!‹ So … Sogar die Ru … Russen waren Menschen! Jawohl, doch! Me … Menschlich, Chef, me … menschlich! U … Und die U … die U-Boot Fahrer! Und n … natürlich hätten wir den K … Krieg ge … gewonnen, wenn nicht …«

»Wenn nicht was?«

»Wei … Weiß ich im Moment noch ni … nicht. Fä … Fällt mir n … natürlich was ga … ganz Hervorragendes ein. Ni … Nicht verzagen, Sch … Schreiber fragen. Die Tragödie de … des s … siegreichen Un … Untergangs … ›Sprung au … auf, K … Kameraden, wir mü … müssen zurück!‹ U … Und die Mö … Mörder – n … nein, nicht die, die … die je … jetzt morden in Z … Zivil! De … Der mit den F … Frauen da an der Z … Zonengrenze! No … Noch ein Titel! ›Immer, wenn die Ne … Nebel fallen‹. Pri … Prima, was? ›Immer wenn‹ ist immer schön. Eine gute Story enthält ste … stets dreier … dreierlei: Blut, V … Vagina und Nationalfla … flagge.«

Der Sprecher im RIAS: »… würdigen alle Zeitungen der Bundesrepublik in Kommentaren und Berichten die hervorragenden Leistungen des verstorbenen Flugzeugkonstrukteurs Professor Donner, der, wie berichtet, gestern in seiner Vaterstadt Düsseldorf beigesetzt wurde …«

Jakob fuhr auf.

»Donner ist tot?«

»Ja. W … Wußten Sie das nicht, Che … Chef? Si … Sie sehen s … so gr … grün aus. Whi … Whisky, neh … nehmen Sie so … so … sofort einen großen Sch … Schluck …«

»Halten Sie’s Maul, Schreiber!«

»Da … Das ist a … aber da … das Be … Beste, wa … was es gi … gibt bei … bei Sch … Schwächeanfällen …«

»Sie sollen das Maul halten!« brüllte Jakob.

Donner tot.

Donner tot …

Donner tot!

»… zur Vorbereitung der Unterzeichnung eines französisch-italienischen Zollunionsvertrages …«

Vorbei. Jetzt habe ich nichts weiter gehört, weil der verdammte Trottel dazwischengeredet hat.

»Sie verdammter Trottel! Jetzt habe ich nichts weiter hören können! Sie wissen ja nicht, wer Professor Donner für mich war! Was er für mich getan hat!«

»Na … Na … Natürlich weiß ich alles, Ch … Chef. Re … Regen Sie s … sich nicht auf. We … werden Sie alles in de … der nächsten N … Nummer lesen. Ich war mit Se … Senkmann drüben, beim B … Begräbnis. Gro … Großer Bi … Bild- und T … Textbericht sch … schon in Pro … Produktion! Erschütternde Szenen am Familiengrab. Rede von einem Ja … J … Jagdflieger. Ein Ge … Genie, dieser Do … Donner. Na, ich sag’s do … doch: Kl … Klar hätten wir den K … Krieg gewo … wonnen. Aber wie! We … Wenn die … die andern sich nicht ge … gewe … wehrt und zu … zurückgeschossen hä … hätten. Ein Genie! Lauter Genies! Lau … Lauter geniale Generäle! U … Und we … wenn der Hitlinger den Ge … Generälen ni … nicht a … alles vermasselt hätte! Wa … War übrigens auch eine Da … Dame da. Aus Österreich.« Schreiber pfiff.

»Was soll das?«

»Pardon, Ch … Chef. Ein Zei … Zeichen der A … Anerkennung. To … Tolle Biene. Wa … Warten Sie mal … wie hat die gleich … Julia Martens ha … hat die geheißen. Gesagt, Sie kennen sie.«

»Das stimmt! Ja! Und! Mensch, Schreiber, machen Sie’s Maul ein bißchen schneller auf gefälligst! Haben Sie mit Frau Martens geredet?«

»Ja, Sie ha … haben mal zusammen was mit Ei … Eiern geha … habt, n … nicht? Die D … Dame hat nach Ihnen gefragt. Und mir ihre Adresse gegeben.«

»Die kenne ich. Theresienkron bei Linz.«

»Kei … Keine Spur. Dü … D … Düsseldorf.«

»Was?«

»Übersiedelt! Sch … Schon seit längerem.« Schreiber förderte aus seinen Taschen Unmengen der verschiedensten Gegenstände hervor und legte sie auf den Tisch. »Wo … Wo ist jetzt die Adresse, ver … verflucht?« Jakob erblickte ein schwarzes Damenseidenhöschen mit zarten roten Bordüren, das Schreiber gleichfalls aus einer Tasche gezogen und auf den Tisch gelegt hatte.

»Was ist denn das?«

Schreiber sah das Höschen kaum an.

»Da … Das ist ein Papagei.«

»Und ich denke, Sie arbeiten!«

»T … Tu ich ja. Bis zu … zum Umfallen, Ch … Chef! A … Aber wenn es der K … Körper verlangt … Au … Außerdem betrüge ich alle F … Frauen mit meiner Sch … Schreibmaschine!«

»Trotzdem, Sie sind ganz hübsch eifrig, was?«

»O ja, ja. A … Aber nur D … Damen der be … besten Gesellschaft.«

»Und Ihre Akne stört die Damen nicht?«

»Auf dem P … Pimmel hab’ ich keine! Also, das ist doch zu blöd …«

Jakob ließ seinen Blick über den Tisch schweifen. Er sah drei Bücher, Schreibers Namen darauf, nahm sie mechanisch und las: ›MICH WUNDERT, DASS ICH SO FRÖHLICH BIN‹. ›DAS UNSICHTBARE BROT‹.

›ICH BEICHTE ALLES‹.

»Das haben Sie auch geschrieben?«

»Wa … Was heißt auch? D … Das sind meine e … ersten R … Romane, die nicht gingen. Ei … Eines Tages wer … werden sie gehen, reine Geduldsfrage. Bei meinem Talent. Sch … Schreibe gerade einen neuen Roman.«

»Sie schreiben auch noch Romane?«

»Mu … Muß ich doch, Ch … Chef. OKAY alleine, und ich würde total verblö … den. Eines Ta … Tages, passen Sie auf …«

»Wie heißt denn Ihr neuer Roman?«

»›WER SCHÜTZT DIE LIEBENDEN?‹ Guter Tit … Titel, was? V … Verdammt guter R … Roman. Wie gesagt, ei … eines Ta … Tages … Da! Hier, neh … nehmen Sie den Z … Zettel! G … Graf-Adolf-Straße 312. Schrei … reiber verliert nie was!«

»Telefon?« Jakob war aufgeregt.

»Ha … Hat sie noch k … keines. K … Kriegt erst ei … eines. Wa … Was ist denn? Ch … Chef! Che … Chef! Wa … Was rennen Sie denn so – we … weg ist er. Ha … Handelt sich ohne Z … Zweifel um Li … Liebe.« Schreiber trank aus der Flasche, weil er einen grauenvollen Anfall von Nüchternheit im Anzug spürte, den er sofort bekämpfen mußte. Das kommt davon, wenn man zu lange quasselt und nicht auf sich achtet und nichts getrunken hat seit zehn Minuten. Unverantwortlich. Nach einem kräftigen Schluck strich er über eines der Bücher und sagte, traurig und absolut fließend: »Mich wundert, daß ich so fröhlich bin …«

Hurra, wir leben noch
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