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Ton ab! Band läuft weiter.

»Verflucht noch mal, Herr Kollege, die Küken müssen nach Wien und von dort auf die Bauernhöfe! Sie wissen es so gut wie ich, daß ein neugeborenes Küken die erste Nahrung und die erste Flüssigkeit nur an dem Ort zu sich nehmen darf, an dem es dann immer bleibt.«

»Ach, leckt’s mich doch am Arsch!«

»Sie als befreiter Österreicher und Dolmetscher im Provost Marshal Office in Wien wollen also die Verantwortung für den Tod von vierzigtausend unschuldigen Küken auf Ihre Schultern laden?«

»Ich will überhaupt nix laden! Heut ist Samstag! Da sind die Hohen Herren alle weg! Der Provost Marshal ist nicht da, das habe ich Ihnen schon zweimal gesagt! Der ist übers Weekend nach Salzburg gefahren, mit seiner Frau!«

»Wer ist denn sein Stellvertreter?«

»Colonel Worsley. Steht hier neben mir. Er sagt gerade, daß er nichts tun kann. Versuchen Sie’s doch bei den Engländern, Herr Kollege. Die sind schließlich auch eine Schutzmacht Österreichs! Heil … äh, ’tschuldigung, Servus!«

Klick.

»Der Kerl hat aufgehängt!«

Jakob übersetzt.

Allgemeines Fluchen.

»Hörsching Tower! Hier Eins-acht-eins … Bitte kommen!«

»Was gibt’s?«

»Vierunddreißig weitere ausgekrochen, Colonel, Sir!«

»Machen Sie mich nicht wahnsinnig!«

Jetzt eine neue Stimme, lupenreines King’s English, schneidig: »Kommandantur Wien, McIntosh!«

»Wer ist denn um Gottes willen nun wieder McIntosh?«

»Colonel McIntosh, Vertreter Seiner Exzellenz, des Herrn britischen Stadtkommandanten.«

»Aha. Und der ist also auch mit seiner Frau …«

»No, Sir. Der ist mit einem Freund zur Jagd nach Kärnten.«

»Jagen, fischen, vogelstellen, das hält jung die Junggesellen …«

»Haben Sie den Verstand verloren, Formann?«

»Ach, das fiel mir gerade so ein, Sir.«

»Reißen Sie sich gefälligst zusammen, Kerl! Hallo, Colonel! Hören Sie: Wir haben über unseren Köpfen …«

»Vierzigtausend bebrütete Eier, ja, ja. Ich weiß, ich weiß. Die Herren amerikanischen Verbündeten haben uns bereits unterrichtet. Ich bin beauftragt, Sir, Ihnen mitzuteilen, daß das Britische Empire in dieser Angelegenheit strikteste Enthaltsamkeit üben muß. Warum versuchen Sie es nicht bei Seiner Exzellenz, dem Herrn französischen Stadtkommandanten? Auch Frankreich ist für das befreite Österreich verantwortlich!«

Auf dem Band ist nunmehr ein gräßliches Durcheinander von Stimmen und Geräuschen zu hören. Dann erklingt eine neue, helle Stimme, die in melodischem, leicht singendem Wienerisch mitteilt, Seine Exzellenz, der französische Stadtkommandant von Wien, sei nach Berlin geflogen – einer Einladung Jean Cocteaus folgend.

»Jean wer?« (Jakob fragt.)

»Cocteau, Süßer! Monsieur Cocteau zeigt im Maison de France am Kurfürstendamm seinen neuen Film ›La Belle et la Bête‹ mit Jean Marais. Zur Sache, Chéri! Der Vertreter des Herrn Stadtkommandanten läßt bestellen, daß er die Infamie der Engländer, die Grande Nation in diese Affäre hineinzuziehen, durchaus erwartet hat. Es möge sich indessen niemand täuschen: Frankreich hat nicht die Absicht, sich eines Problems anzunehmen, das ausschließlich Amerika und Rußland angeht. Adiööööh, Liebling!«

Folgt Jakobs Übersetzung.

Dann die Stimme des Colonel Hobson, eiskalt: »Jim, geben Sie mir OMGUS in Berlin. General Robert Loosey!«

»Hörsching Tower! …Hier ist Eins-acht-eins … Wieder dreizehn ausgekrochen. Over!«

»Haben Sie endlich Berlin, verflucht! Jim?«

»Ja. Vermittlung OMGUS sagt, daß General Loosey nicht da ist.«

»Dann geben Sie mir Generalmajor Lucius D. Clay!«

»Wollte ich schon. Ist auch nicht da.«

»Sondern wo?«

»Weiß Vermittlung nicht, Colonel, Sir. General Loosey soll irgendwo bei Frankfurt sein. In Bad Nauheim.«

»Wo?«

»Bad Nauheim, Sir. Mit Frau und Tocher und Schwiegersohn und drei Enkelkindern … Wann kommt Loosey zurück, Frankfurt!«

»Er übernachtet in Nauheim. Hat sich fürs Weekend freigenommen, Sir. Fliegt erst Montag früh zurück nach Berlin.«

»Da muß doch irgendein Diensthabender in Berlin sein, gottverdammt, Jim!«

»Ist auch einer, Colonel, Sir!«

»Geben Sie mir den Kerl!«

»Ich habe Berlin auf Standleitung, Colonel, Sir!«

»Also nichts wie her mit dem Diensthabenden! Mit dem rede ich jetzt mal ein Wörtchen! Und wenn der kneift, rufe ich Washington, Saustall, verfluchter!«

»Hörsching Tower! … Hörsching Tower! … Hier Eins-acht-eins! … Wieder einundzwanzig ausgekrochen!«

»Geburtenzahlen werden ab sofort immer erst gemeldet, wenn das nächste Hundert voll ist, Eins-acht-eins! Herrgott! Gebt mir fünf Minuten Zeit, dann sieht die Sache anders aus!« schrie der Colonel. Die Lautstärke hat seine Stimme völlig verändert, dachte Jakob. Er fühlte sich schwindlig. Die Narbe an seiner Schläfe begann zu pochen. Das Gesicht rötete sich und nahm einen idiotischen Ausdruck an, wie stets, wenn Jakob Formann ganz intensiv nachdachte. Seine gesamte Intelligenz stülpte sich dann sozusagen nach innen, und für die Fassade (das Gesicht zum Beispiel) blieb nichts, aber auch gar nichts übrig. Er wirkte stets wie ein armer Trottel, wenn er gerade alles andere als ein armer Trottel war. Raum und Zeit verschwammen für ihn, und gleich einem eigenwilligen Echo von des Colonels Gebrüll schmetterte eine andere Stimme in Jakobs innerem Ohr: »Nun, deutsches Volk, gib mir die Zeit von vier Jahren und dann urteile und richte mich!«

Es war die Stimme des Adolf Hitler.

Hurra, wir leben noch
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