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Und so geschah’s.
Sie alle, alle kamen. Und Jakob erhielt das ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band für Verdienste um die Republik Österreich‹ und wurde von Bundeskanzler Josef Klaus (schwarz, ÖVP, aber ein ganz reizender Mensch!) auf beide Wangen geküßt, und alle beglückwünschten ihn, und alle umarmten ihn, und alle tranken zuviel, und nachts fuhr Jakob dann mit seinem Rolls-Royce noch los, weil er unbedingt anderntags in München eine wichtige Besprechung hatte, und auf der Autobahnbrücke über die Mangfall, da bei Weyarn, geriet sein Wagen auf der eisigen Bahn ins Schleudern, durchbrach das Geländer, stürzte in die Tiefe und explodierte dort, Jakob aber flog in das Geäst eines Baumes und hing da und versuchte verzweifelt, von diesem Baum wieder herunterzukriechen und dabei nicht auch in die Tiefe zu stürzen …
Tja, und da steht er nun.
Da steht er nun, glücklich aus dem Geäst des vereisten Baumes heruntergeklettert auf die vereiste Autobahnbrücke über die Mangfall, und es ist gräßlich kalt, und ein stürmischer Wind heult, und Jakob Formanns Frack ist ganz und gar verdreckt, und die stolz gestärkte Hemdbrust sieht aus wie aus dem … Kakao gezogen, und er selber – du liebes Gottchen! Verschrammt, verdreckt, bleich das Gesicht, wirr und naß das Haar. Die Fliege ist weg. Weg ist auch das ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band für Verdienste um die Republik Österreich‹. Beides ist in die Schlucht hinuntergeflogen, als Jakob noch im Baume hing. 7 Uhr 15 ist es nun am 26. Februar 1965, und Jakob feiert heute seinen fünfundvierzigsten Geburtstag. So kann man also seinen Geburtstag auch feiern!
Da steht er nun, dem Tode eben noch von dessen Schäufelchen gesprungen, am ganzen Leibe zitternd vor Schrecken, und kann sich kaum aufrecht halten, kann kaum richtig atmen, dieser Jakob Formann, dieser Multimillionär, dieser Herr eines weltweiten Wirtschaftsimperiums, dieser Träger hoher und höchster Orden und Ehrenzeichen, dieser Freund hoher und höchster Herrschaften in West wie in Ost, dieser Liebhaber vieler schöner Frauen, da steht er nun …
Nein, da sitzt er nun. Er ist einfach zusammengesackt, die Beine, sie trugen ihn nimmer.
Tiefe Winternacht ist es noch, unnötig zu sagen, aber wir sagen es trotzdem. Die Autobahn verlassen. Kein einziges Auto weit und breit. Verflucht, dachte Jakob, stehen kann ich nicht mehr, aber sitzen darf ich auch nicht zu lange, sonst klebe ich am Eis an. Der Tod durch Erfrieren scheint mir gewiß. Happy birthday! Na, wenigstens ziehe ich keinen anderen Menschen mit in das Malheur! Alle schlafen süß in ihren weichen, warmen Betten im schönen Hotel IMPERIAL, alle meine Freunde: der Wenzel Prill, der Karl Jaschke mit seiner Frau, George Misaras mit seiner Frau, Mojshe Faynberg (Herrgott, drei solche Idioteninstitute hat der in der Zwischenzeit in Amerika eröffnet, das Geschäft geht wie verrückt!), der gute alte Senator Connelly schläft im IMPERIAL, den habe ich allein rüberholen lassen, und die liebe BAMBI mit dem lieben Jurij Blaschenko, ihrem Mann, der wackere Oberst Assimow, der Plastic-Experte Dr. Addams Jones, und so weiter und so weiter, Millionäre, Künstler, die GANZ GROSSEN dieser Welt halt, ein paar von meinen Freunden halt, was so in drei Logen reingegangen ist halt. Und natürlich meine geliebte Natascha! Claudia und der versoffene Schreiber, der, wie ich höre, tatsächlich keinen einzigen Tropfen mehr trinkt, sind nicht gekommen. Sie haben angerufen und sich entschuldigt. So lieb! So rührend!
»Wir können unter keinen Umständen aus Monte Carlo weg, lieber Jakob«, hat Claudia gesagt. »Bitte, sei nicht böse und sieh es ein. Der Mario muß Ende Februar mit seinem neuen Roman fertig sein, er arbeitet wie ein Irrer von früh bis abends, damit er es schafft.«
»Klar«, habe ich gesagt. »Arbeit geht vor. Hat er schon einen Namen, der neue Roman?«
»ALLE MENSCHEN WERDEN BLÖDER.«
»Na«, habe ich gesagt, »da hat er aber ja recht, der Mario! Hoffentlich wird das Buch wieder so ein Erfolg wie das letzte, toi, toi, toi.« Und ich habe auf Holz geklopft und gehört, wie die süße Claudia auch auf irgend etwas aus Holz da in Monte Carlo geklopft hat. Der Schreiber, der hat nämlich mit seinem letzten Buch – Gott, steht eine bezaubernde Widmung in dem Band, den er mir geschenkt hat! – einen Bestseller geschrieben. Über die Mauer in Berlin und die ganze Scheiße mit dem zweigeteilten Deutschland, das keiner wiedervereinigen will, weil sie sich alle fürchten vor einem wiedervereinigten Deutschland, man kann’s ja verstehen. Sogar gelesen habe ich diesen Roman!
SCHLAFE, LIEB VATERLAND, SCHLAF EIN hat er geheißen. Hat mir sehr gut gefallen. Nur so säuisch sollte der Schreiber nicht schreiben. Ich weiß ja, ich weiß ja, den Leuten gefällt’s. Den meisten jedenfalls. Und ›in‹ ist so was auch. Aber hat er das nötig? Im übrigen ist da etwas sehr Komisches passiert: Seine ersten sieben Bücher haben sich schlecht verkauft, aber die Kritiker in Deutschland haben wahre Hymnen über sie angestimmt. Jetzt gehen seine Bücher, was heißt gehen? – sie verkaufen sich rasend, und die Kritiker in Deutschland zerreißen den Mario Schreiber in der Luft. Wie es eben so geht im menschlichen Leben, würde der Arnusch Franzl sagen, der elende Schuft. Den habe ich natürlich nicht zum Opernball eingeladen, den Scheißkerl! Den habe ich doch rausgeschmissen wegen seiner Steuerschweinereien, die er hinter meinem Rücken gemacht hat. Seitdem höre ich nichts mehr von ihm. Und so einem habe ich noch eine Bank in Wien finanziert – ich bin schon ein großer Trottel! Vielleicht sollte ich jetzt doch ein bißchen aufstehen, bevor mir der Hintern endgültig anfriert. Es kommt schon so grauenhaft kalt von da unten herauf, bis ins Hirn …
Jakob versuchte sich zu erheben.
Es ging nicht.
Er war bereits angefroren. Und er hatte nicht mehr die Kraft, sich loszueisen. Mit idiotischem Gesichtsausdruck saß er da. Na, schön. Wenn der Herrgott nicht will, nützt das gar nichts. Dann ist es mir also bestimmt, zu sterben. In meiner Jugendmaienblüte. Am 26. Februar 1965. Auf der Brücke über die Mangfall. An meinem fünfundvierzigsten Geburtstag noch dazu.
Der Tod durch Erfrieren soll ja ein sehr gnädiger Tod sein, habe ich gehört. Man wird immer schläfriger und schläfriger, und dann ist man hinüber. Ach, Natascha, nun werde ich dir die Chinesische Schlittenfahrt doch nicht mehr verpassen können! Das ist schon traurig. Besonders wenn man bedenkt, was ich bereits in dich investiert habe. Und wenn man weiter bedenkt, daß ich dich auch schon zu erwecken angefangen habe. Beim letzten Mal vor drei Wochen, da hast du schon Geräusche von dir gegeben! Und was für welche! Dreimal hintereinander hast du geniest. Na ja, wir sind eben alle in Gottes Hand.
Jakob zuckte zusammen.
Was habe ich da gedacht?
Wir sind alle in Gottes Hand?
Steht es so arg um mich? Na ja, jetzt bin ich wenigstens sicher: Das ist also das Ende …
Er ließ sich sanft seitwärts gleiten. Seine Gedanken wurden leichter und leichter. Wie war das Gedicht, eh, der Gesang, den mir Natascha auf Cap d’Antibes vorgesprochen hat, von diesem Danton? Quatsch, Danton! Danton, das ist der mit den hochgezwirbelten Schnurrbartspitzen, der diese Pfannkuchenuhren malt. Nein, Dante heißt der Kerl! Und meine geliebte Natascha hat mir vorgesprochen – rezitiert heißt das –, was dieser Darwin da geschrieben hat …
Gerade in der Mitte meiner Lebensreise
Befand ich mich in einem dunklen Walde,
Weil ich den rechten Weg verloren …
Aus.
Schluß.
Jakob war mitten in der Erinnerung an diesen Gesang friedlich eingeschlafen. Schnee stäubte ihn zu …