52

»Herr über Leben und Tod, Jesus Christus, dem wir leben und dem wir sterben, wir bitten Dich bei Deinem hochheiligen und schweren Tode am Kreuz, verleihe Jakob Formann, daß Deine Ankunft bei seinem Tode ihn nicht als schlafenden, unvorbereiteten und trägen, sondern als wachen und guten Knecht angetroffen hat …«

»Was woaß denn der Depp, ob er aa wirklich hi is, der Formann?«

»Im Radio ham s’ es g’sagt um achte, daß s’ koa Spur g’funden ham von eahm da in der Mangfallschlucht und daß er mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sich … naa, umgekehrt: daß er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hi is. Verbrennt in seinem Schlitten, vastehst, Seppl?«

»Da hätten s’ doch aba wenigstens a paar Knochen finden müssen von dem Hund – aba gar nix?«

»Sag des net, Dschonni. Wenn er mit seim Rolls explodiert is, nacher hat’s ihn ganz z’riss’n, den Lumpen, den elenden. Drum hams uns ja alle zammg’holt. Und deswgn san ja de Fahnen aa bloß halbert aufzogn! Na, na, der is hi, da gibt’s nix!«

Also, das ist doch …

Ein Mann in mittleren Jahren, mit zerschrammtem Gesicht und wunden Händen, Pflaster darauf, angetan mit einer sehr abgetragenen Hose, einer sehr abgetragenen Jacke von undefinierbarer Farbe (an den Ellbogen Lederherzen!), einem zerdrückten grünlichen Hemd, am Halse offen, und einer Schirmmütze, die tief ins Gesicht gedrückt war, konnte sich nicht fassen vor Empörung. Er stand, eingekeilt in die Menge der Arbeiter, in der größten Halle des Fertigbauwerks München-Solln und hatte bebend vernommen, was der Betriebsratsvorsitzende, ein braver, gläubiger Bayer, ein wenig mühsam aus einem kleinen schwarzen Buch da vorlas.

Hirnschall, so heißt der Sack, dachte Jakob Formann, denn um ihn handelte es sich bei dem schäbig gekleideten Mann inmitten der Arbeiterschaft des Münchner Werks (Sie haben es doch nicht etwa schon vermutet?), Alois Hirnschall heißt der fromme Herr. Wahrscheinlich hat auch er angeordnet, daß die beiden Fahnen – die bundesdeutsche und die österreichische – draußen auf den Stangen beim Werkeingang halbmast zeigen –, und diese Trauergemeinde hat er auch zusammengetrommelt, Angestellte und Arbeiter, Putzfrauen und Direktoren, alles, das sieht ihm ähnlich, diesem Gschaftlhuber, diesem schwarzen, und jetzt muß er auch noch aus dem Büchl da das Gebet über mein seliges Sterben vorlesen, das Rindvieh, und wer paßt draußen auf? Kein Mensch. Nicht mal ein Portier war da, wie die beiden türkischen Gastarbeiter mich abgesetzt haben. Keine Maschine ist gelaufen. Ich habe gedacht, die sind hier alle ausgerissen oder machen Streik, und dann komme ich in die Halle fünf und sehe und höre so was, also, nein, pfui Teufel noch mal!

»… laß nicht zu, wir bitten Dich, daß Jakob Formann ohne Reue aus diesem Leben geschieden und gänzlich unversehen vom Tode überrascht worden ist«, las der Betriebsratsvorsitzende Alois Hirnschall, geboren in Tuntenhausen, Oberbayern, etwas mühsam, aber desto inbrünstiger weiter. Das Podest, auf dem Hirnschall seine Andacht zelebrierte, war schwarz drapiert mit einem Stück jener Kunststoff-Folie, die, in Streifen geschnitten, zum Abdichten der Verbundstellen an den Fertighäusern diente.

Einen Geistlichen Herrn hat der Hirnschall so auf die schnelle nicht auftreiben können, darum macht er es selber, dachte Jakob. Der Hirnschall ist ein guter Kerl, nur so entsetzlich hastig und impulsiv (auch bei Verhandlungen über Lohnerhöhungen), ich muß unbedingt was unternehmen, ich muß sagen, daß er aufhören soll, weil ich noch lebe, das ist ja nicht zum Anhören! Verflucht, wenn ich nur nicht so eingeklemmt wäre. Eine dicke Luft ist das hier. Kaum zu atmen! Na, ich werde mal laut schreien: »Ich lebe noch, Hirnschall!« Dann wird er schon aufhören. Jakob öffnete den Mund, um seinen Vorsatz in die Tat umzusetzen, da hörte er einen Arbeiter zu einem anderen sagen: »Scheiß doch auf’n Formann. Reue! Was hat denn den scho g’reut, den Ausbeuter, den dreckat’n.«

»Da hast amal recht«, sagte sein Kollege nickend. »Und G’wiss’n hat er aa koans g’habt. A typischer Scheißkapitalist halt.«

Also, das ist doch …

Jakob schoß das Blut ins Gesicht. Er wollte den beiden eine knallen (somit zwei, jedem eine), aber er bekam den Arm nicht hoch, so dichtgedrängt standen sie hier zwischen den Maschinen.

»… wenn Jakob Formann alles verlassen hat, was man an hinfälligen und vergänglichen Gütern dieser Zeit besitzen kann, dann verlasse Du den Jakob Formann nicht, besonders nicht in dem letzten Kampf seines Lebens …«

»Was der scho zum Kämpfen g’habt hat, möcht’ i wissen«, fing ein anderer Arbeiter, hinter Jakob, an. »Multimillionär is er g’wesen! Unseroans muaß kämpfen um jedes Markl, aba der mit seine Flugzeug und Mercedes und Weiber und Häuser, der Hund, der verreckte, der hat doch überhaupt net g’wußt, wos des hoaßt: kämpfen!«

»Recht hast, Ferdl«, ertönte eine andere Stimme hinter Jakob. »Der hat allawei im Luxus g’lebt und Weiba g’habt und g’soffen, und dauernd is er spaziereng’flogen mit seine Dschets, und mir, mir ham uns krumm und bucklat schuften derfa weg’n eahm …«

»…wenn Jakob Formann mit dem bösen Feind hat ringen müssen«, las der Betriebsratsvorsitzende Hirnschall, leiernd und gequält hochdeutsch, »dann mögen ihm Deine Engel beigestanden und ihn wider alle Versuchungen beschützt haben …«

»Den Hund ham de Engel sei Leben lang b’schützt und ihm beig’standen! Unseroana plagt si und bringt’s doch zu nix. Und so a Pleeboi, so a ausg’schamter, der verdient an Haufa Geld mit unseroam!«

»Und net amoi a Bayer war a. A Österreicher!«

»Des aa no!« sagte der, der Jonny genannt wurde. »Und wegen dem Scheißkerl müaß ma mir uns jetzt d’Füaß in Bauch steh!«

»… verleihe dem Jakob Formann in jener Stunde lebendigen Glauben, festes Vertrauen, brennende Liebe und große Geduld …«, las Hirnschall. Der Arbeiter neben Jakob sagte: »Oiso, des woaß a jeda: I bin koa Kommunist! Aba wenn i an den Formann denk’, nacha könnt i oana werden!«

»Mir geht’s grad a so«, ließ sich eine andere Stimme vernehmen. »I mag die DDR, die sogenannte, g’wiß net. Aba was wahr is, des muaß wahr bleiben: Solchene Kreaturen, solchene, die hams drüben net!«

Herrgott, würde ich dir gerne die Zähne einschlagen, dachte Jakob, dem speiübel geworden war vor Wut. Euch allen! Was bin ich? Ein Ausbeuter? Ein Kapitalistenschwein? Eine Kreatur, wo es in der DDR, in der sogenannten, nicht gibt? Ich, ausgerechnet ich, der ich mein Leben lang ein anständiger Mensch gewesen bin? Der euch Armleuchtern Häuser gebaut hat und ganze Siedlungen und Schulen für eure Kinder und Kindergärten und Kinos und Supermärkte, und vierzehn Monatsgehälter kriegt ihr, wozu ich gar nicht verpflichtet bin, und mehr Urlaub als jeder andere, und bei dem ihr habt krankfeiern können bis zum Geht-nicht-mehr, sogar euern Weibern hab’ ich einen Zuschuß gegeben, wenn sie schwanger gewesen sind. Und die Sportplätze? Und die Betriebsausflüge? Und die Spielplätze für eure Kinder? Und das Schwimmbad, das große? Also, das ist ja … Herrgott, drängelt doch nicht so, ich kann mich ja nicht rühren, nicht einmal meine Knie kann ich einem reinrennen dort, wo’s weh tut. Die größte Sau, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, das ist ohne jeden Zweifel der Arnusch Franzl gewesen. Meine bitterste Enttäuschung. Aber da fällt mir ein, was er einmal gesagt hat: »Goldene Klos kannst du ihnen schenken, du Trottel, und sie werden doch nur vom ›schlechten Gewissen‹ reden und daß du ein ›kapitalistischer Ausbeuter‹ bist …« Eine ganz große Sau, der Arnusch Franzl, mein lieber, lieber Schulfreund, aber er hat halt wirklich gewußt, wie es zugeht im menschlichen Leben!

»… gib, daß Jakob Formann sich mit vollem Bewußtsein in Deine Hände empfohlen und im heiligen Frieden entschlafen ist …«, bemühte sich der Hirnschall.

»Heiligen Frieden!« murrte wieder einer der Arbeiter. »Den hat er sei Leben lang g’habt! Was hat der denn von Sorgen g’wußt, so wie wir?«

Gott sei Dank, wenigstens goldene Klos haben sie nicht von mir gekriegt!

»… Du hast dem reuigen Schächer Dein Reich verheißen und in Deiner großen Güte geschenkt! Gedenke auch des reuigen Jakob Formann, o Herr, in seiner letzten Stunde …«

»Reuig! Da machst da ja in d’Hos’n! Der is in sei’m ganzen Leben net reuig g’wesen, de Wuidsau!«

»Der hat net amal g’wußt, was des hoaßt: reuig!«

Also, das halte ich nicht aus. Nicht eine Sekunde länger halte ich das aus. Ihr seid Lumpen, alle miteinander! Kalt ist mir, der Kopf tut mir weh, einen Kater habe ich wie noch nie vom zu vielen Saufen, die Knie schlackern mir noch vor Aufregung wegen dem Malheur da auf der Autobahnbrücke über die Mangfall, und jetzt das! Ich könnte ja brüllen, daß ich noch lebe, und daß ich der Jakob Formann bin. Aber ich habe einfach keine Kraft mehr. Weg, weg, weg hier!

Mit gesenktem Kopf und Tränen der Wut in den Augen brach Jakob Formann sich zum Ausgang hin Bahn. Er rammte Bäuche, Gesichter, Brüste. Ihm war alles egal. Raus hier, raus, raus, raus!

Die Arbeiter wichen zurück.

»Was is denn des für a Trottel?«

»Schaut’s euch des an, Leutln, der woant ja!«

»Mamakind, tut er dir leid, der Herr Formann, gell?«

Ja, dachte Jakob erbittert, sich zum Ausgang kämpfend, ja, ihr undankbares Gesindel, er tut mir leid, der Herr Jakob Formann.

»… und gedenke seiner in seiner letzten Stunde. Amen!«

Hurra, wir leben noch
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