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Das zweite Mal fuhr Jakob Formann mit dem Fahrrad vom DOM-HOTEL zum CWWDWW. Das war am 2. Oktober 1976. So lange hatte es gedauert, bis zwei Dutzend seiner Buchhalter sämtliche Bilanzen für Jakobs Betriebe in der ganzen Welt auf den neuesten Stand gebracht hatten und diese an die Banken verschickt worden waren. Eine Kopie – auf Wunsch – auch an Herrn von Herresheim.
Es war ein schöner, sonniger Tag, noch sehr warm, und Jakob sah nicht mehr so feierlich angezogen aus, sondern vielmehr recht sportlich-salopp. Er hielt die Lenkstange mit einer Hand. In der anderen hielt er ein Schmalzbrot, das man ihm im DOM-HOTEL zubereitet hatte. Schmalzbrote waren inzwischen der letzte Schrei geworden. »Das Beste, was ich kenne«, hatte Marlene Dietrich einem Reporter gesagt. Man denke!
Jakob war ganz ruhig, denn was nun kam, wußte er genau. Also wozu sollte er sich noch aufregen? Prima Schmalzbrot, dachte er, radelnd, genau die richtige Menge Grieben …
Man wartete bereits auf ihn. Die Bankmenschen, allen voran der von Herresheim, sahen Jakob mit starren Gesichtern entgegen. Also haben sie die Bilanzen brav gelesen, dachte der befriedigt und lächelte sie sonnig an. Das Lächeln blieb unerwidert. Die Mienen verhärteten sich noch mehr. Vermutlich nehmen sie mir meine sportliche Kleidung übel, dachte Jakob und steuerte auf seinen Sessel vom letzten Mal zu. Danach geschah eine ganze Weile nichts.
Dann sagte der von Herresheim: »Tja, Herr Formann, das sieht ja bös aus.« Er sagte es mit Genuß. Und auf englisch. Mr. Gregory war wieder mit von der Partie.
Jakob nickte ihm freundlich zu.
»Das sieht ja noch viel böser aus, als wir gedacht haben, Herr Formann!«
»Mhm«, machte Jakob.
»Sonst haben Sie nichts zu sagen?« Der von Herresheim sah ihn an mit einem Stahlblick made in Germany.
»Ja, also wenn Sie mich so fragen, eigentlich nicht, Herr von Herresheim«, sagte Jakob liebenswürdig. Komisch, dachte er. Vor fast dreißig Jahren habe ich ihn gehabt. Dann habe ich ihn verloren. Und jetzt ist er plötzlich wieder da. Mein lieber stiller Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt! Er betrachtete die Bankmenschen einen nach dem andern. Vor jedem lagen stapelweise Papiere – Kopien seiner Bilanzen. Sie alle starrten ihn nun an – die Skala des Ausdrucks reichte von nacktem Grauen über absolute Fassungslosigkeit bis zu totaler Verachtung. Das fand Jakob besonders komisch.
»Ihre Bilanzen weisen unfaßbar hohe Verluste aus!«
»Mhm.«
»Die Verluste bei den Plastikwerken sind, wie ja Herr Arnusch schon angedeutet hat, geradezu grauenerregend.«
»Mhm.«
»Sagen Sie einmal, Herr Formann, was soll denn überhaupt dieses dauernde Mhm?«
»Das dauernde Mhm, Herr von Herresheim, soll bedeuten, daß ich Ihre Erschütterung und die …« Rundverneigung im Sitzen »… Erschütterung all der anderen Herren voll und ganz teile. Es ist tatsächlich eine Katastrophe, wie es um meine Bilanzen steht.«
»Wie es um Sie steht, meinen Sie, Herr Formann!«
»Oder wie es um mich steht, wenn Ihnen das besser gefällt, Herr von Herresheim!«
»Herr Formann, ein Fabrikgebäude, ein Werksgelände und Spezialmaschinen sind, wenn sie mit Gewinn arbeiten, natürlich sehr viel wert. Wenn sie jedoch – wie bei den allermeisten Ihrer Anlagen in der ganzen Welt – mit Verlust – und mit was für Verlusten, mein Gott! – oder gar nicht arbeiten, dann sind sie überhaupt nichts wert!«
»Mhm. Pardon. Ich wollte sagen, da haben Sie vollkommen recht, Herr von Herresheim.« Diesmal berührte Jakob die Hasenpfote erst gar nicht. Daß sie diesmal nichts mehr retten konnte, war sonnenklar. Und wieder überkam ihn das schöne alte Gefühl seines Nachkriegsstandpunkts. Na schön, alles hin, alles weg. Er konnte das einfach nicht ernst nehmen, beim besten Willen nicht.
Der von Herresheim regte sich mehr und mehr auf, und das gefiel Jakob natürlich.
»Wenn solche Werke mit Verlust oder gar nicht arbeiten, sind sie nur Steinhaufen, Herr Formann, und die Maschinen sind Schrott!«
»Schrott«, echote Jakob.
»Denn dann können Sie …« Der von Herresheim steigerte sich ob Jakobs Gleichmut und solch verblödeten Grinsens und Redens in immer größere Erregung, »… denn dann können Sie mit diesen Werkhallen überhaupt nichts anfangen! Sie können keine Wohnhäuser daraus machen! Sie können überhaupt nichts anderes daraus machen! Sie können keine andere Branche da unterbringen! Sie können so ein Ding nicht einmal abreißen, um den nackten Grund und Boden zu verkaufen, weil Sie ja auch dabei Geld verlieren würden! Also ist das alles, was Sie da aufgebaut haben, nicht nur nichts wert, sondern verursacht für Instandhaltung und so weiter dazu auch noch außerordentlich hohe Kosten!« Der von Herresheim schwitzte jetzt.
»Mhm«, machte Jakob. »Ich meine, Sie haben absolut recht, lieber Herr von Herresheim.«
»Damit ist der Verkehrswert aller Ihrer Unternehmen ungeheuerlich gesunken – und damit sinken die Sicherheiten der Banken, die all das finanziert haben, ebenfalls ganz ungeheuerlich.«
»Tja, leider.« Jakob betrachtete interessiert seine Fingernägel.
»Herr Formann!« kreischte der von Herresheim.
»Ich bitte vielmals, Herr von Herresheim?« Jakob warf ihm einen sanften Blick zu.
»Wollen Sie mich … wollen Sie uns alle hier … provozieren?«
»Um nichts in der Welt, meine Herren! Wie käme ich denn dazu?« sagte Jakob überhöflich.
»Ja, ist Ihnen dann denn nicht klar, wie man bei all diesen Banken, die Ihnen mit unzähligen Millionen den Aufbau Ihres Imperiums überhaupt erst ermöglicht haben, sich jetzt fühlen muß?«
»Herr von Herresheim, ich glaube schon, daß es mir klar ist.«
Unruhe unter den Bankern, Ausrufe von Unmut.
»Und was haben Sie also vorzuschlagen?«
»Ich weiß nicht … Was den Herren am liebsten ist. Mir ist alles recht«, sagte Jakob. Jetzt grinste er offen.
»Das ist ja unerträglich!« schrie der von Herresheim. »Dann will ich Ihnen einmal sagen, was die Banken vorschlagen.«
»Was schlagen sie denn vor?« erkundigte sich Jakob mit übertriebener Neugier.
»Die Banken wollen keine Fabriken, keine Werke, die nicht gehen, die Banken wollen, und das mit Recht, von Ihnen ihre Zinsen aus den Millionendarlehen und die Beträge für die Tilgung weitererhalten! Es ist jedoch sonnenklar, daß Sie dazu nicht in der Lage sind – oder?«
»Nein.«
»Was, nein?«
»Nein, Herr von Herresheim, dazu bin ich nicht in der Lage«, sagte Jakob zu dem ehemaligen Wehrwirtschaftsführer, der es so weit gebracht hatte.
»Sie sind nicht flüssig?«
»Sehe ich so aus?«
»Herr Formann!«
»Ich habe doch nur auf Ihre Frage geantwortet. Wahrheitsgetreu. Ich darf doch jetzt nur noch die Wahrheit sagen«, erklärte Jakob. »Nein, ich bin nicht flüssig. Es tut mir leid, meine Herren, die Sie alle mit mir so viele Jahre lang so viel schönes Geld verdient haben, aber jetzt ist Schluß. Jetzt können Sie mit mir kein Geld mehr verdienen. Jetzt bin ich pleite.«
»Jetzt sind Sie …« Der von Herresheim rang nach Atem, Jakob sah es mit Freude.
»Pleite, ja.«
»Sie haben den Mut, das so offen auszusprechen?«
»Entschuldigen Sie, aber wie soll ich es denn sonst aussprechen? Nein, nein, bitte erregen Sie sich nicht weiter! Sagen Sie es mir, wenn ich mich falsch ausgedrückt habe. Sagen Sie mir, wie ich mich ausdrücken soll, Herr von Herresheim. Ich drücke mich dann sofort ganz genauso aus. Ich tue Ihnen doch jeden Gefallen!«
Der Aufruhr unter den Versammelten konnte vom Präsidenten des CWWDWW erst nach drei Minuten gebändigt werden.
Herr von Herresheim hatte größte Mühe, an sich zu halten und das zu formulieren, was er sagen wollte: »Sie können nicht einmal die Zinsen für die Bankdarlehen aufbringen?«
»Wie sollte ich das können, Herr von Herresheim?«
»Sie wissen, daß das ein zwingender Grund für Sie ist, Konkurs anzumelden?«
»Gewiß, Herr von Herresheim«, antwortete Jakob.
Die anderen Herren saßen nun wieder wie erstarrt da.
»Sie werden also zum Konkursgericht gehen!«
»Was bleibt mir denn anderes übrig?«
»Sie wissen, daß Sie dort alle Ihre Aktiva, aber vor allem Ihre Schulden, bekanntgeben müssen …«
»Weiß ich, Herr von Herresheim.«
»… und zwar nicht nur Ihre Fabriken und Ihre Schiffe, überhaupt alle Ihre Unternehmen, Ihre Hühnerfarmen zum Beispiel! Auch Ihren privaten Besitz! Ihre Villen! Ihr Geld! Ihre Autos! Die Jacht! Die Schlösser! Einfach alles! Sie können ja nicht einmal Ihre Zahlungsbereitschaft wiederherstellen, Sie können weder die Zinsen noch die Kreditrückzahlungen aufbringen. Sie werden den Offenbarungseid leisten müssen. Wissen Sie das eigentlich?«
»Lieber Herr von Herresheim, ich bin doch kein kleines Kind«, gab Jakob bekannt. »Natürlich weiß ich das. Und wenn ich alles angemeldet habe, dann wird alles versteigert, verkauft oder sonstwie zu Geld gemacht bis auf ein paar Anzüge und Schuhe und Wäsche, und die Herren Banken stellen einen Antrag, ihnen diese ganzen Werte, die ich angegeben habe und die gepfändet sind, zu übertragen, weil ich doch solche Schulden bei ihnen habe, nicht wahr, und so können die Herren Banken versuchen, wenigstens einen Teil ihres Geldes zurückzukriegen …«
»Herr Formann, wenn Sie glauben, daß das hier ein Spaß ist, dann will ich Ihnen etwas sagen …«
»Ich glaube ja gar nicht, daß das hier ein Spaß ist«, sagte Jakob voller Unschuld. Aber der von Herresheim war jetzt zu sehr in Fahrt, als daß er noch hätte stoppen können. Er schrie weiter: »… Im Konkurs werden Ihre Machenschaften aufgedeckt werden! Wir werden schon feststellen, was Sie mit unserem Geld angestellt haben. Den Offenbarungseid schwören werden Sie! Und das wird dann in allen Zeitungen der Welt stehen! Auch in der OKAY! Mit dicken Überschriften! Wollen Sie das auch?«
»Natürlich will ich das auch, lieber Herr von Herresheim. Bloß: OKAY gehört mir nicht mehr. Aber sonst müssen sie wirklich groß sein.«
»Wer?«
»Die Überschriften in den Zeitungen der ganzen Welt. Das wäre mein inniger Wunsch!«
Der von Herresheim rang nach Luft.
»Sie wagen es, sich in Ihrer Situation auch noch lustig zu machen über uns?«
»Keine Spur, Herr von Herresheim. Ich will doch immer nur das tun, was den Herren von den Banken, die ich so furchtbar geschädigt habe – mein Gott, rote Teppiche haben sie früher für mich ausgerollt, wenn ich gekommen bin, um Millionenkredite aufzunehmen, so glücklich waren sie, und jetzt habe ich alle so entsetzlich enttäuscht … Wo war ich? Ach ja! Also, wie gesagt, ich will doch ganz gewiß nur das tun, was den Herren von den Banken am nützlichsten und angenehmsten ist!«
Die Bankherren sprachen schon die ganze Zeit halblaut miteinander. Jetzt sagte einer etwas zu dem von Herresheim. Der von Herresheim nickte und sprach mit bebender Stimme: »Um Sie nicht derart vor der Öffentlichkeit bloßzustellen, Herr Formann, sind die hier versammelten Bankenvertreter bereit, Ihnen den schmachvollen Weg zum Offenbarungseid zu ersparen.«
»Da danke ich aber tausendmal, meine Herren, Sie sind wirklich zu gütig«, sagte Jakob.
»Allerdings verlangen wir von Ihnen, sogleich alle Ihre Werke, Ihre Schiffe, Ihre Hühnerfarmen, die Investment- und Touristikfirmen, das Großklinikum, die übrigen Kliniken, Ihre Aktien und so weiter und so weiter und Ihren gesamten persönlichen Besitz, also die Flugzeuge, Häuser, Schlösser, für die Ihnen gewährten Kredite herauszugeben und in eine Auffang-GmbH der Banken einzubringen.«
»Das ist wahrlich sehr großzügig von Ihnen, meine Herren!« Jakob wischte sich Tränen, die nicht existierten, aus den Augen. »Bitte, bedienen Sie sich! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!«
Wieder Stille.
»Na, was ist denn?« fragte Jakob schließlich. »Keine Angst, ich meine es so, wie ich es sage. Und ich bin nicht, wie Sie offenbar denken, verrückt geworden! Ich bin ganz normal!«
»Nun gut«, sprach der von Herresheim, der kaum noch richtig sprechen konnte, »dann soll es also auf diese Weise geschehen. Die Banken werden Ihren gesamten Besitz übernehmen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Immerhin, eine kleine Wiederbelebung der Wirtschaft – gerade auf dem Plastiksektor, aber auch ganz allgemein – ist schon zu spüren …«
»Eben«, sagte Jakob.
»Was soll denn das heißen?«
»Nichts, nichts. Verzeihen Sie. Ah ja, richtig, und bitte nicht vergessen: Ich bin der allein Schuldige, der allein Haftbare! Weil ich es in meiner grenzenlosen Verantwortungslosigkeit verschmäht habe, meinen Unternehmen die entsprechend günstigen Rechts- oder Gesellschaftsformen zu geben, durch die ich jetzt nur zu einem Teil oder vielleicht überhaupt nicht haftbar wäre. Ich bin aber haftbar, ich allein! Und es ist nur gerecht, daß man mir alles wegnimmt. Gerade wo sich die Wirtschaft jetzt wieder erholt. Ich schlage vor, daß jetzt, da ja für diese Riesen-Konkursmasse so etwas wie ein Verwalter eingesetzt werden muß, der alles zum Heile der Banken tut und der die Geschicke meiner Unternehmen weiter in hoffentlich für die Banken segensreiche Bahnen lenkt, daß jetzt Sie, Herr von Herresheim, der Mann sind, der eingesetzt wird!«
»Herr Formann, wenn Sie frech werden …«
»Ich werde nicht frech! Ich meine es so, wie ich es sage! Wer wäre besser geeignet für diesen Posten als Sie?«
Der von Herresheim sah Jakob mit flackernden Augen an.
Einer der Banker sagte: »Da hat Formann recht, Herr von Herresheim. Sie sind der Mann, an den auch wir alle gedacht haben.«
»Sehen Sie?« sagte Jakob.
Der von Herresheim mußte sich setzen. Und ein Glas Wasser trinken. Er brauchte eine Erholungspause.
Nachdem er seiner Stimme wieder mächtig war, begann er zu verlesen, was alles Jakob nun von den Banken abgenommen werden sollte.
Jakob hörte aufmerksam zu und erlaubte sich zuletzt, den von Herresheim auf etwas aufmerksam zu machen: »Bitte vielmals um Entschuldigung, aber es muß doch alles seine Ordnung haben, nicht wahr? Herr von Herresheim. Sie haben meine Strumpfhosenfabriken vergessen. Die gehören jetzt ja auch nicht mehr mir.«
Der von Herresheim konnte nur stumm nicken.
Zuletzt mußte Jakob zahlreiche Unterschriften leisten, dann war er sein Weltreich los. Demütig hob er den Kopf ein wenig.
»Einen letzten Wunsch hätte ich noch …«
»Welchen?« ächzte der von Herresheim.
»Ich bin mit einem Fahrrad hergekommen. Ist es sehr unverschämt, wenn ich bitte, dieses Fahrrad behalten zu dürfen?«
»Sie dürfen es behalten«, sagte der von Herresheim, fast unhörbar. Er zitterte am ganzen Körper.
Nach den Unterschriften ging alles in ein paar Minuten zu Ende. Der von Herresheim fragte Jakob, ob er noch ein Schlußwort sprechen wollte.
»Ja, bitte.«
»Dann sprechen Sie es, Herr Formann!«
Und Jakob sprach es. Er sagte, nachdem er auf den von Herresheim zugegangen war und ihm nun markig die Hand schüttelte: »Ich möchte mich noch herzlich bei Ihnen bedanken, Herr Wehrwirtsch … entschuldigen Sie, Herr von Herresheim wollte ich natürlich sagen. Wirklich, von ganzem Herzen!«
»Wofür?« hauchte der von Herresheim.
»Dafür«, sagte Jakob, »daß Sie mir diese ganze miese Scheiße abgenommen haben. Jetzt können Sie sich damit herumschlagen, und ich bin endlich wieder ein glücklicher, freier Mensch ohne Sorgen!«