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»Noch einen Whiskey, Jakob?«
»Du weißt doch, ich trinke keinen Alkohol.«
»Nur damit du nicht krank wirst!«
»Dann gerne, Franzl.«
»Wieder nur on the rocks!«
»Wieder nur on the rocks!«
»Na, also dann cheers, mein Alter!«
»Cheers, mein Guter!«
Diese ebenso geistreiche wie gediegene Konversation hatte am Abend des 11. November 1945 in einer Villa in dem exklusiven Wiener Randbezirk Pötzleinsdorf und daselbst in einem großen Badezimmer stattgefunden. Nun, am Abend des 1. Januar 1947 im Türrahmen seines Schlafwagenabteils stehend und den schokoladefressenden Herrn auf dem Unterbett betrachtend, fiel Jakob alles, was damals passiert war, wieder ein – in einer Sekunde.
Ein Badezimmer!
Jakob lag nackt in der Wanne, wohlig Whiskey aus einem Kristallglas schlürfend (obwohl er Antialkoholiker war – aber die Gesundheit ist des Menschen höchstes Gut!), in wunderbar warmem, weichem Wasser. Es war das erste Bad seit seiner Selbstbefreiung aus russischer Gefangenschaft. Er hatte ein Bad nötig. Er hatte einen Whiskey nötig. Er hatte ein Dach über dem Kopf nötig. Es gab nichts, was Jakob nicht nötig gehabt hätte an diesem Novemberabend des Jahres 1945.
Auf dem geschlossenen Klosett saß der Mann, den er Franzl genannt hatte, in einem erstklassigen Kammgarnanzug, mit Seidenhemd samt eingestickten Buchstaben F und A, einer Foulardkrawatte und glänzenden Halbschuhen. An seinen kurzen, dicken Fingern blitzten mehrere große Ringe. Er hatte ein gedunsenes Gesicht mit winzigem rotem Mund, zusammengewachsene Augenbrauen und brillantineglänzendes, sorgsam gescheiteltes dunkelblondes Haar. Seine Augen waren grau und vermittelten den Eindruck von unendlicher Weisheit und Güte.
Der Mann, kleiner als Jakob und viel beleibter, hieß Franz Arnusch. Vor zwei Stunden war Jakob, erst seit zwei Tagen in Wien, noch verzweifelt durch die Stadt geirrt auf der Suche nach einem warmen Platz für die Nacht. Er hatte in diesen zwei Tagen erfahren, daß Vater und Mutter von Bomben erschlagen worden waren, daß in der elterlichen Wohnung (Billrothstraße 29) drei obdachlose Familien saßen, die um nichts in der Welt hinausgesetzt werden konnten, da es sich um Flüchtlinge handelte, die das Wohnungsamt dort nicht eingewiesen hatte und daher nach messerscharfer Logik auch nicht wieder ausweisen durfte.
Mit der bescheidenen Hoffnung auf eine Wärmestube in der Rotenturmstraße war Jakob gerade zwischen der ausgebrannten Staatsoper und dem gegenüberliegenden ausgebrannten ›Heinrichshof‹ dahingeschlichen, als er zwei Bullen von Männern erblickte, die einen großen zusammengerollten Teppich zu einem Auto schleppten. Aus dem Teppich erklangen verzweifelte Rufe: »Hilfe! Hilfe! So helft’s mir doch! Die entführen mich!« Solcherart pflegten muskelstrotzende Herren in jenen Tagen sehr häufig andere Herren in Wien, Wien, nur du allein, abzutransportieren. Rein in den Teppich. Rein in den Wagen. Und nichts wie weg. Von den Transportierten hörte man nie wieder. Diese Art des Menschenraubs war derart gang und gäbe, daß sich kaum jemand auch nur um die Schreie des Opfers kümmerte. Jakob hörte denn auch eine junge Frau zu ihrem Begleiter sagen: »Jöh, schau, Karli, da entführen s’ wieder einen!«
»Ja, Mitzi«, sagte der Karl, »mach ma, daß ma weita kommen!« Und sie enteilten, indessen der Teppichinhalt weiter um Hilfe schrie.
Jakob hatte nachgedacht. Lange und gründlich. Wie stets.
Nun schritt er vor. Er trat zu den Teppichträgern und sprach höflich und sanft: »Grüß Gott, meine Herren. Entschuldigen Sie, wenn ich mich in Ihre Angelegenheiten einmische – aber sind Sie sicher, daß Sie dem Herrn im Teppich gesundheitlich auch nicht schaden?«
»Was is los, du Hundsgfraas, du ang’spiebens?«
»Ich meine: Mangel an Sauerstoff kann zu schlimmen Folgen führen«, erläuterte Jakob und sprach nicht weiter, weil ihm der menschliche Schrank, der das Ende der Teppichrolle trug, wuchtig in den Hintern trat. Jakob kam auf Glatteis ins Rutschen und krachte zu Boden, jedoch nicht, ohne vorher, sozusagen in einer Reflexbewegung, dem menschlichen Schrank, der den Teppich vorne trug, seinerseits in den Hintern getreten zu haben. Der Herr vorne und Jakob saßen auf dem Pflaster.
Der Träger hinten konnte den Teppich allein nicht halten. Der Teppich krachte gleichfalls zur Erde und rollte sich hurtig auf. (Echter Smyrna.) Aus seinem Inneren schälte sich ein fetter Herr.
Die beiden Gorillas verloren den Kopf und flüchteten. Der fette Herr, noch nicht ganz bei Sinnen, stürzte sich auf Jakob, der eben wieder aufgestanden war, und begann wie von Sinnen auf ihn einzuschlagen, wobei ihm undruckbare Worte aus dem Munde flossen. Jakob schlug zurück. Heftig, weil gekränkt über solcherlei Vergeltung einer guten Tat. Die Herren gingen in den Clinch. Sie besorgten es einander ordentlich, bis der Fette plötzlich von seinem Tun abließ und entgeistert stammelte: »Ja … aa … kob?«
»Fra … a … anzl«, stammelte Jakob, genauso entgeistert.
Danach lagen sie einander in den Armen, und der Arnusch Franzl hatte Tränen in den Augen. Immerhin – die beiden kannten einander seit ihrer Schulzeit. Immerhin – der Freund hatte dem Freunde das Leben gerettet! »Wer waren denn die?« hatte Jakob gefragt.
»Schweine. Glauben, ich hab’ sie reingelegt. Haben mich entführen wollen«, hatte der Arnusch Franzl geantwortet. »Ich werde dir nie genug danken können. Komm weg jetzt, schnell. Mein Wagen steht in der Operngasse.«
Sie waren fortgerannt, dann war der Franzl zurückgeeilt und hatte den echten Smyrna geholt.
»Warum liegenlassen? Als ob wir’s zum Wegschmeißen hätten! Du kommst zu mir!«
»Ich komme …«
»Zu mir! Na was denn?« sagte der dicke Arnusch, während er zunächst den Smyrna und danach den abgerissenen, verhungerten Jakob in seinem ansehnlichen Wagen (amerikanisches Modell) verstaute und losbrauste. Jakob hatte kaum ein Wort herausbringen können. Erst jetzt, in der Wanne und unter dem Einfluß des ungewohnten Whiskeys, erholte er sich langsam.
»Franzl, um alles in der Welt, sag mir, wie du so ein Haus hast kriegen können! Doch nicht mit Schleich allein!« Franzl machte eine abschätzende Handbewegung. »Eben! Also wie dann? Unter uns können wir doch ganz offen sein!«
»Noch einen Schluck, Jakob?«
»Ich werd’ ja besoffen …«
»Ja und? In zwei Stunden kommen ein paar Katzen …« Franzl berührte mit drei Fingerspitzen die Lippen, um anzudeuten, daß es sich um ganz besonders hübsche Mädchen handelte. »Mir ergeben wie Sklavinnen. Kannst eine haben. Meinetwegen auch alle drei.«
»Eine gerne. Zu mehr bin ich zu kaputt. Auf dein Wohl, lieber Franzl!«
»Auf unser Wohl, lieber Jakob!« Die Aschenkrone der Zigarre wuchs. Der Franzl betrachtete zuerst sie und dann seinen Schulfreund wohlwollend.
»Red weiter!«
»Wieso weiter? Ich habe dich was gefragt! Wie kommst du zu so einer Villa und zu so einem Wagen? Du hast mit Ach und Krach die Matura gemacht. Ich nicht mal die. Aber du warst doch fast so blöd wie ich.« Der Whiskey machte sich bemerkbar. In Whiskey veritas. »Ein Angeber warst du auch. Und ein Spinner.«
»Aber ein schlauer Spinner, lieber Jakob, der gewußt hat, was er spinnt!«
»Das stimmt, lieber Franzl. Du hast so viele Drehs und Tricks gekannt wie keiner von uns. Du warst natürlich auch nicht beim Barras, was?«
»Ich war unabkömmlich in der Heimat.«
»Klar. Wo hast du dich denn rumgedrückt?«
»Beim Wiener Finanzgericht, lieber Jakob.«
»Finanz … ach so, klar! Geld, was? Dafür hast du dich schon immer interessiert, für Geld!«
»Da siehst du wieder einmal, wie es so geht im menschlichen Leben«, sagte der untersetzte, wohlgewandete Franz Arnusch. »Natürlich habe ich diese Villa und das alles hier nicht nur mit blödem Schleich gekriegt!«
»Sondern wie?«
»Sondern gescheiter! Transaktionen mit Geld! Diese Zeit jetzt, das ist eine Zeit, da kannst du die wildesten Sachen machen mit Geld. Devisen! Echte Dollars! Script Dollars! Francs! Pfunde! Was du willst. Na, und das tu ich. Ich helfe, wo ich kann. Und meine Partner sind mir eben dankbar.«
»Mit wem schiebst du denn, lieber Franzl?«
»Ach, weißt du, eigentlich mit allen. Sind mir alle gleich lieb und wert. Muß ja jeder sein Scherflein beitragen, jetzt. Furchtbar, was man diesen armen, unschuldigen Menschen in Österreich angetan hat.«
»Von wem hast du die Villa?«
»Von den Christlichen.«
»Auch den Wagen, die Anzüge, den Whiskey, alles?«
»Nein.«
»Von wem denn?«
»Von den Kommunisten.«
»Und wen hast du gewählt, bei der ersten Nachkriegswahl?«
Der Mann auf dem Klo zuckte die Achseln.
»Mich haben sie doch nicht wählen lassen.«
»Warum nicht, Franzl, mein Guter?«
»Na, weil ich doch ein Nazi war, Jakob, mein Bester!«
»Du bist schon eine Sau, Franzl, mein Guter.«
»Natürlich bin ich eine Sau, Jakob, mein Bester.«
»Aber du untertreibst! Du bist eine zu große Sau!«
»Das ist ja gerade das Feine, Jakob, mein Guter«, sagte Franzl. »Wenn man eine zu große Sau ist, dann hilft einem schon wieder der liebe Gott!«