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Um 23 Uhr 57 hatte Robert Rouvier sie dann tatsächlich ein sechstes Mal erblickt. Jakob hatte überhaupt nichts erblickt, weil der Kerl, der vor ihm saß, aufgesprungen war. Rouvier fühlte sich einem Herzanfall nahe. Er konnte erst nach ein paar Minuten wieder sprechen und auch da nur keuchend: »Es war mir … noch einmal … vergönnt … Sie … Sie haben mir … Glück gebracht …«
Ich werde dir noch viel mehr Glück bringen, dachte Jakob.
Eine halbe Stunde später saß dann Gloria Cadillac, rothaarig, grünäugig, in einem ungemein dekolletierten Abendkleid an ihrem Tisch. Die Herrschaften tranken Champagner (Jakob trank ›Perrier‹). Rouvier sprach stotternd, er konnte sich nicht beruhigen. Der eine stottert, der andere bumst sich weich im Hirn – welch ein Vergnügen, dachte Jakob. Ein Glück, daß ich nicht bin wie jene.
Englisch spricht diese Cadillac. Wenn das eine Amerikanerin ist, bin ich ein Argentinier. Rouvier entschuldigte sich errötend für einen Moment. Die Erregung hatte sich ihm (unter anderem) auf die Blase geschlagen. Er werde gleich wieder da sein, sagte er.
»Schur, sanni-boi, schur«, sagte Gloria. Danach gab sie Jakob bekannt, daß sie seit ihrem ersten Auftreten jeden Abend nach ihrer Darbietung an diesem Tisch sitze und mit dem ›sanni-boi‹ Champagner trinke.
»Satsch ä neis män!«
Jakob riskierte es. In väterlichem Tonfall erkundigte er sich: »Woher in den Staaten kommen Sie denn?«
Sie musterte ihn und warf den Kopf zurück: »Ju hef notissed it, hef ju?«
»Yes, my dear …«
»Du ju spik Schermen?«
»Yes. My Kindermädchen was from Austria. Vienna.«
Im nächsten Moment hatte ihm Gloria derart auf den Rücken gehauen, daß das ›Perrier‹ in dem Glas, das er gerade zum Mund führte, drei Tische weit sprühte. »Aus Wean war dei Kindermadl? Da leckst mi am Oasch! Der Señor hat von aner Weanerin Deitsch g’lernt!«
»Was anderes too.«
»Was denn noch?«
»She has me … hrm … deflauert, when I was elf …«
Gloria konnte es nicht fassen.
»Entjungfert! Mit elfe! Jetzt gibst mir aba a Busserl!«
Er gab ihr ein ordentliches und ausgiebiges.
»Du, des derf aba kana erfahrn, vastehst? Dir hab i’s gsagt, weil i einfach Vatraun hab’ zu dir!«
»Kein Wort will ever come over my Lippe«, versprach er guttural. »Und wie heißen du really?«
»Woditschka Reserl.«
»And why du nennen dir Gloria Cadillac und machen auf Amerikanerin?«
»Heast, du hast ’leicht a Ahnung, wie’s zugeht in Wean! Nix zum Fressen! Nix zum Heizen! Trümma, Trümma, Trümma. Und die Besatzungsmächte, die viere! Was die aufführn! Des kann se ana aus Argentinien einfach net vorstellen, was für a armseliges Leben mir ham, mir Östarreicha!«
»No, surely, I can make mir keine Vorstellung davon. How should ich auch?«
»Sixt es! Ami-Girl? Freundin von am Russen? Heast, i brauch a Marie! Von der Liebe alla kann ma net leben!«
»Certainly not.«
»Na alsdann. Und dann des Ölend. Bin i also abghaut. Zuerst nach Hamburg. Du, da schaut’s no vü schlimmer aus als in Wean! Am Strich gehen mag i net. Mei Muatterl war Tänzerin im Staatsopernballett, mei Vaterl war Logenschließa. I hab Künstlablut in mia! Alsdann nix wie an amerikanischen Namen und außi aus Deitschland!«
»Aber wer hat dir denn das Striptease beigebracht?«
»Heast, wann dir dei Kindermadl des andere aa so gut beibracht hat wie Deitsch … na servas!«
Eiweih, dachte Jakob. Sie hat mir was Nettes sagen wollen. Es gibt Nettigkeiten, die sind lebensgefährlich. Also ließen seine Kenntnisse der deutschen Sprache rapide nach: »No, no, no … just a little … but who has tought jou striptease?«
»A ehemalige BDM-Führerin aus Castrop-Rauxel. Brunhilde Zecke. Die arbeitet jetzt in Schweden. Nennt sich Kitty Kattykitt … Fern der Heimat … oame Sau …«
»Well, she is German. But you, befreites Austria …«
»Des is aba ja woar, was du da sagst! Mir san a klaans, tapferes Volk, das wo der Hitla vergewaltigt hat …« Mit einem Schluchzen, ohne Übergang: »Und wer vergewaltigt mi?«
»Well, after all … was du tun … and here are only Männer …«
»Na eben!«
»Eben what?«
»Männa! Schau dir die Klacheln hier doch an! Geile Hund, alle miteinand. Aber können kann kana net. Der Robert aa net!«
Jakobs Brauen hoben sich.
»Monsieur Rouvier ist impotent?«
»Impotent? Im Gegenteil, Schatzi, im Gegenteil! Der kriegt ihn nimmermehr hoch! Was glaubst, was i schon alles angestellt hab, bloß damit er a klans bißl … du vastehst?«
»Verstehen, yes.«
»Und des seit fast drei Monat! Jede Nacht! I bin scho halb narrisch. Und mir kummt’s aus die Ohren außi!«
»But … but he is so wonderfully schön!«
»Dafür kann i mia was kaufn!«
»Hm.« Und angesichts dieses Adonis hatte Jakob fast schon Minderwertigkeitskomplexe bekommen! Er reflektierte: Rouvier ist also ein Beauty boy und Zéro, Juarez ist häßlich und rammelt wie ein Karnickel. Und was mich selber angeht, so könnte ich jetzt nicht einmal aufstehen, ohne daß der Tisch umkippte.
Die Göttin seufzte.
»Na ja, und jetzt alsdern Rom. Bin neugierig, ob i bei die Spaghetti an reinkrieg …«
»Hrrm!«
»’tschuldige. I kumm aus Ottakring. Is dir ka Begriff, was?«
»Sorry. We lived in Döbling. My nurse came auch from dort.«
»Ja, Döbling! Des ist was für die feinen Leut! Aber Ottakring – des is des Volk! I bin a Kind aus der Hefe des Volkes!« verkündete Gloria. »’s Woditschka Reserl eben. Den Namen hab i natürlich ändern müssen, hat der Ferdl gsagt.«
»Who is Ferdl?«
»Mei Mänätscha.«
»Well now, could nicht your Ferdl …«
»So hab i mia des ja vorgstellt!«
»Yes. Und?«
»Unsaans hat ka Glück. Der Ferdl is a Warma. Hundat Prozent.«
»How sad. Where ist denn Ferdl?«
»Schon in Rom. Da soll i auftreten. Übermorgen. Im ›Casanova‹. Auf der Via Benito.«
Irgendwas stimmt da nicht, grübelte Jakob und forschte: »Via wie?«
»Benito … I denk mia, sie ham’s nach’m Mussolini so gnennt.«
»I see. Then this is your last Abend hier?«
»Ja. Aba der Robert waaß des net. I kann des nimmermehr ertragen, des Herumgewurschtel an ihm, des stundenlange. Bei allem Geld, wo er mir gibt.«
»Well, I don’t verstehen that! He kommt here jede Nacht to see deine … deine …«
»Ja, ich vasteh schon! Und?«
»Und he can see deine … your … zu Hause, as long as he will!«
»I hab’s eahm ja aa schon hundertmal zeigen wollen! Ab daham bei mia, da wü er’s net sehn!«
»What?«
»Des is pischologisch, waast? Daham da derf i mi net ausziagn. Da ziagt er mi imma aus! Weil er hofft, daß er dabei … du vastehst?«
»I understand.«
»Funktioniert nur nie. Beim Beha is Schluß. Zum Hoserl kommt er gar net amal! Da is er dann schon längst bös! Bös auf mi! Stell dir des vor! Bös auf mi, weil er net kann! I sag ja, zu dir hab i Vatraun. Vom ersten Moment an ghabt. Außadem bin i morgen früh weg. Acht Ua drei geht mei Zug. Nacha können mi alle hier am Oasch lecken.«
»Gibt surely welche, who would this gern schon vorher tun, with pleasure!« Jakob fühlte ein heftiges Rühren. Ob das eine echte Rothaarige ist? dachte er. Und grüne Augen. Grüne Augen haben schon immer Verheerungen angerichtet bei mir.
»Du maanst … Jessassmariandjosef! Und du bist doch so reich!«
»Hrm! Well, yes. But I am a Fremder hier. And I have practically kein Geld. Außer you nehmen Dollar-Schecks …«
»I nimm do ka Geld von dir! Um nix in der Welt. Du mit dein Weaner Kindermadl … Außadem, i hab dir ja gsagt, mir kummts aus die Ohren … Du bist doch ka Warma?«
»Bestimmt nicht, Reserl. Aber wo?«
»Bei mir! I hab a Zimmer, Rü dü Kanal! Und dem Robert sag i, daß die Englända kumma san.«
»What?«
»Daß mei Tant’ zu Besuch is! Vastehst des?«
»Sorry, no …«
»Komisches Kindermadl mußt du ghabt ham! Daß i meine Tag’ hab, Jessas!«
»You must verzeihen my schlecht Deutsch«, sagte Jakob. »But otherwise you’ll be very zufrieden.«
»Wann i mia di so anschau, nachha glaub’ i, wir wern an Wecka stellen müssen, damit i’n Zug net vasäum!«
»Mhm!« sagte Jakob Formann. Auf Englisch.