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Neben seinen Flugzeugen und Luxusautos besaß Jakob Formann, am Morgen dieses 26. Februar 1965 mit rapide schwindenden Kräften dem Tod im Mangfalltal entgegenbangend, eine herrliche Jacht und, natürlich, die verschiedensten Domizile: ein Schloß samt Park in Bayern; eine Villa samt Park in Beverly Hills, California; eine Villa samt Park vor Rom; eine ebensolche samt Park auf Cap d’Antibes; ein Haus in Gstaad; ein halbes Dutzend Wohnungen; dazu Jahresappartements in den besten Hotels von Wien, London, New York, Tokio und Rio de Janeiro.

Auch auf dem Höhepunkt seines Erfolgs indessen war er ein Mann geblieben, der die einfachen Freuden des Lebens allen anderen vorzog. Niemals, nicht bei Hitze, nicht bei Kälte, nicht bei Regen, nicht bei Schnee, verzichtete er auf die tägliche Radtour über mindestens zwanzig Kilometer. Er betrieb Ertüchtigungssport jeglicher Art. Es gab keine noch so schmutzige, noch so schwere Arbeit, bei der er nicht sofort mit Hand angelegt hätte, wenn es not tat. Dafür liebten ihn alle, die für ihn schufteten. Und er liebte sie alle. Jederzeit hätte er, vor die freie Wahl gestellt, ein Staatsdiner bei Königin Juliane der Niederlande für eine zünftige Brotzeit mit seinen Arbeitern schießen lassen! (Graubrot mit Schweineschmalz!) Er fühlte sich als einer der ihren, sein Leben lang. Nach dem Vorbild von Ernst Abbe und dem Zeiss-Werk (Gott, sind wir gebildet!) hatte er in seinen Betrieben ein System echter Gewinnbeteiligung eingeführt. Er …

Moment mal!

Natürlich war Jakob Formann auch ein Gauner und ein Haderlump und ein Fallot, und wo er nur konnte, beschiß er und legte er andere herein – genau wie wir das alle tun. Er war eben ein ganz normaler Mensch, der auch häufig genug von seinen Ellbogen Gebrauch machte.

1965 war sein Name weltbekannt.

Er baute gigantische Anlagen in Amerika und in der Sowjetunion, in Japan, Deutschland, Polen und Jugoslawien. Sogar in China! Für Jakob Formann gab es keine politischen Grenzen, keine politischen Schwierigkeiten. Dieser Mann war wahrhaft kosmopolitisch, gleichermaßen begehrt vom Kreml wie vom Weißen Haus. Das kam: Er ließ sich ständig über die verschiedensten Ideologien informieren, langsam und gründlich, denn da war er kein schneller Denker. Alle Ideologien, so befand er stets nach genauer Prüfung (siehe auch unter Spenden für alle politischen Parteien und Kirchen), wollten nur das Allerbeste für die Menschen! Was hätte ihn also an einer einzigen Ideologie stören können? Und was (bei solchen Spenden!) irgendeinen Ideologen an ihm? Letztlich und endlich waren diesem Jakob die Menschen doch lieber als die Ideologien. Das Liebste auf der Welt waren ihm vernünftige Menschen ohne Ideologien.

»Hallo! Hallo! Wenn Sie noch nicht tot sind, geben Sie ein Zeichen!« hallte die von hoher Intelligenz zeugende Formulierung der Megaphonstimme aus der Tiefe zu ihm herauf. Die Lichtkegel der Suchscheinwerfer glitten über die Steilhänge, immer weiter.

Tut mir leid, meine Herren, dachte Jakob traurig. Ich kann Ihnen nicht helfen. Stimme habe ich keine mehr. Zum Zeichengeben bin ich zu schwach. Tot bin ich noch nicht, vielleicht werde ich es bald sein. Mein Hintern ist schon angefroren. Wie lange wird es dauern, bis die Große Kälte meinen Kopf erreicht? Was nützen mir meine Millionen, wenn ich nicht einmal mehr »Hilfe« flüstern kann?

In New York und Tokio, in Moskau und Neu-Delhi, Stockholm und Hamburg, so dachte er benommen und immer benommener, habe ich in der letzten Zeit immer wieder vom Leistungsknick reden gehört, von einer Krise zwischen vierzig und fünfzig. Immer nur gelacht habe ich darüber. Ein sehr dummes Lachen ist das wohl gewesen …

»Hallo! Hallo!«

Ausgerechnet jetzt, dachte er erbittert.

Ausgerechnet jetzt muß mir dieses Gedicht einfallen – Gesang heißt das, Trottel! – dieser Gesang, den meine geliebte Natascha da auf Cap d’Antibes rezitiert hat.

Von Danton. Quatsch! Danton ist dieser Maler mit den hochgezwirbelten Schnurrbartenden, der diese Pfannkuchenuhren malt. Nein, Dante heißt der Kerl! (Jetzt kommt die Kälte schon die Beine herauf.) Die ›Göttliche Komödie‹ hat er geschrieben. Komisch, ausgerechnet der Gesang fällt mir jetzt wieder ein. Wohl schon Agonie …

»Hallo! Hallo!«

Ja, schreit nur schön. Ich kann euch nicht helfen. Wenn ich jetzt sterbe, dann sterbe ich intellell. Ich behalte doch nie auch nur den Namen eines einzigen Dichters oder Musikers oder Bildhauers. Bin immer ein einfacher Mann geblieben. Scheißfrack! Aber an diesem Knick in der Lebensmitte scheint was dran zu sein. Mich wenigstens hat es erwischt. Und wie. Mein lieber Mann!

Gerade in der Mitte meiner Lebensreise

Befand ich mich in einem dunklen Walde,

Weil ich den rechten Weg verloren hatte.

Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen.

Der wilde Wald, der harte und gedrängte,

Der in Gedanken noch die Angst erneuert,

Fast gleichet seine Bitternis dem Tode …

Dem Tode. Da haben wir’s. Warum mußte ich mir gerade diesen Quatsch merken? Jetzt ist die Kälte schon im Bauch. Die Finger frieren ab. Ich kann nicht mehr vernünftig denken …

»Hallo! … Hallo! …« Nur noch ganz verweht und leise drang die Stimme an sein Ohr. Sie ging ihn nichts mehr an.

Hurra, wir leben noch
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