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Um 23 Uhr 59 am 23. September 1947 – es war ein Dienstag – drückte Jakob Formann auf den roten Knopf der ersten Rotationsmaschine im Keller des Gebäudes der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG in der Sendlinger Straße zu München. Er fuhr zusammen von dem tobenden Lärm, der anhub, als sich die riesige Maschine in Bewegung setzte. Man konnte kein Wort mehr verstehen. Die Arbeiter hatten eine eigene Zeichensprache. Ein Meister signalisierte Jakob mit zwei Fingern: Nun Nummer zwei!
Jakob drückte auf einen zweiten roten Knopf. Ein zweites Ungeheuer begann zu toben.
Als Jakob auf einen dritten Knopf gedrückt hatte, schwankte der Boden unter ihm. Ergriffen lehnte er sich gegen eine bebende Wand. Im Keller der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG war die MÜNCHNER ILLUSTRIERTE gedruckt worden. Als Jakob und Frau Dr. Malthus sich diesen Keller zum ersten Mal ansahen, hatten sie auf den Rotationsmaschinen noch die Zylinder der letzten Ausgabe vorgefunden. Titelblatt: eine V2-Stellung. Unterschrift: DER SIEG IST ZUM GREIFEN NAHE! Sie hatten alle Zylinder einschmelzen lassen, um Blei für die erste Nummer ihrer Illustrierten zu haben. Die Geburtsstunde der ersten deutschen Nachkriegs-Illustrierten – nun war sie gekommen! Ergriffen standen auch die Arbeiter. Und ergriffen standen alle Redakteure und Mitarbeiter. Bis auf einen.
Klaus Mario Schreiber schlief zu dieser Zeit tief und fest auf einem Schreibtisch in einem der kleinen Zimmer der Redaktion an der Lindwurmstraße. Auf seine Schreibmaschine hatte er ein kleines Kissen gelegt. Dort ruhte sein Haupt. Ein zufriedenes Lächeln verschönte sein von Akne übersätes Gesicht. Er hatte DIE TEUFLISCHEN NONNEN am Morgen um 9 Uhr, nach Lektüre des gesamten, sehr umfangreichen Materials, zu schreiben begonnen, direkt in die Maschine, und er hatte seine sechsunddreißig Seiten, auf die Zeile genau, um 14 Uhr 37 an Dr. Drissen geliefert. Es war nicht eine einzige Stelle zu verbessern gewesen.
Den Nachmittag über hatte Schreiber, stillvergnügt vor sich hin trinkend, schon an der nächsten Nummer gearbeitet, und am frühen Abend hatte er zuerst die Druckfahnen, dann den Umbruch redigiert, den Jakob, mit seinem Fahrrad hin- und hersausend zwischen Sendlinger und Lindwurmstraße, gebracht hatte. Für ›Hinter den Kulissen‹ war ein genau berechneter Platz freigelassen worden. Der Bleisatz paßte präzise. Nun konnten die Zylinderteile für die Rotation gegossen werden. Das geschah gegen 22 Uhr. Zu dieser Zeit schlief Schreiber bereits tief und friedlich, mit über der Brust gefalteten Händen, auf seinem Arbeitstisch. Er war ganz allein – alle anderen Mitarbeiter von OKAY ließen sich den feierlichen Augenblick des Andrucks nicht entgehen, selbst die alte Putzfrau nicht, die bis vor wenigen Tagen noch Serviererin in dem Café in Schwabing gewesen und auf Jakobs Betreiben angestellt worden war.
Die erste Nummer der Illustrierten trug ein Bild des amerikanischen Präsidenten Truman, der auf Bitte von Generalmajor Hobson eine Gruß- und Glückwunschbotschaft an die Leser von OKAY geschickt hatte. (Es war nötig gewesen, daß Schreiber Trumans Zeilen umschrieb – der Text, den natürlich ein Ghostwriter des Präsidenten verfaßt hatte, war nicht eben umwerfend gewesen.) Das Blatt enthielt Bildberichte über Mexiko, Hollywood, die ›Lebende Wüste‹, eine Modenschau in Rom mit vielen Mannequins und Modellen (und eingelegte Schnittbogen zum Selbstschneidern!), die erste Folge des Romans KLEINER MANN, WAS NUN? von Hans Fallada, DIE TEUFLISCHEN NONNEN, eine große internationale Klatschkolumne, Witze und Zeichnungen von deutschen Karikaturisten, aber auch aus dem PUNCH, dem NEW YORKER und dem ESQUIRE, die Niederschrift eines Telefoninterviews mit George Catlett Marshall sowie einen von einem ersten Fachmann verfaßten (und von Schreiber natürlich auf Verständlichkeit umgeschriebenen) fundierten Kommentar zum ›Marshall-Plan‹, der Europa wieder auf die Beine helfen sollte, den ersten Teil einer Serie über den ›Ameisenstaat‹ und seine verblüffenden Gesetze (nebst Parallelen zu Adolfs ›Totalem Staat‹, Text, versteht sich, von Klaus Mario Schreiber), zwei Kurzgeschichten, die eine heiter, die andere sentimental, beide ›aus unseren Tagen‹, alles geschrieben von Schreiber unter mehreren Pseudonymen. Und, mit seinem richtigen Namen gezeichnet, die große Gauner- und Abenteuergeschichte über den Mann, der die tollsten Dinger gedreht und die Ideen zu ihnen immer dann gehabt hatte, wenn er Kuchen aß.
Von Rosenheim bis Flensburg standen am Tage der Auslieferung die Menschen in langen Schlangen vor den Kiosken, um die erste Nummer von OKAY zu kaufen. Die Auflage von achtzigtausend erwies sich als zu klein. Schleunigst mußte eine zweite Auflage, ebenfalls achtzigtausend, nachgedruckt werden. Die Leute kauften auch die restlos.